Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte. Tanja Langer
Читать онлайн книгу.wirkten aufgeregt. Ein Mann ging vor dem Karren her und feuerte den Gesang an; wenn die Menge zu leise wurde, erhob er die Stimme, „Gesu, in quest’ ora!“
Stefan entdeckte Sibylles hellen Kopf in der Menge; er konnte nicht sehen, welches Kind sie an der Hand hatte. Er winkte ihr, doch sie reagierte nicht.
Sibylle war wütend auf Ludwig. Ihr Magen war hart und schmerzte. Sie war allein. Jennifer hatte sich losgerissen und war hinter Ludwig und Fabian hergerannt. Eva war zu weit vorn; sie hatte gerade noch ihre dunklen Locken gesehen. Stefan hatte sie nicht entdecken können. Sibylle fühlte sich elend; sie lief weiter mit der Menge fremder Menschen und war von allem abgeschnitten. Sie fühlte nur die Kälte vom Boden an ihren Füßen und dachte an ihre einsamen Nächte als Mädchen, als sie sich von Gott verabschiedet und lange Gespräche mit ihm darüber geführt hatte. Hinduismus, hatte sie zu Gott gesagt, Buddhismus, Islam: Wieso glaubst du eigentlich, dass du der Einzige bist? Gott hatte geschwiegen. Du hast mich als Kind nie getröstet, hatte Sibylle gesagt. Du hast dich in der Dunkelheit meines Zimmers breitgemacht, zwischen den Puppen und dem Wandschrank, und hast mich angesehen. Ich habe dich gar nicht gesehen, ich habe deinen Blick gefühlt. Bis ich dir alles sagte. Was ich falsch gemacht hatte. Wen ich verpetzt hatte. Dass ich Mama geärgert hatte. Dass ich die Hausaufgaben in der Pause abgeschrieben hatte. Dass ich zwei Stücke Kuchen gewollt hatte. Du hast mich immer nur angesehen, und ich wusste, dass ich anmaßend und ungerecht war.
Dann war Gott verschwunden. Sibylle aber hatte lange nicht aufgehört, mit ihm zu diskutieren. Er machte sich nicht mehr die Mühe zu erscheinen; nun richtete sie sich selbst, strafte sich selbst und diskutierte mit sich allein, hinein in die grausame Leere der Nächte, die ihre Nerven reizte und gegen vier Uhr früh Säure in ihren Magen pumpte.
Eva und Sina bogen mit der Menge um eine Kurve hinunter zur großen Piazza, an der die Kreuzigung stattfinden sollte. Der Wind war schneidend kalt, hier, wo die schützenden Häusermauern sich öffneten und den Blick auf das Meer freigaben, das mit heller Gischt in hohen Wellen gegen die Ufermauern schlug. Von den anderen Seiten des Platzes waren ebenfalls Menschen herbeigeströmt, alles ging in Ruhe, ohne Gedrängel. Gesu, in quest’ ora.
Eva rieb Sina und sich die kalten Ohren, sie sahen das Podest mit dem Kreuz. Es wurde still. Der Gekreuzigte war am Ziel, zwölf Stationen waren besungen. Die Menge wartete. Vorn, auf dem Podest, standen zwei Männer vom Fernsehen. Einer, mit rotem Gesicht und grauer Sportjacke, trug die Kamera auf der Schulter. Der andere, im Jackett, Zettel in der Hand und Sprechgerät, eine dünne, starre Linie vom Ohr zum Mund, schubste mit dem Fuß Kabel herum. Was hatten sie hier zu suchen? Eva knurrte. Zwei Priester in ihren schwarzen Gewändern kletterten hinauf. Unterhalb des Podestes Bewegung, ein Mann, in weißes Tuch eingehüllt, wird auf einer Bahre hochgestemmt. Sie würden doch keinen lebendigen Mann ans Kreuz nageln? Eva wurde nervös. Die Menge war unglaublich still, man hörte das aufgepeitschte Meer und den wilden Wind. Hinter dem Podest schlug vor den Fenstern Wäsche gegen die Mauern, und hinter den Scheiben drängten sich Familien.
Eva geriet in Panik, ihr Körper zitterte. Womöglich fand sich in Sciacca in jedem Jahr einer, der das Mitleiden so unmittelbar hervorrufen würde, wie es nur denkbar war? Dann wollte sie auf keinen Fall, dass Sina dies sah. Sina zog schon an der Jacke.
„Mama, heb mich hoch.“
„Nein.“
„Mama, heb mich hoch!“
Eva stemmte das Kind auf die Hüfte, zu groß, zu schwer, sie trug Sina sonst nicht mehr.
Die Bahre kommt auf das Podest.
„Was machen sie mit dem Mann, Mama?“
Eva schwitzt. Ihr Herz puckert in den Ohren. Die Männer stellen die Bahre vor dem Kreuz ab, schlagen ein Kreuz, der Kopf des zu Kreuzigenden fällt von der einen Seite zur anderen. Der Mann mit der Kamera gerät in Unruhe, richtet sein Gerät auf den Mann.
„Der Arme“, sagt Sina.
