Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte. Tanja Langer
Читать онлайн книгу.fühlte den heißen Tee in ihrer Brust hinunterlaufen. In ihr hämmerte die Frage, wie das Leben wohl aussehen könnte ohne Ludwig, ohne die Kinder, womöglich sogar ohne die Praxis. Diese Frage befiel sie hin und wieder, ohne Not, mehr aus einer allgemeinen Müdigkeit heraus. Sie suchte ein Bild für dieses andere Leben, doch je mehr sie sich anstrengte, desto heller und leerer wurde die Fläche in ihrem Kopf, bis sie brannte und schmerzte. Dann gab etwas in ihr nach, und allmählich drang das in sie ein, was sie sah: die Terrasse, die Zitronen, die Mandeln. Das Licht verschwand, sie konnte zusehen, wie die Farben entwichen. Der Olivenhain war schon fast schwarz. Am Horizont leuchteten Lichter auf, eine blinkende Kette.
Sibylle fiel ihre erste Reise ein, an die sie sich überhaupt erinnern konnte. Vier oder fünf Jahre alt war sie damals, in Jugoslawien, und das, woran Sibylle dachte, waren die bunten Lichterketten, die auf der Terrasse des Hotels aufgehängt waren und im Wind schaukelten. Sibylle erinnerte sich an den Kellner, der sie bedient hatte und mit ihr und den anderen Kindern manchmal am Nachmittag im Wasser getobt und Ball gespielt hatte. Sie erinnerte sich an die Freundin ihrer Mutter, Gerti, die mitgefahren war, samt ihren zwei rotzfrechen kleinen Mädchen. Natürlich hatte es dem Kellner gefallen, den Tisch mit den beiden hübschen Frauen und ihren lebhaften Töchtern zu bedienen. Sibylles Vater war „unabkömmlich“, wie die Mutter es mit spitzen Lippen nannte.
Sibylle fiel das Wort wieder ein, das sie als Kind oft gehört hatte. Es hatte ihr gar nichts ausgemacht, mit der Mutter allein zu verreisen, im Gegenteil, sie liebte diese Reisen. Ihre Mutter schaffte es, einem Neckermannpauschalurlaub in weitläufigen, damals noch eleganten Hotelanlagen den Hauch eines Abenteuers zu verleihen. Sie war entspannter als zu Hause, machte Unsinn mit den Kindern und kicherte ununterbrochen mit Gerti. Später hatte sich Gerti das Leben genommen, und ihre Mutter hatte wochenlang geschluchzt und „ich begreife das nicht, ich begreife das nicht!“ gerufen. Gerti hatte sich ohne jede Ankündigung aus dem Fenster des fünften Stocks geworfen.
Sibylle wollte nicht an diesen Tod denken. Sie konzentrierte sich auf das Bild ihrer lachenden Mutter in einem pinkfarbenen Kleid mit weißen Blumen darauf. Vera. Eine typische Gestalt der Sechzigerjahre, mit hellrosa Lippenstift und passendem Nagellack; sie hatte Sibylle mit zweiundzwanzig bekommen und wirkte sehr jung. Als kleines Mädchen war Sibylle von allem fasziniert, was zu ihrer Mutter gehörte, ob es die weiße Lacklederhandtasche war, in der es nach Parfüm roch und Mentholzigaretten, oder ihre Armbänder, mit denen sie klapperte, oder ihre Aufregung, kurz bevor abends Sibylles Vater nach Hause kam. Sie toupierte sich das Haar, zog sich ein anderes Kleid an, fluchte und rauchte eine Zigarette nach der anderen.
Ob meine Tochter mich auch so neugierig ansieht? Ich habe noch nie darüber nachgedacht. Jenni war ein hellhäutiges Kind mit einem Puppengesicht; wenn sie den Mund öffnete, erschraken alle, weil ihre Stimme ungewöhnlich tief war. Sie war tollpatschig und verletzte sich oft; wenn irgendein Kind aus Versehen in ein Schwimmbecken fiel, war sie es. Dass sie aber auch kein bisschen anmutig ist, regte sich Sibylles Mutter manchmal über ihr Enkelkind auf. Es traf Sibylle jedes Mal wie ein Messerstich. Sie grübelte weiter über das Verhältnis ihrer Eltern zueinander. Es war ihr, als dächte sie an fremde Menschen. Warum war Mama immer so aufgeregt, bevor Papa nach Hause kam? Weil er launisch war und sie nie wusste, in welcher Stimmung er käme? Oder weil sie so verliebt in ihn war?
Es lag schon so lange zurück.
Es roch nach Zitronen und Meer. Der Streifen über dem Horizont war dunkelblau bis violett, darüber bildete sich ein schmales ausgefranstes Band von zartem Orange, der Himmel öffnete sich in lichtem Blau. Der Abendstern. Sibylle stellte sich an die Tür zur Terrasse und wünschte, die anderen würden nicht wiederkommen. Nicht so bald. Sie hatte das Gefühl, einer wichtigen Sache auf der Spur zu sein. Zu nah wollte sie ihr aber auch nicht kommen. Sie sah, wie der violette Streifen dunkler wurde und blaugraue Wolken sich wie Nachtschatten herabsenkten.
