Wach werden und unser Leben wirklich leben. Jon Kabat-Zinn

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Wach werden und unser Leben wirklich leben - Jon Kabat-Zinn


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Folter (obwohl es sich manchmal so anfühlen kann), sondern Freiheit – die Freiheit, nicht verstrickt, ja womöglich gefangen zu sein in den eigenen Vorlieben und Abneigungen oder den endlosen Geschichten, die nie so ganz stimmen. In diesem Spiegel wacht der Geist auf. Er lernt sich selbst kennen, sich selbst und allem Erleben zum Freund zu werden. Und in diesem Prozess werden Sie selbst, so wie Sie sind, zur Verkörperung dieses Wissens. Durch diesen Prozess werden Sie viel besser wissen, wie einfach Dasein geht, und wenn Handeln gefragt ist, was zu tun ist.

      Viel Spaß! Und bleiben Sie in Kontakt! Vor allem mit sich selbst. Seien Sie gewiss, dass Sie nicht allein sind bei diesem Unterfangen, auf vielfältige Art und Weise Wachheit zu kultivieren. Wir sitzen alle in diesem Boot, geben unser Bestes, lassen uns, so gut es geht, auf die formelle und informelle Praxis ein und sehen und begreifen, was herauskommt und wie es im Moment ist.

      Jon Kabat-Zinn

      Berkeley, Kalifornien

      20. Februar 2018

      1 Es sei denn, Achtsamkeit ist in den Schulen in Ihrer Gegend Teil des Lehrplans, was hierzulande und weltweit zunehmend der Fall ist.

      2 Siehe: Teasdale, John und Chaskalson, M.: How Does Mindfulness Transform Suffering II: The Transformation of Dukkha. In: Williams, J. und Kabat-Zinn, J. (Hg.): Mindfulness: Diverse Perspectives on Its Meaning, Origins, and Applications. Milton Park, UK: Routledge, 2013, S. 103–124.

      Erster Teil

      Die Welt der Sinne:

      dein einziges, wildes, kostbares Leben

       Wer hat die Welt gemacht?

       Wer hat den Schwan und den schwarzen Bären gemacht?

       Wer hat den Grashüpfer gemacht?

       Ich meine diesen Grashüpfer hier –

       den, der sich gerade aus dem Gras katapultiert hat,

       der jetzt Zuckerkörnchen aus meiner Hand frisst,

       der seine Kiefer nicht auf und ab bewegt, sondern vor und zurück –

       der sich umschaut mit riesigen und komplizierten Augen.

       Jetzt hebt er seine blassen Vorderbeine und wäscht sich gründlich das Gesicht.

       Jetzt klappt er seine Flügel aus und schwirrt davon.

       Ich weiß nicht genau, was ein Gebet ist.

       Ich weiß aber, wie man achtsam ist, wie man hinfällt

       ins Gras, niederkniet im Gras,

       wie man faul und gesegnet sein kann, wie man durch die Felder streift (was ich ja schon den ganzen Tag tue).

       Sag mir, was hätte ich sonst tun sollen?

       Stirbt am Ende nicht alles, und immer zu früh??

       Sag mir, was willst du anfangen

       mit deinem einzigen, wilden, kostbaren Leben?

      MARY OLIVER,

      Der Sommertag (The Summer Day)

      Das Mysterium der Sinne und die Magie des Sinnlichen

       Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut,

       schließt ein neues Organ in uns auf.

      JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

       Was fähig ist, zu sehen, zu hören,

       sich zu bewegen, zu handeln, das

       muss dein ursprünglicher Geist sein.

      CHINUL,

      KOREANISCHER ZEN-MEISTER,

      12. JAHRHUNDERT

       Unsere Sinne (und das, was sie erschaffen) sind, wenn man darüber nachdenkt, in jeder Hinsicht völlig verblüffend. Leider betrachten wir sie als etwas Selbstverständliches und ignorieren ihre Tiefe und Tragweite – falls wir sie überhaupt beachten. Unsere Sinne untermauern unsere Fähigkeit, ein erstaunliches Arsenal intelligenter Verfahren zu rekrutieren und zu entwickeln, mit denen wir unser Erleben dekodieren und uns in der Welt der Phänomene positionieren. Mit den Sinnen im Kontakt zu sein – und es sind, wie die moderne Gehirnforschung zeigt, wesentlich mehr als nur fünf – und mit den Welten, die sie uns innen und außen eröffnen: Das ist die Essenz der Achtsamkeit und des meditativen Gewahrseins. Sich ihnen achtsam zu widmen, liefert zahllose Gelegenheiten, im alltäglichen Leben Wachheit, Weisheit und gegenseitige Verbundenheit zu erkennen.

