Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte. Tanja Langer

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Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte - Tanja Langer


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Oper empfahl. Da Eva zum zweiten Mal schwanger war, war Stefan glücklich: Er wurde als zweiter Klarinettist engagiert. Zu Anfang war das Haus für Stefans Empfinden zu groß, allein das Orchester umfasste hundert Mitglieder, doch mit der Zeit schien es für ihn auf ein überschaubares, familiäres Gehäuse zusammenzuschrumpfen. Die anderen Musiker waren wie er Einzelgänger und unkomplizierte Familientiere zugleich, die sich in der Gruppe wohl fühlten und verbargen, sich anschmiegten und dabei zurückzogen. Du hättest gut in ein mittelalterliches Kloster gepasst, sagte Eva zu ihm, wenn sie mit seiner Eigenbrötelei nicht zurechtkam, du kommst mir manchmal vor wie ein Mönch mit Klarinette. Wie sollte ich anders Musik machen, gab Stefan zurück, und so gesehen hatte er natürlich recht.

      „Auf die Ferien!“, hob Ludwig überraschend das Glas, und „auf die Ferien!“, riefen alle, nun doch erleichtert, dass einer zu reden anfing. Der Wein funkelte in der Sonne und ein bisschen schon in den Köpfen, und Eva griff das Gespräch der Kinder auf, die ihre Nudeln mampften.

      „Mein Vater“, fing sie an, „als er klein war, so alt wie du, Sina, und du, Fabian, also neun, hat seiner Mutter einmal ein paar Küken geschenkt. Das war kurz nach dem Krieg, und er hatte sie von einem Bauern bekommen.“

      „Welcher Krieg?“, fragte Sina, die jeden Abend darum kämpfte, die Tagesschau mitsehen zu dürfen, was Eva wegen der vielen Grausamkeiten kurz vor dem Einschlafen ablehnte.

      „Der mit dem Hitler“, sagte Eva, die andererseits den Kindern keineswegs die Schreckensgeschichte ihres Landes vorenthielt. „Er bekam sie für irgendeinen Dienst auf dem Feld oder im Stall. Das war damals richtig was wert, so eine Handvoll Küken.“

      „Mama, mach doch mal den Hitler.“

      „Nein, Sina, nicht hier.“

      „Warum nicht hier?“

      „Jedenfalls hielten sie die Küken in der Küche, in der sie auch schliefen, zu fünft, meine Oma und ihre Söhne, mein Papa, also Opa, und meine Onkel, Onkel Justus, Onkel Peter, na ihr wisst schon“, sagte Eva und hatte plötzlich das Gefühl, von einem dieser Onkel zum anderen geworfen zu werden.

      „Es war alles ganz winzig, müsst ihr wissen“ (zu den Kindern), „die Küken wohnten in einer alten Kartoffelkiste.“

      „Können wir auch Hühner haben?“, fragte Jennifer, Sibylles und Ludwigs zweites Kind, gerade sieben, mit ihrer lauten, rauen Stimme.

      „In unserer Wohnung im vierten Stock?“, rief Ludwig. „Du spinnst wohl!“

      Schon wieder das Haus, dachte Eva.

      Das Haus stand nur wenig entfernt von dort, wo sich früher die Mauer zwischen Westberlin und der DDR entlanggezogen hatte. Damals war es linientreuen Parteigängern vorbehalten gewesen, in dieser Gegend zu wohnen, in der man am nächtlichen Himmel hin und wieder rote und gelbe Leuchtkugeln aufblinken sah und die Scheinwerfer, die die Stacheldrahtzäune am Todesstreifen abschweiften, um Republikflüchtlinge anzuleuchten. In der nahe gelegenen Hakeburg war eine Parteischule der SED für künftige Spitzenfunktionäre untergebracht, aus der politische Berühmtheiten hervorgegangen waren.

      Einige von den „Ehemaligen“ wohnten noch immer in dieser Ecke, und sie beäugten misstrauisch die Westler, die nun kamen und die Geschichte auf den Kopf stellten und ihren Nachbarn die Häuser wegnahmen und ihre Existenz bedrohten. Eva hatte für sich beschlossen, dass es in Ordnung war, dass sie nun in dem Haus lebte, das ihre Großeltern vor dem Zweiten Weltkrieg gebaut und sicher mühsam abbezahlt hatten. Sie wusste nicht allzu viel über diese Großeltern, die die Eltern ihrer Mutter gewesen und früh verstorben waren. Die Kindheit, die ihre Mutter in diesem Haus verbracht hatte, schien ihr weit weg und schwer zu fassen; also vergaß sie die meiste Zeit, dass ihre Mutter in genau diesen Wänden geatmet, gegessen und gespielt hatte. Dass sie durch diese Straße zu ihrer Schule gelaufen war, in den Dreißigerjahren. Es fehlte einfach das Gespräch darüber. Als sie in das Alter kam, in dem man beginnt, die Eltern nach ihrer Geschichte zu fragen, war ihre Mutter schon nicht mehr da.

