Totensteige. Christine Lehmann

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Totensteige - Christine Lehmann


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wies in einen Feldweg, der zwischen Maisanbau einen Hang hinauf in den Himmel führte. Hier musste es passiert sein. Warum, verriet die sanft geschwungene, etwas abschüssige Straße nicht. Charlotte hatte währenddessen einigen älteren Herren schöne Augen gemacht und ließ sich vom Dorfvolk bewundern. Einer der Männer erinnerte sich an den Unfall. Er deutete in die Senke. »Die send von außerhalb gsi. Wahrscheins hat die Sonn sie blendet. Da hats die neibetschet. Sofort tot.«

      Das brachte alles nicht viel.

      Ich rief beim Hamburger Abendblatt an. Nach einigen »Ich stell Sie mal durch« hatte ich einen Lokalreporter dran, der Oiger Groschenkamp kannte. »Ja, er legt größten Wert darauf, dass er auf keinem Foto drauf ist. Und wir dürfen ihn in keinem Artikel namentlich nennen. Er sei nicht wichtig, erklärt er. Er lehnt auch jede Ehrung ab. Er tut ja viel für sozial Schwächere, er vergibt Kleinkredite.« Der Reporter beschrieb Groschenkamp als unauffälligen Mann um die achtzig. »Es geht übrigens die Rede, er leide unter Agoraphobie. Aber bestätigen kann ich das nicht.« Über die Edmund-Gurney-Stiftung wusste der Reporter nichts. »Ich glaube, ich weiß, welche Villa an der Elbchaussee das ist. Sie hat auffällig viele Blitzableiter, sie ist förmlich überzogen damit.«

      Ich bedankte mich, holte mir von der Seite der Koestler Para­psychology Unit in Edinburgh die E-Mail-Adresse von Prof. Dr. Finley McPierson und schickte ihm eine journalistische Interviewanfrage für ein Buchprojekt über die Parapsychologie zwischen Gauklerei und Quantenphysik.

      Beim Senden brachte mir mein Mailprogramm die Anfrage der Chefredakteurin der Sonntagsbeilage, ob mein Artikel über Parapsychologie bis Donnerstag fertig werde. Man wolle ihn nun am Sonntag endlich mal bringen.

      Ich sagte zu und flüchtete in Recherchen über die Edmund-Gurney-Stiftung und das Kalteneck-Experiment, fand aber nichts. Also begab ich mich auf die elegante und mit bläulichen Bildern von Frieden und Freiheit durch technischen Fortschritt bestückte Netzseite von QarQ. Unter dem Link Presse verbarg sich wie bei Industriekonzernen üblich nicht die Presseabteilung, sondern eine Sammlung von Presseartikeln über den Konzern. Erst im Impressum gab sich die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit zu erkennen. An oberster Stelle von fünf Gesichtern stand ein dicklicher Jungkarrierist namens Ingmar Neuner mit E-Mail-Adresse und Telefonnummer.

      Ich wählte die Nummer und meldete mich als Journalistin.

      Der Chef der Pressestelle war in einer Besprechung. Worum es denn gehe, fragte mich seine Vorzimmerdame. Ich wolle Herrn Neuner fragen, erklärte ich, warum das Unternehmen die Edmund-Gurney-Stiftung unterstützt. Was für eine Stiftung? Wie die sich denn schreibe? Ich diktierte es ihr. Sie versprach, Herr Neuner werde mich baldmöglichst zurückrufen.

      Heute weiß ich, dieser Tag, dessen Datum ich nicht mehr fixie­ren kann, war der point of no return. Ich hatte nach Berlin, Hamburg und Edinburgh rückverfolgbare Signale geschickt, dass in Stuttgart eine Schwabenreporterin Lisa Nerz angefangen hatte, sich für die Kalteneck-Experimente zu interessieren. Während ich die Vorschläge meiner Facebook-Gemeinde zum Problem der Leiche im verschlossenen Raum las – sie reichten von Zauberei bis lockere Latte in der Zimmerdecke – und auf den Anruf des Pressefritzen von QarQ wartete, begannen andernorts ein paar Neuronen zu funken, ein Mensch wurde nervös und nahm Kontakt mit anderen auf. Etwas Neues entstand, formierte und organisierte sich. Am Abend war angelaufen, was wir jetzt nicht mehr kontrollieren können.

