Geniales Essen. Max Lugavere
Читать онлайн книгу.Film und Psychologie gewechselt hatte, schien eine Karriere im Gesundheitswesen unwahrscheinlich. Die Tatsache, dass ich kurz nach dem College-Abschluss von meinem damaligen Traumjob – TV- und Web-Moderator – vereinnahmt wurde, verstärkte dies. Ich konzentrierte mich auf Geschichten, über die meiner Meinung nach nicht so viel berichtet wurde und die sich positiv auf die Welt auswirken könnten. Ich lebte in Los Angeles, einer Stadt, die ich seit meinen Teenager-Jahren in New York vergötterte, in denen ich eine Menge MTV schaute, und hatte gerade fünf angenehme Jahre als Moderator und für den Inhalt verantwortlicher Produzent bei einem sozial engagierten TV-Sender mit Namen Current hinter mir. Das Leben war großartig. Doch das würde sich bald ändern.
Obwohl ich das Leben in Hollywood sehr genoss, reiste ich häufig zurück an die Ostküste, um meine Mutter und meine beiden jüngeren Brüder zu besuchen. Auf einem dieser Besuche im Jahr 2010 fiel meinen Brüdern und mir eine fast unmerkliche Veränderung in der Art und Weise auf, in der meine Mutter lief. Sie war damals 58 Jahre alt und war immer eine lebhafte New Yorkerin gewesen. Doch plötzlich schien es so, als würde sie einen Raumanzug unter Wasser tragen – jeder Schritt und jede Geste wirkten wie eine zielgerichtete, bewusste Entscheidung. Heute weiß ich es besser, aber damals konnte ich den Zusammenhang zwischen der Art und Weise, in der sie sich bewegte, und dem Gesundheitszustand ihres Gehirns nicht erkennen.
Sie fing auch an, sich beiläufig über ihre „geistige Vernebelung“ zu beschweren. Auch hier entging mir, was das bedeutete. Niemand in meiner Familie hatte jemals Gedächtnisprobleme. Meine Großmutter mütterlicherseits wurde 96 Jahre alt und hatte bis zum Schluss ein glasklares Erinnerungsvermögen. Im Fall meiner Mutter schien es jedoch so, als hätte sich ihre Verarbeitungsgeschwindigkeit insgesamt verlangsamt, wie ein Internet-Browser mit zu vielen offenen Tabs. Uns fiel auf, dass es ein paar Momente länger dauerte als üblich, bis sie bemerkte, dass man sie am Esstisch darum gebeten hatte, das Salz hinüberzureichen. Ich schrieb, was ich sah, dem „normalen Alterungsprozess“ zu, doch tief in meinem Inneren hatte ich den Verdacht, dass etwas nicht ganz stimmte. Erst während eines Familienausflugs nach Miami im Sommer 2011 bestätigte sich mein Verdacht.
Meine Eltern hatten sich scheiden lassen, als ich 18 Jahre alt war, und dies war seither eines der wenigen Male, dass meine Brüder und ich zusammen mit meinen Eltern unter einem Dach waren – im Apartment meines Vaters, zum Schutz vor der extremen Sommerhitze. Eines Morgens, in der Gegenwart der gesamten Familie, stand meine Mutter an der Küchenanrichte. Sie zögerte und gab dann bekannt, dass sie unter Gedächtnisproblemen litt und sich daher hilfesuchend an einen Neurologen gewendet hatte.
Skeptisch, aber mit einem scherzhaften Unterton, fragte mein Vater sie „Wirklich? Welches Jahr haben wir denn?”
Sie starrte uns einen Moment ausdruckslos an. Und dann noch einen.
Meine Brüder und ich lachten leise in uns hinein und unterbrachen die unangenehme Stille. „Komm schon, du wirst doch wohl wissen, welches Jahr wir haben?“
Sie antwortete: „Ich weiß es nicht“ und fing an zu weinen.
In genau diesem Moment veränderte sich alles. Diese Erinnerung hat sich in mein Gehirn gebrannt. Meine Mutter war besonders verletzlich und brachte eine Menge Mut auf, uns ihren inneren Schmerz mitzuteilen, niedergeschlagen und sich der Situation bewusst, frustriert und verängstigt – und wir waren vollkommen ignorant. Das war der Moment, in dem ich eine der schwersten Lektionen des Lebens lernte: das alles andere an Bedeutung verliert, wenn ein geliebter Mensch krank wird.
Der folgende Tumult aus Arztbesuchen, Konsultationen bei Experten und vorsichtigen Diagnosen kulminierte in einem Trip zur Cleveland Clinic. Meine Mutter und ich kamen gerade aus dem Büro eines anerkannten Neurologen und ich versuchte, die Etiketten auf den Behältern mit Tabletten, die ich in meiner Hand hielt, zu interpretieren. Für mich sahen sie wie Hieroglyphen aus.
