Berliner Filz. Horst Bosetzky
Читать онлайн книгу.wendet sich das Verkehrsamt an die Berliner: Melden Sie bitte geeignete Ein- und Zweibettzimmer! Wir können doch die Kammer ausräumen, ein Bett reinstellen und uns ein paar Pfennige dazuverdienen. Vielleicht kommen interessante Leute.»
«Ja, vielleicht Debbie Drake persönlich. Nur über meine Leiche!»
«Warum nicht, ich habe schon lange keine mehr gesehen.»
«Hör auf!» Sie warf eine zusammengeknüllte Serviette nach ihm.
«Oh», rief Hermann Kappe, «das wird Otto weniger freuen: Selbstmordversuch in der Zelle.» Im Polizeigefängnis in der Gothaer Straße hatte sich ein 21-Jähriger, der an einem brutalen Überfall auf eine Tabakwarenhändlerin beteiligt gewesen war, das Leben nehmen wollen. Mit einer Scherbe hatte er sich die Pulsadern aufgeschnitten.
«Gibt’s nicht auch was Erfreuliches?», fragte Klara.
«Sicher: Adenauer wieder in Cadenabbia.» Noch immer war der Mann Bundeskanzler. «Drei Raubüberfälle in Schöneberg. Na, das ist ja auch nicht sonderlich erfreulich.»
«Was gibt’s denn abends im Fernsehen?»
«Im ersten Programm Wallenstein mit Wilhelm Borchert in der Titelrolle.»
«Und im zweiten Programm?»
«Um Viertel nach acht Panorama.»
«O Gott, da zählen sie auch nur wieder alles auf, was angeblich mies ist bei uns!»
Der Sportteil war auch nicht gerade aufregend. Bei der Deutschland-Rundfahrt war Hennes Junkermann in der Rhön geschlagen worden. Hertha BSC hatte im Qualifikationsspiel nach einem 1 : 1 gegen den 1. FC Kaiserslautern die Intertoto-Runde verpasst, weil das Los für die Pfälzer entschieden hatte.
Nach dem Frühstück ging Hermann Kappe erst einmal spazieren. Er empfand seine Wohnung zunehmend als Gefängnis. Gott sei Dank war er noch gut zu Fuß. Viele seiner Altersgenossen saßen schon im Rollstuhl oder gingen zumindest am Stock. Seine Route war immer dieselbe. Ein paar hundert Meter ging er, nachdem er aus dem Haus getreten war, die Wartburgstraße entlang, dann bog er ab in die Berchtesgadener Straße. Schon allein der Straßenname löste angenehme Gedanken in ihm aus: an den Watzmann, den Königssee. Klara liebte das Meer, er die Berge. Den nächsten Urlaub wollten sie in Berchtesgaden verbringen.
Er kam auf die Grunewaldstraße und ging Richtung Bayerischer Platz. Ein ziemlich leerer Zug der Linie 3 ratterte an ihm vorbei. Die Straßenbahn wollten sie in West-Berlin völlig abschaffen, um eine autogerechte Stadt zu schaffen. Je näher er dem Bayerischen Platz kam, an desto mehr frei geräumten Trümmergrundstücken ging er vorbei. Zwischendurch erblickte er auch einige kastenförmige Neubauten. «Berlin baut auf!», so hatte es gleich nach dem Krieg geheißen. Am Bayerischen Platz standen die prunkvollen alten Mietshäuser nur noch auf der westlichen Seite. Gott, musste das vor dem Krieg hier schön ausgesehen haben! Er stieg zur U-Bahn hinunter. Nicht um zum Innsbrucker Platz zu fahren, sondern nur, um die herrliche Architektur zu genießen. 1910 war der Bahnhof eröffnet worden. In diesem Jahr war er aus Wendisch Rietz nach Berlin gekommen. Er konnte sich noch genau an diesen Tag erinnern. Damals war Schöneberg noch eine selbstständige Gemeinde gewesen, viel wohlhabender als Berlin. Ein halbes Jahrhundert war das nun schon her. Unfassbar!
Er stieg wieder ans Tageslicht hinauf und lief nun die Innsbrucker Straße Richtung Süden entlang, immer auf dem Rücken der U-Bahn sozusagen. Er hatte noch die Fotos im Gedächtnis, auf denen die Tunneldecke von Bomben weggesprengt worden war und es deshalb so aussah, als würden die gelben Züge in einer Rinne fahren. Er kreuzte erst die heimatliche Wartburg-, dann die Badensche Straße, wo er einen Doppeldeckerbus vorüberlassen musste. Es war der 4er zum Brixplatz im noblen Westend. Vor ihm erstreckte sich nun in einer alten eiszeitlichen Rinne der Wilmersdorfer Volkspark. Die U-Bahn wurde auf einer Art Brücke über diese Mulde hinweggeführt, und unter dieser Brücke lag der U-Bahnhof Rathaus Schöneberg, der bis 1951 den Namen Stadtpark getragen hatte. Hermann Kappe spazierte jetzt auf breiten Parkwegen. Obwohl ihm das als hochgradig albern erschien, hielt er ständig nach einer Leiche im Gebüsch Ausschau. Die Kommentare in den Zeitungen wären großartig gewesen: Seine Spürnase ließ ihn auch viele Jahre nach der Pensionierung nicht im Stich.