      Ingmar Neuner rief nach etwa einer halben Stunde an. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen«, sagte er mit geölter Konzernrhetorik. »Meine Assistentin sagte mir, Sie möchten etwas über unser Engagement in der Edmund-Gurney-Stiftung wissen. Wir unterstützen diese Stiftung, das ist richtig, aber im Detail bin ich damit nicht befasst, und ich wollte mir erst die Unterlagen heraussuchen lassen. Sie möchten wissen, warum der QarQ-Konzern die parapsychologischen Forschungen unterstützt. Wir fördern vielfältige wissenschaftliche Aktivitäten, wie Sie vermutlich wissen. Im Fall der Edmund-Gurney-Stiftung handelt es sich, soweit ich das erkennen kann, um eine einmalige Zahlung in den Stiftungsfonds im Jahr 2009, die im Übrigen nicht hier im Mutterhaus geleistet wurde, sondern von unserem Tochterunternehmen Inter-Q-Orporate. Über die genauen Gründe kann also auch ich nur spekulieren. Aber wie Sie vielleicht wissen, ist Inter-Q-Orporate ein international agierendes Kommunikationsunternehmen. Und bei diesen parapsychologischen Phänomenen«, er lachte kurz, »handelt es sich gewissermaßen um einen Sonderfall der Kommunikation. Und wie gesagt, die Förderung zukunftsweisender Forschung halten wir ganz grundsätzlich für außerordentlich relevant. Wir dürfen neue Technologien und Entwicklungen nicht den Russen oder Chinesen überlassen. Ich hoffe, ich konnte Ihnen damit weiterhelfen, Frau Nerz.«

      Dass ich noch drankommen würde, hatte ich nicht mehr zu hoffen gewagt. »Danke«, sagte ich. »Eine Frage hätte ich noch. Die Edmund-Gurney-Stiftung hat eine Million Euro ausgelobt für denjenigen, dessen paranormale Fähigkeiten einer Überprüfung unter Laborbedingungen standhalten.«

      »Wenn Sie es sagen.«

      »Diese Experimente wurden im Institut für Grenzwissenschaften in Holzgerlingen durchgeführt. Das ist ein kleiner Ort bei Stuttgart.«

      »Und wie kann ich Ihnen in der Frage weiterhelfen?« Seine Stimme hatte sich einen Tick bedeckt.

      »Sollte diese Million eines Tages ausbezahlt werden müssen, wer bringt sie auf? Sind Sie daran beteiligt, ich meine QarQ oder Inter-Q-Orporate?«

      »Da müsste ich mich kundig machen. Aber wenn diese Experimente, wie Sie eben sagten, durchgeführt wurden, dann stellt sich die Frage wohl nicht unmittelbar.«

      Hui. »Sie passen aber genau auf!«

      »Das ist mein Job.«

      »Sicher kein einfacher Job bei einem Unternehmen wie QarQ, das ja nun hin und wieder in die Kritik gerät.«

      »Wenn alle Jobs einfach sein müssten, dann säßen wir heute noch auf den Bäumen. Haben Sie sonst noch Fragen?«

      So gefragt, fiel mir keine mehr ein.

      »Dann darf ich Ihnen eine Frage stellen. Warum interessieren Sie sich für die Stiftung? Meine Assistentin sagte mir, Sie arbeiten für den Stuttgarter Anzeiger ?«

      »Nicht direkt. Ich bin freie Journalistin.« Nicht, dass er noch in der Redaktion anrief, um sich über mich zu beschweren. »Ich arbeite an einem größeren Artikel über Parapsychologie. Er soll am Sonntag in der Sonntagsbeilage erscheinen. Wir haben hier eine Agentur, die eine Geisterbeschwörung im Schloss Ludwigsburg veranstaltet hat …«

      »Ihr Interesse hat nicht zufällig etwas mit dem Tod von Professor Rosenfeld zu tun? Der ist doch aufgeklärt. Ein junger Mann sitzt in Untersuchungshaft. Und die Staatsanwaltschaft wird demnächst Anklage erheben.«

      »Ach, das hat man in Berlin alles so im Detail mitbekommen?«

      Zum ersten Mal kam er ins Schleudern. »Man … liest auch hier Zeitung.«

      »Unsere Staatsanwaltschaft ist gerade bei diesem Fall außerordentlich zurückhaltend. Aber als Pressesprecher lesen Sie vermutlich alle lokalen Blätter.«

      »Nun, nicht alle. Aber … ich habe in Hohenheim Publizistik studiert. Sie denken vermutlich, dass ich dann besser über diese Stiftung Bescheid wissen müsste. Aber sehen Sie, die Sache ist sowohl von der Summe als auch von der Thematik her ein Exot, wenn Sie so wollen. Ich persönlich glaube nicht an diesen Hokuspokus. Zudem war die Spende an die Edmund-Gurney-Stiftung einmalig und liegt drei Jahre zurück. Von einem Engagement des Konzerns beim Thema Parapsychologie kann keine Rede sein. Das interessiert uns null.«

      »Es könnte Sie aber interessieren, wenn es einen gäbe, der per Geisteskraft technische Systeme beeinflussen kann.«

      »Inwiefern? Helfen Sie mir auf die Sprünge, Frau Nerz. Ich fürchte, ich habe nicht genug Phantasie. Flugzeuge per Geisteskraft abstürzen lassen? Das Riesenrad in London umstürzen? Das käme Terror gleich. Und ich wüsste nicht, inwiefern das dem QarQ-Konzern von Nutzen sein sollte. Wir liefern Technik, die funktioniert, nicht solche, die havariert.«

      »Na, sie funktioniert doch ganz gut, Ihre Phantasie«, sagte ich.

      Ingmar Neuner


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