      Unter besonderen Bedingungen können sich unsere Sinne außerordentlich verfeinern. Es wird berichtet, dass Jäger der australischen Aborigines, die im Outback leben, mit dem bloßen Auge die größeren der Jupitermonde sehen konnten, so geschärft war ihr Jägerblick. Es scheint, dass wenn bei der Geburt oder vor Vollendung des zweiten Lebensjahres ein Sinn verloren geht, die anderen Sinne eine Schärfe gewinnen können, die das, was wir normalerweise für möglich halten, weit übertrifft. Dies ist durch mehrere Studien belegt, sogar für Sehende, die für kurze Zeiträume (Stunden oder Tage) des Augenlichts beraubt wurden. Sie zeigen dann, mit den Worten des Hirnforschers Oliver Sachs, „einen auffälligen Zuwachs an taktil-räumlicher Sensibilität“.

      Helen Keller konnte, wenn sie mit anderen Menschen in einem Raum zusammen war, einfach durch ihren Geruchssinn herausfinden, „was sie arbeiteten. Die Gerüche von Holz, Eisen, Farbe oder Medikamenten hängen in den Kleidern der Leute, die damit arbeiten … Wenn ein Mensch schnell an mir vorbeigeht, bekomme ich einen Geruchseindruck, wo er oder sie gewesen ist – in der Küche, im Garten oder im Krankenzimmer.“

      Die verschiedenen isolierten Sinne (wir betrachten sie ja meist als getrennte, sich nicht überlappende Funktionen) schneiden für uns verschiedene Segmente der Welt heraus und verwerten die Rohdaten sensorischer Eindrücke (und unserer Beziehung zu ihnen) zur Konstruktion und Erkenntnis der Welt. Jeder Sinn hat sein ganz eigenes Gefolge von Eigenschaften um sich, aus denen wir nicht nur unser „Bild“ von der „Außenwelt“ bauen, sondern auch Bedeutungen und – Moment für Moment – unsere Fähigkeit, uns in ihr zu verhalten.

      Wenn wir die Berichte von Menschen lesen, denen – von Geburt an oder durch spätere Ereignisse – ein oder mehrere Sinneskanäle fehlen, die die meisten von uns besitzen, können wir eine Menge über uns selbst lernen und das, was wir so oft als selbstverständlich voraussetzen. Und wir können ausloten, wie sich für uns die Erfahrung eines so tiefgreifenden Verlustes (das scheint es uns jedenfalls zu sein) anfühlen würde, und von denjenigen lernen, die Wege gefunden haben, trotz solcher Einschränkungen ein reiches Leben zu führen. Und dadurch könnten wir das Geschenk, das uns die Sinne, die wir haben, genau jetzt in diesem Moment bereiten, und das Geschenk unseres praktisch grenzenlosen Potenzials, sie in den Dienst einer (wie zu hoffen ist) stetig wachsenden Bewusstheit für die inneren und äußeren Landschaften unseres Lebens zu stellen, besser schätzen lernen. Denn was wir wissen, wissen wir nur durch das volle Spektrum unserer Sinne, gekoppelt mit jener Fähigkeit des Geistes, die wir „Wissen an sich“ nennen könnten, seiner eigenen sensorischen und integrierenden Funktion.

      Helen Keller schreibt:

      „Ich bin genauso taub, wie ich blind bin. Die Probleme der Taubheit reichen tiefer und sind komplexer als die der Blindheit. Taubheit ist ein viel schlimmeres Unglück. Sie bedeutet nämlich den Verlust eines zentralen Stimulus – des Klanges einer Stimme, die Sprache transportiert, Gedanken anregt und uns in die Gemeinschaft des menschlichen Intellekts aufnimmt … Wenn ich noch einmal leben könnte, würde ich viel mehr für die Gehörlosen tun, als ich getan habe. Ich bin zu dem


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