Ich stand auf dem Parkplatz des Krankenhauses, starrte auf die Etiketten und formte die Medikamentennamen lautlos mit meinen Lippen.Ar-i-cept. Sin-e-met. Wofür waren sie? Die Medikamente in der einen Hand, unbegrenztes Datenvolumen in der anderen, wandte ich mich dem Digitalzeitalter-Äquivalent des Trostobjektes zu: Google. In 0,42 Sekunden präsentierte mir die Suchmaschine Ergebnisse, die mein Leben endgültig verändern würden.
„Information zu Aricept zur Behandlung von Alzheimer.“
Alzheimer? Niemand hatte etwas von Alzheimer gesagt. Ich wurde unruhig. Warum hatte der Neurologe das nicht erwähnt? Einen Moment lang hörte die Welt um mich herum auf zu existieren, und da war nur noch die Stimme in meinem Kopf.
Hat meine Mutter Alzheimer? Ist das nicht eine Erkrankung, die alte Menschen bekommen?
Wie kann es sein, dass sie in ihrem Alter Alzheimer hat?
Oma ist 94 Jahre alt und mit ihr ist alles in Ordnung.
Warum reagiert Mom so ruhig? Versteht sie überhaupt, was das bedeutet? Verstehe ich es?
Wie lange hat sie, vor … der nächsten Stufe?
Was ist die nächste Stufe?
Der Neurologe hatte „Parkinson Plus“ erwähnt. Plus was? „Plus“ hatte sich nach einem Bonus angehört. Wenn man Economy Plus fliegt, bedeutet das mehr Beinfreiheit – in der Regel also etwas Gutes. Pert Plus ist Shampoo plus Conditioner, also etwas Gutes. Nein. Meiner Mutter waren Medikamente für Parkinson plus Alzheimer verschrieben worden. Ihr „Bonus“ waren die Symptome einer Bonus-Erkrankung.
Während ich mich über die Pillen informierte, die ich immer noch in der Hand hielt, blieben ein paar sich wiederholende Sätze hängen.
„Keine krankheitsmodifizierenden Eigenschaften.“
„Begrenzte Effektivität.“
„Wie ein Pflaster.“
Selbst die Ärzte schienen resigniert zu haben. (Später hörte ich einen sarkastischen Witz über Neurologen, der unter Medizinstudenten zirkuliert: „Neurologen behandeln Erkrankungen nicht, sondern bewundern sie.“)
Später am Abend saß ich alleine in unserer Holiday Inn Suite, ein paar Straßenblocks vom Krankenhaus entfernt. Meine Mutter war im anderen Zimmer und ich las wie manisch am Computer alles, was ich über Parkinson und Alzheimer finden konnte, obwohl die Symptome meiner Mutter keiner der beiden Diagnosen genau entsprachen. Verwirrt, unwissend und machtlos erlebte ich etwas, was ich noch niemals zuvor gefühlt hatte. Meine Sicht schränkte sich ein und verdunkelte sich, Angst übernahm mein Bewusstsein. Selbst mit meinem beschränkten Wissen damals war mir klar, was gerade passierte. Laut klopfendes Herz, Atemnot, das Gefühl bevorstehenden Unheils – ich hatte eine Panikattacke. Ob diese ein paar Minuten dauerte oder Stunden, kann ich nicht sagen, aber selbst als die körperlichen Anzeichen verschwunden waren, blieben die emotionalen Dissonanzen zurück.
Mit diesem Gefühl hatte ich noch Tage später zu kämpfen. Als ich nach LA zurückgekehrt und der anfängliche Sturm vorüber war, fühlte ich mich, als stünde ich in einer unbekannten Landschaft und müsste ohne Karte oder Kompass den vor mir liegenden Weg vermessen. Meine Mutter begann mit der Einnahme der chemischen Pflaster, aber ich empfand ein ständiges Unwohlsein. Irgendwas in der Umwelt musste ihre Erkrankung doch ausgelöst haben, schließlich lag Demenz nicht in unserer Familie. Wie hatten sich Ernährung und Lebenswandel zwischen der Generation meiner Großmutter und der meiner Mutter verändert? War meine Mutter irgendwie durch ihre Umgebung vergiftet worden?
All diese Fragen schwirrten in meinem Kopf herum und ich konnte kaum über etwas anderes nachdenken, auch nicht über meine Karriere. Ich kam mir vor wie Neo aus Matrix, vom weißen Kaninchen dazu verpflichtet, meiner Mutter zu helfen. Aber wie? Ich hatte keinen Morpheus, der mich hätte führen können.
Ich entschied, dass der erste Schritt sein würde, mein Leben an der Westküste aufzugeben und zurück nach New York zu ziehen, um näher bei meiner Mutter zu sein. Also tat ich genau das und verbrachte das nächste Jahr damit, alles über Alzheimer und Parkinson zu lesen, was möglich war. Selbst in diesen ersten Monaten, wenn ich nach dem Essen auf dem Sofa saß, den Kopf in der Recherche vergraben, bemerkte