Er überquerte die ehemalige Kaiserallee, nun in Bundesallee umbenannt. Die kannte er schon aus Kästners Emil und die Detektive. Vielleicht war es Kästner gewesen, der in ihm früh den Wunsch geweckt hatte, einmal zur Kripo zu gehen. Am Fußballplatz, kurz vor der Blissestraße, machte er halt, um den Spielern des 1. FC Wilmersdorf einen Augenblick lang zuzusehen. Dabei versuchte er sich daran zu erinnern, ob er in seiner Zeit bei Viktoria 89 einmal hier gespielt hatte, vor dem Ersten Weltkrieg noch oder während des Kriegs. Es fiel ihm nicht mehr ein. Jedes Spiel dauerte neunzig Minuten, dann wurde abgepfiffen. Betrachtete er sein Leben, dann war jetzt vielleicht schon die 86. Minute angebrochen, aber niemand kannte ja Tag noch Stunde.
Er schlenderte jetzt auf der südlichen Seite des Parks entlang und kam an der Kufsteiner Straße dicht am RIAS vorbei, einer der heiligen Kühe der West-Berliner. Seine Sendungen waren ein unverzichtbarer Bestandteil des Lebens geworden, ob es nun montags die Schlager der Woche waren oder die legendäre Krimireihe Es geschah in Berlin von Werner Brink. Es war ein Ritual, jeden Sonntag um Viertel vor elf Friedrich Luft mit seiner Stimme der Kritik und anschließend das Geläut der Freiheitsglocke zu hören. Aber auch andere Sendungen bestimmten den Alltag, so Berlin spricht zur Zone, Damals war’s, Geschichten aus dem alten Berlin, Die Rückblende, Kutte kennt sich aus, Onkel Tobias, Wer fragt, gewinnt mit Hans Rosenthal, Wo uns der Schuh drückt mit dem jeweiligen Regierenden Bürgermeister und natürlich Die Insulaner. Deren Lieder hatte er ständig im Ohr. Edith Schollwer sang das Insulanerlied. Er kannte sie alle: Günter Neumann schrieb die Texte, Bruno Fritz war der Herr Kummer, Joe Furtner der Professor Quatschnie, Walter Gross der Jenosse Funzionär, Tatjana Sais und Agnes Windeck gaben die Klatschdamen vom Kurfürstendamm.
Hermann Kappe schlenderte weiter und kam zum Vorplatz des Rathauses Schöneberg, des Sitzes des West-Berliner Parlaments und des Regierenden Bürgermeisters. Willy Brandt war das jetzt seit 1957 – ein Glücksfall für West-Berlin. Auf dem Posten hatten sie ja anfangs den charismatischen Ernst Reuter gehabt («Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!»), dann aber mit Walther Schreiber eine ziemliche Null. Otto Suhr, der ihm nachgefolgt war, hatte auch keine Bäume ausgerissen. Beim Blick zum Rathausturm hinauf hörte Hermann Kappe ganz automatisch die Freiheitsglocke läuten und die sonore, gottähnliche Stimme im RIAS: Ich glaube an die Unantastbarkeit und an die Würde des einzelnen Menschen. Ich glaube, dass allen Menschen von Gott das gleiche Recht auf Freiheit gegeben wurde. Ich schwöre, der Aggression und der Tyrannei Widerstand zu leisten, wo immer sie auf Erden auftreten werden.
Mit diesen hehren Worten im Kopf kehrte Hermann Kappe über die Martin-Luther-Straße nach Hause zurück. An die fünf Kilometer mochten es gewesen sein, die er zurückgelegt hatte. Er sank erst einmal aufs Sofa und schlief kurz danach ein.
Zum Kaffee kam Otto mit Gertrud vorbei. Hermann Kappe konnte ein Gefühl des Neids nicht ganz unterdrücken. Der Neffe war gerade einmal 51 Jahre alt, stand noch voll im Saft und hatte jede Menge interessanter Fälle zu bearbeiten.
«Was liegt denn gerade an bei euch?», lautete dann auch die erste Frage, kaum dass der Neffe Platz genommen hatte.
Otto Kappe hätte lieber über Fußball oder die Familie geredet. «Nicht viel. Nur die Schüsse auf diesen Studienrat oben in Hermsdorf, Hans-Peter Habedank. Bislang haben wir keine Spur.»
Wie gerne hätte Hermann Kappe jetzt gehört, dass man ohne ihn hilflos sei, doch Otto ließ nichts dergleichen verlauten.
Auch Hertha Börnicke, Hermanns Cousine, kam zum Kaffee. Sie hatte Multiple Sklerose und ging am Stock. Schließlich erschien noch Peter, Otto und Gertrud Kappes einziger Sohn. Er studierte jetzt an der FU Psychologie.
«Seelenklempner will er also werden», hatte Hermann Kappe gebrummt, als Otto ihm davon erzählte. «Na, soll er … Dann kann er sich wenigstens selber therapieren.»
«Wenn das in Deutschland so weitergeht, müssen wir alle in die Therapie»,