Das große Geschäft. Johann-Günther König

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Das große Geschäft - Johann-Günther König


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Mir geht es weder um eine bereits vielfältig – sogar »gelehrt« – dargelegte europäische Geschichte der Scheiße, noch um eine – bislang allerdings nur rudimentär ausgelotete – Geschichte der Pisse. Auch geht es mir nicht um eine bloße Neufassung bereits vorliegender Kulturgeschichten des Aborts oder auch WCs.IIKennzeichnend für viele dieser Publikationen – und ihrer vielfältigen Kurzfassungen im Internet – ist das Schlagen eines Bogens vom Altertum bis heute. Geschildert wird ein Ablauf, der mit einem vermeintlichen sanitären Fortschritt in der Antike anhebt, dann einen langwährenden Rückschritt und elenden Stillstand bis in das 19. Jahrhundert hinein schildert, um ab dem 20. Jahrhundert endlich wieder einen, diesmal hygienischen und sanitären, Fortschritt zu konstatieren. Die Menschen selbst geraten dabei freilich mehr oder weniger aus dem Blick.

      In diesem Buch versuche ich zu erhellen, wie sich der menschliche Umgang mit der Notdurft im zentraleuropäischen (insbesondere deutschsprachigen) Raum seit der Ansiedelung von ersten Abkömmlingen der Gattung Homo sapiens bis in dieses frühe 21. Jahrhundert entfaltete. So etwas wie historische Wahrheit kann es für einen Großteil der von mir abgedeckten Zeitspanne allerdings nicht geben. Die Skizzierung der Alltagsgeschichte der Notdurftbefriedigung ist schon deshalb keine leichte Verrichtung, weil es für einen langen Zeitraum keine oder nur spärliche Spuren gibt. Von dem Problem nicht überlieferter Mündlichkeit bzw. nonverbaler Erfahrungen gar nicht zu reden, das eine erdrückende Mehrheit unserer Vorfahren quasi für immer stumm hält. Viele der von Mitgliedern der Höfe, Handelshäuser, Intelligenz, Kunst und der Kirche erhalten gebliebenen Zeugnisse sind zudem parteiisch und nicht selten satirisch überzogen (teils auch erstunken und erlogen). Im Zweifelsfall gilt insbesondere für die Praktiken der Defäkation und/​oder Miktion die Erkenntnis: De normalibus non in actis. Das Selbstverständliche ist nicht überlieferungsfähig.

      Im 16. Jahrhundert entwickelte Michel de Montaigne die Form des persönlichen Essays. Der Essay (französisch: essayer = versuchen) kann im weitesten Sinne als eine Darstellungsform genutzt werden, um einer Fragestellung frei, assoziativ und den eigenen Denkbewegungen folgend nachzugehen. Ich nutze diese Form in diesem Buch, um anhand von authentischen Zeugnissen aus überlieferten Briefen, Memoiren, Reiseberichten, literarischen und fachlichen Werken aus vielen Jahrhunderten – gleichsam meinem Riecher folgend – die so selbstverständliche menschliche Bedürfnisbefriedigung der Ausscheidung facettenreich zu erkunden. Dabei gewähre ich einigen Persönlichkeiten der Geschichte quasi notgedrungen vergleichsweise viel Raum, weil die gemeine Frau und der gemeine Mann bis weit ins 19. Jahrhundert hinein im überlieferten Schriftgut extrem unterrepräsentiert sind. Das Bildungssystem für die Unterschichten hinderte die vielen davon betroffenen Frauen noch bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts, lesen und schreiben zu lernen.

      Menschen haben seit jeher natürliche und unaufschiebbare Bedürfnisse. Mein Versuch einer Geschichtsschreibung der Erleichterung kann bestenfalls nur andeuten, wie wir Mitteleuropäer zu genau den Damen und Herren bzw. Unisex-Vertretern geworden sind, die wir heute ausweislich einschlägiger Türschilder in öffentlich zugänglichen – häufig gar nicht stillen – Orten sind. Nicht mehr und nicht weniger. Wickeltische in mit H ausgeschilderten Aborten sind übrigens eine ziemlich junge historische Errungenschaft.

      P.S. Der amerikanische Komödiant Charles Sale (1885 – 1936) legte 1929 das Bändchen The Specialist vor. Vom ehrwürdigen Times Literary Supplement als »zu genial, als dass es anstößig sein könnte« gepriesen, wurde es ein angloamerikanischer Bestseller. Ich habe die Häusl-Geschichte mit dem literarischen Übersetzer Jürgen Dierking neu ins Deutsche übertragen. Sie steht auf meiner Website www.johann-guenther-koenig.de unter der Rubrik Kultur zur vergnüglichen Einsicht parat.

