Totensteige. Christine Lehmann
Читать онлайн книгу.uns mit ihren Leuten zu einer PU zu Tourismusbedingungen ins Schloss Neuschwanstein zu begleiten, vorausgesetzt, ich übernähme die Kosten von Anreise, Parkplatz, Eintritt und Verpflegung. »Und Sie müssen die Eintrittskarten vorbestellen, sonst müssen wir zwei Stunden anstehen.« Ich guckte mir die Internetseite an. Es würde teuer, wenn ich Meisner, den LOStA Krautter, die junge Staatsanwältin Nadja Locher und Roswita Kallweit überreden konnte mitzukommen. Aber waren sie wirklich nötig? Lieber hätte ich Dr. Derya Barzani dabeigehabt – keine Ahnung, warum. Und wie brachte ich das den Leuten bei?
Ich begab mich zur inneren Klärung ins Fitnessstudio. Mit Rücksicht auf die ziependen Narben meiner Schussverletzung hatte ich erst vor anderthalb Monaten wieder angefangen, Judo zu trainieren. Und noch immer fehlten mir Kraft und Ausdauer. In dem Weiber-Studio meines Vertrauens waren die Rudergeräte nicht beliebt. Es gab fünfundzwanzig Crosstrainer, zwanzig Fahrräder und fünfzehn Laufbänder, aber nur zwei Rudergeräte. Dünne Mädchen wackelten sich auf den Steppern die Pobacken ab, dicke saßen auf den Rädern. Mit vier Ave Maria von Nina Hagen ruderte ich mich in den Rausch. Das waren 24 Minuten und fünfeinhalb Kilometer. Der Buena Vista Social Club half danach weiter mit Chan Chan, Orguellecida und Candela. Dann noch mal alles von vorn.
Als ich mit Gummibeinen nach Hause kam, hatte die gute Oma Scheible mir einen Topf saurer Kutteln und Bratkartoffeln in die Küche gestellt. Sie waren noch warm.
Ich nahm den Topf mit in den Salon und stellte den Fernseher an, Nachrichten gucken. Es war der Tag, an dem US-Militärs in einer Villa im pakistanischen Kurort Abbottabat, ihren Angstgegner Osama bin Laden erschossen hatten und aufgeregte Journalisten Obama bin Laden und Barack Osama sagten, die Anschläge auf das World Trade Center in New York auf den neunten Elften legten und bewiesen, dass sie das Töten von Gegnern viel geiler fanden als deren Verhaftung und Anklage.
Ich hatte gerade begonnen, mit großem Löffel die Kutteln zu schlabbern, da rief Richard an. »Kannst du mal bitte schnell herüberkommen? Ich sag an der Pforte Bescheid.«
»Was gibt’s? Ich bin gerade …«
»Bitte!« Damit legte er auf.
16
Ich blickte Cipión in die nussbraunen Augen. Noch nie hatte Oberstaatsanwalt Dr. Weber mich in seinem Büro sehen wollen. Was ziehe ich da jetzt an? Business- oder Verbrecherkleidung. Was bei ihm keinen Unterschied machte, denn er war Staatsanwalt für Wirtschaftsstrafsachen beim Landgericht Stuttgart, er sah Kriminelle in Boss-Anzügen. Diesmal musste ich mich jedenfalls nicht mit meinem Judo-Ausweis, der die Farbe der Ausweise der Steuerfahnder hatte, zur Hintertür hineinmauscheln. Ich durfte vorn rein, offiziell als Lisa Nerz. Aber was trage ich, wenn ich ich bin? Ich kajalte meine Narben, tat mir alle Lederarmbänder um, die ich besaß, polierte den Brillanten im Ohr, gelte meine Haare, zog das Rip-Curl-T-Shirt mit dem Schädelprint an, dazu eine Boyfriend-Jeans mit Nietengürtel und Sneakers. Und dann doch noch das blaue Nadelstreifenjackett mit den Innentaschen für Geldbeutel, Handy und andere Kleinigkeiten. Ja, so ka’sch auf’d Gass.
Cipión guckte. Die Haarbüschel über seinen Augen gingen abwechselnd hinauf.
»Hast ja recht, alles Verkleidung. Ich hab halt kein Fell.«
War Cipión eigentlich zufrieden mit seinen drahtigen graubraunen Haaren, oder wünschte er sich zuweilen das seidige Fell eines Collies? Verglichen sich Tiere mit andern? Ich bin schlanker, meine Ohren sind hübscher. Oder war das Vergleichen eine ausschließlich menschliche Eigenschaft? So aussehen wollen wie alle und dennoch unverwechselbar und eigen bleiben. Die unmögliche Aufgabe.
»Möchtest du mit?«
Cipión wedelte mit der Rute.
»Richard besuchen?«
Die Rute wedelte frenetisch.