      So blieb das Haus selbst ein noch unerschlossener Gedächtniskörper, in dem sie unter den typischen blassrosa und gelb gemusterten Osttapeten zunächst das Zentralorgan der ehemaligen DDR, das ‚Neue Deutschland‘, und darunter die Tageszeitung der Nazis, den ‚Völkischen Beobachter‘ von den Wänden gekratzt hatten. Unmöglich, hatte Eva mit dem Spatel in der Hand gedacht, dass dies das Fleckchen sein soll, an dem meine Füße in die Erde wachsen. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb pflanzte sie Holunder, Ranunkel und Jasmin (Brombeeren wucherten wie von selbst), sammelte Brennnesseln und Regenwasser in einer abgenutzten Tonne für eine Jauche gegen Blattläuse.

      Stefan hatte es gefallen, hierher zu ziehen. Zum einen arbeitete er mit vielen Kollegen aus dem ehemaligen Osten und fand es selbstverständlich. Zum anderen hatte er die DDR gut gekannt, von seinen Großeltern, die in Brechts Buckow am Schermützelsee, kurz vor Frankfurt an der Oder, eine Gartenwirtschaft betrieben hatten. Es gab einen Geruch, der ihn an seine frühen Kindertage dort erinnerte und den er mochte, genau wie das Gefühl, dass in diesen Straßen die Zeit langsamer vorangeschritten war. Als speicherten sie den atmosphärischen Rest eines friedlicheren, vergessenen Deutschlands vor der Teilung und vor dem Nationalsozialismus.

      Die Kinder liebten den wilden Garten mit den alten Bäumen und den Tümpel mit den Enten gleich nebenan. Manche Nachbarn lugten noch immer skeptisch zwischen den Gardinen hervor, wenn Eva Besuch bekam, wenn junge Frauen mit undisziplinierten Kindern aus ihren Autos sprangen und krakeelten. Wenn Eva ihren Bürgersteig nicht rechtzeitig fegte oder laut rufend im Nachthemd durch den Garten Lucie oder David hinterherlief oder Stefan abends auf der Terrasse Klarinette spielte. Das fanden die Nachbarn allerdings auch ganz schön.

      Eva schob das Haus fort und Ludwigs Sticheleien und erzählte munter weiter.

      „Die Küken wuchsen und wuchsen, und bald wurde ihr Gehege zu klein, die Küche wurde zu klein, das heißt, sie war ohnehin sehr klein, und außerdem stank es nach Hühnern, das durfte auf keinen Fall sein.“

      „Warum durfte das nicht sein?“, fragte Fabian.

      „Weil ihre Oma Hemden wusch“, erklärte Sibylle.

      „Wieso hat sie Hemden gewaschen?“

      „Um Geld dafür zu kriegen.“

      „Von wem?“, fragte David, der sich auch an der Unterhaltung beteiligen wollte.

      „Von den Leuten, für die sie die Hemden gewaschen hat“, antwortete Sina ihrem kleinen Bruder. Sie tat genervt, doch sie liebte solche Gespräche.

      „Warum haben die Leute ihre Hemden nicht selber gewaschen?“

      „Das weißt du doch“, sagte Eva ungehalten, und Sibylle sagte: „Die Leute hatten keine Waschmaschine, nun lass sie doch mal zu Ende erzählen.“

      „Und die sollten nach Waschpulver und Stärke duften und nicht nach Hühnerkacke.“

      „Wer?“

      „Die Hemden!“, schrien Sibylle und Eva und fingen an zu kichern.

      Ludwig schüttelte den Kopf. Er konnte sich nicht mehr wehren, er fing an zu lachen. „Du bist ein Huhn, Eva, hör auf mit dem Quatsch!“, rief er und rieb sich vor Vergnügen den Bart.

      „Nicht aufhören!“, brüllten die Kinder.

      Stefan schmunzelte und sagte gar nichts. Er genoss das Essen, die Sonne und den Wein.

      „Was haben sie also gemacht?“, fragte Sibylle, als sie vom Kichern wieder Luft bekam. Sie stopfte eingelegte Paprikascheiben in den Mund und trank einen Schluck Wein. Sie wurde rot, weil einer der Männer, die neben der Terrasse Sand schippten, ihr schöne Augen machte. Tatsächlich! Sibylle vergewisserte sich, ja, er zwinkerte ihr zu, nicht Eva, obwohl doch Eva, wie Sibylle dachte, viel hübscher war als sie, mit ihren vielen dunklen Locken, aber nein! Er meinte sie! Ihr Haar war hell! Das war ein echter Vorteil hier im Süden. Hätte sie es nicht so kurz geschnitten! Fiele es ihr wieder weich ins Gesicht! Sie würde es wieder wachsen lassen, ja, das war eine schöne Idee, und plötzlich freute sie sich, weil sie merkte, dass sie endlich an etwas anderes


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