„Wie gut die Zitronen riechen!“, rief Sina. „Hier, Papa, riech mal! Und wie dick die sind!“
Die neunjährige Sina hielt Stefan eine dicke Zitrone hin. Sie hatte seine dunklen, etwas tief liegenden Augen, und seinen vollen roten Mund, sie gab sich manchmal verschlossen wie er (was Eva aufregte), und sie himmelte ihn an. Stefan roch an der Frucht und rief: „Toll!“ Er vergötterte Sina, seine Älteste, sein erstes Kind, in das er sich verliebt hatte von Anfang an.
Stefan hatte mit allen fünf Kindern das Grundstück der Signora verlassen. Überall hingen reife Zitronen und Orangen an den Bäumen. Sie waren Trampelpfaden gefolgt, vorbei an den Zäunen der benachbarten Häuser, die sich hinter hohen Azaleenbüschen verbargen. Sie hatten Gehege mit Gänsen, Ziegen und einem Esel gefunden und waren von einem Hund verjagt worden. Die Kinder rannten umher, kletterten auf Mäuerchen am Rand der Haine, sprangen hinter die Bäume, sammelten Steine und Stöckchen, spielten mit Stefan Verstecken und waren von allem begeistert. Stefan blieb immer wieder stehen und sah zum Meer hinunter oder in die Berge hinauf. Er sog die würzigen Gerüche ein, Pinien, Olivenbäume, Zitrusfrüchte.
Nett hier, dachte er. Im Kopf hörte er Mozarts Klarinettenkonzert. Obwohl es zu den meistgespielten Stücken gehörte, liebte er es. Er mochte die Intervallsprünge, die Anordnung der Dreiklangfiguren. Die Melodie, die so einfach und komplex war, dass er jedes Mal vor Bewunderung aus dem Häuschen geriet, wenn er sie hörte oder spielte. Er sah auf die weich geschwungenen Hügel, das dunkle Grün der hohen Zedern, das hellere Grün der Olivenhaine, das Ocker der Felder, das letzte Graublau des Meeres, Flächen, wie von einem Maler rhythmisch aneinandergefügt.
Stefan fing an zu pfeifen. Hier gehört das Konzert hin, dachte er, hier auf einen der Hügel. Wie die Hügel die Wellenbewegung des leuchtenden Meeres aufnahmen! Er folgte den Linien, mit einer großen Bewegung des Armes drehte er sich langsam um sich selbst. Hier die chromatischen Läufe, dachte er, damdadada, und hier der Dialog der Klarinette mit der ersten Violine, dadadadaa! Stefan fiel die Reihe ungleicher Zypressen ins Auge, die die Plantage der Signora schützte. Wie eigenwillig sie vor den Hügeln in den Himmel ragten! Wie sie sich im Winde bogen, ohne zu brechen! Eva hatte recht, hier war es schöner als bei dem fiesen Alten auf dem kalten Berg. Darin verstehen wir uns, dachte Stefan, wir mögen dieselben Landschaften. Eintönige Weiten schrecken uns. Immer aufgeregter war sie geworden, als sie sich im Auto dem Meer genähert hatten. Zypressen werden für Särge benutzt, hatte Eva erzählt, und Schiffsmöbel, weil sie so dauerhaft sind, und ihr Duft ist heilsam, und wie sie duften! Sina hatte ihm im Rückspiegel zugezwinkert und mit den Augen gerollt, Mama wieder, und Eva hatte gerufen: Ein ganzes Orchester hast du da, mit Dicken und Dünnen! Der lange Hagestolz da, der ist wie euer Cellist, und die da … Und sie alle hatten gelacht.
Stefan hörte die Stimmen der Kinder zwischen den Bäumen und die der Klarinette in seinem Kopf, wie sie jetzt im Adagio den Aufschwung zur Phrase nahm, babababa, und die Streicher antworteten, und weiter kletterte ihr Gesang in die Höhe, erhob sich, um erneut in das Tutti der Streicher hinabzutauchen. So lieblich war diese Musik, liebenswürdig geradezu, wie die Landschaft, die ihn umgab. Wie nah sie beieinanderlagen, das Schöne und der Tod! Mozart hatte das Konzert in A-Dur zur selben Zeit geschrieben wie sein Requiem, keine zwei Monate, bevor er starb. Stefan machte dieser Gedanke nicht traurig, im Gegenteil, er nahm die Dinge, wie sie kamen, und er liebte ihre Vielfalt.
· 3 ·
Am Abend aßen die Kinder schnell ihre Nudeln, die Augen fielen ihnen zu. Die Erwachsenen brachten sie ins Bett, setzten sich in die Küche, aßen Fisch und Salat und tranken Wein.
„Habe ich euch eigentlich schon mal von meinem Optiker erzählt?“, fragte Sibylle.
„Der mit dem Verhältnis?“, fragte Eva freudig.
„Genau.“
„Hast du. Gibt’s denn was Neues?“
„Naja. Seine Frau hat es rausgekriegt.“
„Auweia.“
„Sie kommt auch zu mir, schon seit Jahren, und jetzt kam sie, angeblich wegen Schwindelanfällen. Die Schwindelanfälle waren aber nur ein Vorwand. Eigentlich wollte sie sich bei mir ausweinen.“
„Und die Geliebte“, fragte Eva, „die kommt doch auch zu dir, oder?“
„Alle