Feierlich traten wir vor die Haustür. Gelassen schlenderten wir zur Fußgängerampel. In der Luft hing der Straßenbahngeruch nach sonnenheißem Schmieröl. Wir winkelten durch Baustellenabsperrungen rüber auf die andere Seite, schritten den staatstragend breiten Fußweg entlang und stiegen die Stufen zur Pforte hoch. Es stimmte natürlich nicht, dass ich noch nie legal in der Staatsanwaltschaft gewesen war, da hatte es mal eine Besprechung mit Meisner gegeben, aber ich war noch nie vorn in der Pforte eingelaufen und hatte laut meinen Namen genannt und »Zu Oberstaatsanwalt Dr. Weber. Er erwartet mich« gesagt.
Der Polizist an der Pforte antwortete: »Ja, er hat eben angerufen. Sie kennen den Weg. Aber das Hundle, das kann fei net nei.«
Na bitte! Es wäre ja auch zu seltsam gewesen, wenn jetzt alles reibungslos verlaufen wäre.
Ich legte den Kopf schief und lächelte. »Das Hundle hat Angst allein. Und ich auch.«
Der Polizist war schon älter. Er kniff die Augen zusammen, drehte sich halb weg und winkte mich fort. Ich nahm Cipión untern Arm und drückte mich durch den Vereinzelungsapparat, wie in solchen Gebäuden die Drehtüren heißen. Und da passte wirklich nur einer durch, und zwar ohne Rucksack. Ich musste aufpassen, dass Cipións Rute nicht abgeklemmt wurde.
Dann war ich drin. Ich ließ Cipión zu Boden und von der Leine. Der Fahrstuhl befand sich rechts. Er hatte ein vorgeburtliches Alter – auf meine Geburt bezogen natürlich – und das gleiche messingverbrämte Design wie die Fahrstühle im Bürgerhospital aus dem Jahr 1958. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft steckte jetzt seit dreißig Jahren – ein ganzes Karriereleben lang – in einem Gebäude aus den Dreißigern, das ursprünglich von einem Oberpostbaurat namens Osswald für das Telegraphenbauamt der Reichspost geplant und nach dem Krieg zunächst vom Süddeutschen Rundfunk genutzt worden war. Der Stil nannte sich Neue Sachlichkeit und war längst denkmalreif. Der Fahrstuhl rumpelte mich in den dritten Stock hinauf. Eine Renovierung war vor einigen Jahren durchs Gebäude gebraust und hatte die Gänge aufgehellt. Auch gab es inzwischen Flachbildschirme.
Roswita Kallweit hatte schon Dienstschluss gemacht. Die Porzellankatzen auf ihrem Schreibtisch weinten ihr nach. Mittlerweile teilte sie sich ihr Büro mit einer weiteren Schreibkraft, die auch schon lange gegangen war. Die Tür zu Richards Büro stand offen.
»Ah!«, sagte er aufblickend.
Cipión startete durch, veranstaltete seinen Begrüßungswirbel, ratzte mit den Krallen über das edle Tuch von Richards Hosen, warf sich auf den Rücken und zwang den Staatsanwalt, sich zu bücken, zärtliche Laute auszustoßen und zu lächeln. Als der Hund genug hatte, fuhr Richard per Tastendruck seinen Computer herunter, stand auf, zog sich das Jackett über, griff sich einen Speicherstick und kam hinter seinem Tisch hervor, der noch original Süddeutscher Rundfunk war.
»Was ist eigentlich los?«, fragte ich.
»Das wirst du gleich sehen.«
Wir begaben uns in den Medienraum, der seit dem letzten Mal mächtig an Technik gewonnen hatte. Neben neueren DVD- und Blu-ray-Playern zur Überprüfung von Produktpiraterie und illegalen Kopien standen aber auch noch der alte Kassettenrekorder und das Videokassettengerät. Außerdem hatten wir hier beide bequem Platz am Tisch. Richard fuhr den Computer hoch, stöpselte den USB-Speicher ein und öffnete einen Bildordner. Ich erkannte meine missglückten Fotos von Rosenfelds Büro wieder.
»Oje!«
»Jetzt pass auf.« Richard vergrößerte eines der Bilder, auf denen verwischte Buntheit herrschte, und fuhr an die linke untere Ecke hinunter. »Siehst du das?«
Ich sah etwas Dunkles. »Total unscharf.«
»Was auch immer das ist, auf den Tatortfotos der Polizei ist es nicht drauf.«
»Ein Gespenst!«, bemerkte ich.
»Oder ein Gegenstand, der sich dort nicht mehr befand, als die Tatortgruppe eintraf.«
»Die mussten doch erst einmal die Tür aufschieben, um hineinzukommen. Es war unvermeidlich, dass sie dabei die Spurenlage an der Tür verändert haben.«
»Wie weit bist du hineingetreten?«
»Gar nicht. Ich habe nur den Arm reingestreckt. Die Tür ließ sich nur