Eva starrt ungläubig nach vorn, sie wünscht, jemand würde den Kameramann herunterstoßen. Die beiden Geistlichen bekreuzigen sich. Sie ziehen das weiße Tuch vom Körper des Mannes. Eva will das Kind unbedingt absetzen, aber Sina verstärkt den Druck ihrer Beine um Evas Hüfte.
„Er ist ja nackt“, sagt Sina fassungslos, und „du sollst das nicht sehen“, sagt Eva und legt Sina die Hand vor die Augen. Doch Sina klammert sich an sie und schiebt ihre Hand fort.
„Ich will sehen, Mama.“
Das Kind will sehen, das Kind hat ein Recht zu sehen.
„Der Arme“, sagt Sina.
Evas Fußsohlen schmerzen am kalten Boden. Da sieht sie, der Kopf bewegt sich, fällt zur Seite, der Hals ist aus einer weichen Stoffmasse, die Figur ist aus Holz geschnitzt. Aus Holz ist der Mann, so täuschend lebendig, das bärtige Gesicht fahl und eingefallen, und Sina sagt noch einmal: „Der Arme!“
„Er ist aus Holz“, sagt die Mutter, und „trotzdem“ das Kind.
Vorn steigen die beiden Priester auf die Leitern, die von hinten am Kreuz lehnen.
„Hat man den richtigen Jesus auch so aufgehängt?“ Eva nickt.
„Warum?“, fragt Sina, jemand macht „Sch!“, in diesem Moment wuchten die Männer den Jesus hinauf. Die Arme baumeln an den Seiten hinab und der Kopf fällt auf die Brust. Inzwischen sind auch die beiden Mädchen auf das Podest gestiegen, mit ihren roten Kissen. Je ein Helfer bekreuzigt sich, nimmt einen langen Nagel und reicht ihn dem Geistlichen oben auf der Leiter, der eine links, der andere rechts. Sie ziehen die Arme an einem Seil hoch, legen die Handinnenflächen nach außen an das Holz, stecken die Nägel in die dafür vorgesehenen Löcher und klopfen mit einem Hammer dreimal aufs Holz – ein Aufstöhnen geht durch die Menge – und dann auf den Nagel. Eva erwartet, dass jemand spricht oder singt. Es bleibt ruhig. Die beiden Geistlichen sind mit zwei langen roten Bändern beschäftigt. Der eine, jung und dicklich, wickelt das Band um den Arm der Figur und bindet am Handgelenk eine Schleife. Das soll wohl das Blut sein, das aus der Wunde fließt. Der ältere Geistliche sieht ihm zu, das Band fällt ihm aus der Hand, er beugt sich nach unten, jemand reicht ihm das Ende.
Eva setzt Sina ab, ihr tut alles weh. Schließlich gelingt es dem Geistlichen, die erforderliche Schleife am Handgelenk zu binden. Die Menge atmet hörbar auf, alle drehen sich um, einfach so, und gehen nach Hause, in die Geschäfte, zu Freunden und Familien.
Der Christus von Sciacca hing am Kreuz.
· 5 ·
Der Wind tobte nachts wieder. Er schien im Rhythmus der Brandung gegen das frei stehende Haus zu schlagen. In der Nacht zuvor war es das Klappern der Fensterläden gewesen, zugleich ein starkes Johlen und Pfeifen. Sibylle lag wach neben Ludwig. Manchmal schnarchte er ein bisschen auf, sonst atmete er gleichmäßig und ruhig. Sie hatten miteinander geschlafen, Barmherzigkeit und Milde, und nun dachte Sibylle an die Läden in Berlin, in denen man Votivtafeln und Madonnenbilder als Deko kaufen konnte. Kitsch in Anführungszeichen, Missachtetes, Vergessenes, Vermisstes, heimlich eingeschleust in Küche, Kneipe, Klo. Mit Ironie geht alles, und keiner merkt mehr, wenn es ernst wird.
Sie hatten miteinander geschlafen, es war wie immer gewesen, vertraut. Sibylle hörte, wie der Wind einen Ast gegen das Dach schlug, wie er wieder an den geschlossenen Läden rüttelte und flüsterte. Sie betrachtete im schwachen Mondlicht, das durch die Läden hereinfiel, Ludwigs schlafendes Gesicht. Die vom Aufliegen auf dem Kissen leicht gequetschte Haut, die geschwungene Oberlippe, die angestrengte Partie der Brauen. Geräusche waren so schwierig in Worte zu fassen, am besten verstand sich Stefan darauf, der Wortkarge. Als Musiker hatte er ein feines Gespür und ein reicheres Vokabular dafür als andere. Sie würde ihn morgen fragen. Vielleicht lag auch er wach? Sibylle wurde munter. Bisher hatte sie ein wenig gedöst, bei ihrem Lauschen, jetzt war ihr Körper in Spannung geraten.
Sie stand leise auf und ging in die Küche, sie wollte etwas trinken. Wollte kein Licht anknipsen. Auf dem Tisch standen sicher noch die Kerzen, in Wäscheklammern geklemmt.
Sibylle lächelte über die Wäscheklammern. Die Wäsche hatte im Wind geflattert,