      Was den menschlichen Körper als Produkt der Verdauung verlässt, ist mehr oder weniger geruchsintensiv. Eben deshalb liegt der Versuch nahe, Urin und Kot möglichst hygienisch und effektiv aus Augen und Sinn zu bekommen. In den meisten europäischen Haushalten ist das heute schon deshalb kein Problem, weil Sitztoiletten bereitstehen, die das Sicherleichtern problemlos erleichtern. Eigentlich erinnert nur noch die Klobürste daran, dass große Geschäfte mehr Umsicht und Einsatz erfordern als kleine. Psychoanalytiker würden hinzufügen, Toiletten seien auch Orte der Entlastung und Befreiung von Bedrängendem und Belastendem.

      Wir essen und trinken, wir tafeln und nippen, wir fressen und saufen. Täten wir es nicht, würden wir verhungern und verdursten. Wie heißt noch gleich das geflügelte Wort von Bert Brecht? – »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. – Denn wovon lebt der Mensch?«2 Und wie sieht es nach der Verdauung aus, wenn die vom Körper nicht benötigten Stoffe und Flüssigkeiten alternativlos wieder an die Umwelt abgegeben werden müssen? Erst kommt die Verrichtung der Notdurft, aber was kommt dann? Was passiert, wenn eine Toilette oder bei Großveranstaltungen eine mobile Sanitäranlage nicht in Reichweite sind? Kommt spätestens dann die Moral? Und wie steht es um die von vielen Wissenschaftlern und Journalisten artikulierte Auffassung, menschliche Exkremente und deren Erzeugung seien »noch immer ein Tabu-Thema«?3

      Einer der Leitsätze der Outdoor-Bewegung lautet, für die Verrichtung der Notdurft seien ein Loch zu graben und die Hinterlassenschaften anschließend mit Erde abzudecken. Auf diese Weise soll die Abschwemmung der Exkremente in Gewässer unterbunden und eine »Besetzung« durch Insekten verhindert werden. Und warum dieser Aufwand? Kathleen Meyer, die mit ihrem Buch How to shit in the Woods viel Aufmerksamkeit erzielte, verdeutlicht in einem Interview: »Wir jetsetten rund um die Welt, wir können in Südost-Asien etwas essen, was wir dann in das Hinterland von Colorado ausscheiden. Wir verbreiten also Krankheiten wesentlich schneller als Tiere, es ist extrem wichtig, unsere Exkremente gut zu vergraben. Außerdem empfehle ich, auch das Klopapier wegzuräumen. Nehmen Sie einfach eine Plastiktüte mit und packen Sie das Papier hinein.«4

      Ob mit Klosett oder ohne – wenn wir müssen, geraten wir unter Druck. Das liegt in der Natur der Sache. Wie heißt es nicht in Erich Kästners Gedicht Helden in Pantoffeln:

      Auch der tapferste Mann, den es gibt,

      schaut mal unters Bett.

      Auch die nobelste Frau, die man liebt,

      muß mal aufs Klosett.

      Wer anläßlich dieser Erklärung

      behauptet, das sei Infamie,

      der verwechselt Heldenverehrung

      mit Mangel an Phantasie.5

      Alles nur Erdenkliche rund um die Themen Essen und Trinken wird täglich medial extensiv aufbereitet und als Gesprächsstoff dankbar aufgenommen. Die damit mehr oder weniger verbundenen Probleme wie etwa Erbrechen, Verstopfung, Völlegefühl, Diarrhöe und Harndrang werden dabei nicht ausgeblendet, sind laut Werbung kurierbare Kalamitäten. Auch der Ort des körperlichen Erleichterungsgeschehens ist keinesfalls ins verbale Schattendasein verbannt – die Frage, wo sich wohl die Toilette befindet, wird dafür viel zu häufig gestellt. Auch kommen viele Leute etwa in Hörergesprächen des Funks unmissverständlich auf den Punkt, wenn eine öffentliche Anlage nicht funktioniert oder ekelhaft heruntergekommen ist.

      Ich muss in Gesprächen nur das Wort Gesundheit in den Ring werfen, und schon entspinnt sich nicht selten ein längerer Erfahrungs- und Gedankenaustausch, der zuweilen selbst Toilettengewohnheiten und die Analhygiene nicht ausspart. Die Spanne reicht von neumodischen Dusch-WCs und Taschen-Toiletten, den Vor- und Nachteilen der Hockstellung und der Gesundheitsschädlichkeit bestimmter Klopapiere bis hin zu Blähungen, Inkontinenz, Hämorrhoiden und dergleichen Leiden mehr. Die Werbung lässt jedenfalls nichts unversucht, alle nur denkbaren Lebenssituationen, Leiden und Unwohlgefühle im »Intimbereich« ins Gespräch und Blickfeld zu bringen, um einschlägige Mittelchen zu Verkaufserfolgen oder Therapiemaßnahmen zum Mittel der Wahl zu machen.

      In der viel gelesenen und kostenlosen Apotheken Umschau mangelt es nicht an Aufklärung. Ein Beispiel: »Das Problem gibt es schon lange. Doch erst seit wenigen Jahren hat es auch einen Namen: Paruresis, auf Englisch ›Shy bladder Syndrome‹ (übersetzt in etwa: schüchterne Blase). Das


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