Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte. Tanja Langer
Читать онлайн книгу.Lucie, David und Sina am Tisch saß und nach Nudeln verlangte. Sah Stefan, ihren Mann, der träumte, wer weiß wohin, die Freundin, Sibylle, mit ihrem kurzen blondierten Schopf, und daneben Ludwig, Sibylles Mann, mit dem unvermeidlichen Leatherman am Gürtel, seinem Taschenmesser, der seine Freude für den Tag kundtat, jungenhaft aufgekratzt und väterlich sonor, der fröhlich wissen wollte, welchen Wein bei diesem Essen im Freien, an diesem ersten sonnigen Urlaubstag auf Sizilien, ganz in der Nähe der alten Tempel. Und Eva sah die Gören der beiden, die hampelten und quietschten, lachte und sagte jaja, und Salat auch noch, und Vorspeisen auch, und sie schob ihn weg, den Kratzer im Hals und im Herzen. Sie hatten alle gerötete Gesichter von der Sonne, was machte da schon ein bisschen Wind?
Fortunas Rad dreht sich, dachte Eva, du steigst hinauf, du fällst hinunter, und: how we suffer from our vanity, wie es in dem Song hieß, den sie auf der Fahrt im Taxi zum Flughafen gehört hatte, gestern oder vorgestern. Wie leiden wir an unserer Vergänglichkeit, übersetzte Eva es sich in Gedanken, oder musste es Eitelkeit heißen, wie früher, als beide Begriffe noch eng miteinander verknüpft waren?
Sie rieb Lucie und David mit Sonnencreme ein. Liebevoll ließ sie die Finger über die zarte Haut ihrer beiden jüngeren Kinder fahren und küsste sie. Sie band Lucie ein Kopftuch um das Haar, das dunkel war und lockig wie ihr eigenes, drückte sie fest an sich und küsste sie noch einmal. Die Vierjährige lachte, machte sich los und rannte zu den anderen Kindern. So sind sie, die kleinen Damen, dachte Eva und sah ihrer Jüngsten verliebt hinterher. Sie war zufrieden und fand sich philosophisch gestimmt.
Wir sind Kinder, wir werden erwachsen, und kaum haben wir begriffen, dass unsere Jugend vorbei ist, kollern die Hormone und sagen: Du hast den Zenit überschritten. Schau in den Spiegel und sag, was du vom Leben noch erwartest. Du bist ein Kind gewesen, setzt Kinder in die Welt, du siehst sie heranwachsen. Du überprüfst deine Träume, all das, was wir uns mit zwanzig erhofften, mit dreißig erstrebten, und findest dich wieder in einem dichten Gestrüpp von Kompromissen. Wir jonglieren mit Eifersucht und Neid, wir kämpfen gegen Hader und schwindende Illusionen, wir kehren Gefühle unter den Teppich und werden von ihnen beherrscht, in der Liebe, der Ehe, dem Beruf. Wir zanken und versöhnen uns mit Eltern oder Freunden, und unter alldem wuchern unverändert Hoffnungen und die unerschöpfliche Sehnsucht nach Leidenschaft.
Wir sehen uns an, und die anderen, und müssen begreifen: Das ist das ganz normale Leben.
Verflucht, dachte Eva, wo bin ich jetzt wieder hingeraten?
Die beiden Ferienwohnungen, die sie von Berlin aus angemietet hatten, lagen auf einem Hügel, über den der Wind pfiff, in einem nüchternen Neubau, der im Prospekt vom Besitzer als romantischer Bauernhof bezeichnet worden war. Daneben standen zwei wacklige Baracken, und hinter dem Haus war ein schiefer Anbau an die Rückwand geklatscht. Keine Pflanze, kein blühendes Kraut, das sich lebenslustig aus einer Blechbüchse rankte. Ein geradezu feindseliger Verzicht auf Ästhetik. Der Besitzer, Signor Giovanni, ein kräftiger Mann mit schwieligen Händen, führte sie eine roh gezimmerte Treppe hinauf und schloss eine Tür aus Spanplatten auf. Eva würgte Tränen herunter. Sie war fassungslos. „Frühstück auf der idyllischen Terrasse mit Blick auf Olivenhaine“ hatte der alternative Reiseführer versprochen.
„Wo ist die Terrasse?“, fragte sie Signor Giovanni. Die anderen standen um sie herum. Evas Gesicht war hochrot.
„Aber Signora, bei diesem Wetter!“
„Wir haben eine Wohnung mit Terrasse vereinbart“, insistierte Eva.
„Wo ist die Terrasse?“
Stefan, der mit zwei Reisetaschen in der Hand verlegen einen halben Meter entfernt neben Eva stand, ahnte, was kommen würde. „Nun geh doch erst mal die Zimmer angucken“, sagte er, und dann drängten sich vier Erwachsene und fünf Kinder in der weiß gekachelten schmalen Küche.
„Einer soll wohl auf dem Sofa in der Küche schlafen“, sagte Stefan.
„Null Atmosphäre“, schnaufte Eva. „Ich bleibe keine fünf Minuten hier. Das ist die reine Abzockerei.“
„Vielleicht ändert sich der Eindruck, wenn die Sonne rauskommt“, sagte Sibylle.
„Ich sehe das überhaupt nicht ein“, sagte Ludwig. „Wir haben die Bude bezahlt, wir bleiben hier.“
„Wir könnten bestimmt etwas viel Schöneres finden“, sagte Eva. „Ich kratze doch nicht mein Geld zusammen, um auf Sizilien in einer Bude zu sitzen!“
„Wir machen doch sowieso Ausflüge“, sagte Ludwig, „und nachts schlafen wir. Da siehst du doch gar nichts. Rechne doch mal den Verlust, dafür können wir jeden Abend essen gehen.“
Dreimal doch war dreimal zu viel.
„Ich will aber nicht jeden Abend essen gehen“, zischte Eva, von Ludwigs Ton noch mehr gereizt. Sie starrte ihn mit geradezu hasserfüllten Augen an. „Ich will es im Urlaub nicht schäbiger haben als zu Hause.“
„Dann musst du beim nächsten Mal etwas mehr investieren!“
Eva und Ludwig standen sich gegenüber wie Kampfhähne. Sibylle und Stefan sahen sich besorgt an.
„Immer musst du mit dem Geld kommen, verdammt noch mal. Wer weiß, wann wir je wieder das Geld haben, um nach Sizilien zu fliegen.“
„Wir haben hier gebucht“, sagte Ludwig, „wir bleiben hier.“
„Ihr bleibt hier“, sagte Eva und reckte Ludwig das Kinn entgegen.
„Genau“, sagte Ludwig, ebenso halsstarrig wie Eva, „wir bleiben hier.“
Sibylle war dem Heulen nah. Immer musste Ludwig so rechthaberisch sein! Im entscheidenden Augenblick tat er so, als wäre er in der Klinik. In der Klinik mussten alle ihm gehorchen, er war der Chef der Abteilung. Es war wirklich scheußlich hier. Sibylle spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Sie sah den schönen Urlaub mit ihren Freunden jäh scheitern und blickte Stefan Hilfe suchend an.
Stefan sagte nichts; er musste nur in Evas hochrotes Gesicht sehen und wusste Bescheid. Sie zitterte; das schwarze Haar stand ihr vom Kopf, die grünen Augen waren Schlitze.
Eva klopfte an die dünne, hellhörige Wand und knurrte.
„Dieser schwäbische Altphilologe mit seiner dicken Frau und ihrer dünnen Schwester wird mir den ganzen Urlaub vermiesen. Hört doch das Geschwätz nebenan, wie laut die reden! Ausgerechnet! Da hätten wir ja gleich nach Stuttgart fahren können!“
Ihre Tochter Sina, neuneinhalbjährig, kicherte. Sie streckte den Finger gen Fenster. „Tolle Aussicht“, sagte sie, Augenbraue hoch, Augenbraue runter. „Gewächshäuser mit Plastikwelldächern.“
„Können wir raus?“, maulten David und Lucie, die beide an Evas Beinen hingen.
Eva zerrte Schubladen und die Türen des Einbauschrankes auf, knallte sie wieder zu. „Abgezählte Bestecke, dieser Geizhals! Ohne Terrasse, da bin ich eingesperrt, da werden wir hier sitzen und nackige dünne Wände anglotzen, als wären wir in einer pseudowestrenovierten Hütte im tiefsten Adlergebirge!“
„Die Hausbesitzerin spricht“, entfuhr es Ludwig.
„Ludwig!“, rief Sibylle. „Jetzt hör aber auf!“
Ludwig zog den Reißverschluss seiner Lederjacke langsam zu, trat von Eva gefolgt hinaus, betrachtete gründlich den gestückelten Anbau, die Baracken neben dem Haus, die sich in den pollenwirbelnden Wind duckten, deren Ärmlichkeit kein freundlicher Anstrich zu übertünchen versuchte. Kein bisschen Illusion, und ringsum nur halb geeggte graue Felder mit aufgeworfenen Erdkrusten und drei mickrigen Olivenbäumen, die auf Sonne warteten.
Signor Giovanni kam mit Handtüchern die Treppe heraufgewieselt. Siegessicher lachte er: „Sehen Sie, das Wetter ist nichts für die Terrasse, Signore! Und das soll so bleiben!“
Das war nun das endgültige Aus. Denn ausgelacht zu werden, das hasste auch Ludwig. „Wir ziehen um“, sagte er. „Wir ziehen um, auch wenn es finanziell ein Verlust ist. Wir gehen das Risiko ein.“