Wach werden und unser Leben wirklich leben. Jon Kabat-Zinn

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Wach werden und unser Leben wirklich leben - Jon Kabat-Zinn


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Hinschauen ebenso unterscheidet wie Zuhören von bloßem Hören oder Schnüffeln von bloßem Riechen. Sehen heißt wahrnehmen, auffassen, aufsaugen, Beziehungen erkennen (einschließlich ihrer emotionalen Beschaffenheit), wahrnehmen, was tatsächlich da ist. Carl Gustav Jung bemerkte einmal, „wir sollten nicht so tun, als verstünden wir die Welt nur durch den Intellekt; wir begreifen sie ebenso sehr durch das Fühlen“. Und Marcel Proust sagte es so:

      „Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin,

      neue Landschaften zu entdecken, sondern darin,

      mit frischen Augen zu sehen.“

      Wir sehen, was wir sehen wollen, – nicht das, was wir wirklich vor Augen haben. Wir schauen, aber es kann sein, dass wir dabei nicht erfassen oder begreifen. Wir haben alle unsere blinden Flecke und Blindheiten. Und doch können wir, wenn wir entsprechend motiviert sind, unser Sehen justieren, so wie man ein Instrument stimmt, und dadurch seine Sensibilität, seine Reichweite, seine Klarheit und seine Empathie erweitern. Das Ziel wäre, die Dinge mehr so zu sehen, wie sie wirklich sind – statt so, wie wir sie gerne hätten oder wie wir sie fürchten oder wie wir gesellschaftlich konditioniert sind, sie zu sehen oder zu fühlen. Wenn C. G. Jung recht hat, dann begreifen wir auch mit unseren Gefühlen, sicher. Aber dann täten wir gut daran, zutiefst mit ihnen vertraut zu sein und sie richtig zu erkennen, sonst liefern sie uns für die Aufgabe echten Sehens und Erkennens nur eine verzerrte Optik.

      Wie auch immer – unser Geist trübt oft (wie er es auch mit den anderen Sinnen tut) unsere Fähigkeit, klar zu sehen. Wenn wir das Leben also voll und ganz erfahren, es voll und ganz in die Hand nehmen wollen, dann müssen wir uns darin üben, durch oder hinter den bloßen Anschein der Dinge zu blicken. Wir werden eine intime Vertrautheit zum Strom des eigenen Denkens kultivieren müssen, der alle sensorischen Welten einfärbt, wenn wir die Landschaften des Inneren und des Äußeren, Ereignisse und Vorfälle, in dem Maße wahrnehmen wollen, wie sie erkannt werden können – in ihrer Tatsächlichkeit, wie sie wirklich und wahrhaftig sind.

      *

       Ausgehend von hier, woran möchtest Du Dich erinnern?

       Wie Sonnenlicht über den glänzenden Boden kriecht?

       Wie Duft von altem Holz im Raume schwebt, wie von draußen gedämpfter Laut die Luft erfüllt?

       Wirst Du je ein besseres Geschenk für die Welt haben

       als den atmenden Respekt, den Du

       mit Dir trägst auf Schritt und Tritt? Wartest Du,

       dass Dir die Zeit noch ein paar bessere Gedanken zeigt?

       Wenn Du Dich wendest, von hier aus, hebe diesen neuen Augenblick, den Du gefunden hast; trag in den Abend alles, was Du Dir von heute wünschst. Diese Atempause, die Du dies lesend oder hörend zugebracht hast, bewahr sie für Dein ganzes Leben –

       Was kann irgendjemand Dir geben, was größer wäre als jetzt, ausgehend von hier, hier in diesem Zimmer, wenn Du Dich umdrehst?

      WILLIAM STAFFORD,

      Der Du dies liest, sei bereit(You Reading This, Be Ready)

      Gesehen werden

       Meine Frau Myla und ich machen mit den Menschen, die in unsere Arbeitsgruppen für „Achtsames Eltern-Sein“ kommen, manchmal eine ganz bestimmte Übung. In ihr geht es darum, sich an einen Augenblick in der eigenen Kindheit zu erinnern, in dem man sich von einem Erwachsenen (nicht unbedingt einem Elternteil) so, wie man war, völlig angenommen und gesehen fühlte, und dann in dem Gefühl und den Bildern zu verweilen, die von dieser Erinnerung ausgelöst werden.

      Wenn solche Erinnerungen, in der Kindheit wirklich gesehen worden zu sein, nicht aufkommen, wird man alternativ dazu eingeladen wahrzunehmen, ob Erinnerungen an Momente auftauchen, in denen man sich von einem Erwachsenen nicht gesehen oder gar missachtet und ganz und gar nicht so akzeptiert fühlte, wie man war.

      Es ist erstaunlich, wie schnell und wie lebhaft in der Geborgenheit solcher Gruppen Erinnerungen an Momente auftauchen, in denen wir gesehen und völlig angenommen wurden. Ans Licht kommen Geschichten über stille Augenblicke, in denen jemand als Kind zusammen mit der Großmutter in der Erde gebuddelt hat, wie man Hand in Hand mit Vater oder Mutter am Ufer gestanden und in den Fluss geschaut hat, wie jemand, nur damit wir uns nicht allein fühlten und uns schämten, absichtlich ein Ei zu Boden fallen ließ, nachdem uns versehentlich eines aus der Hand gefallen war. Diese Erinnerungen tauchen spontan auf, oft ohne dass wir uns vorher jemals bewusst an das Ereignis erinnert hätten. Sie sind hier bei uns gewesen, unser ganzes Leben lang, nie vergessen, denn es ist unwahrscheinlich, dass wir, auch wenn wir Kinder waren, Momente vergessen, in denen wir uns völlig gesehen und angenommen fühlten.

      Meistens sind das wortlose Momente. Sie entfalten sich oft im Schweigen, in einem parallelen Spiel aus gemeinsamem Tun und wortlosem Zusammensein. Vielleicht wurde nur ein kurzer Blick getauscht, ein Lächeln, man fühlte sich getragen oder umarmt oder an der Hand gehalten. Aber in diesem Augenblick wissen Sie, dass Sie gesehen und erkannt und gespürt werden, und nichts in der Welt, rein gar nichts, fühlt sich besser an, entspannt uns mehr, bringt die Welt schneller in Ordnung und schenkt uns mehr Frieden. Selbst wenn wir nur eine einzige solche Erinnerung haben, tragen wir sie für immer in uns. Wir vergessen sie niemals. Sie ist da. Sie ist in uns, weil sie so viel bedeutet, weil sie so viel offenbart hat, weil sie uns so viel Respekt erwiesen hat. Was da geschehen ist, war ein viel größeres Geschenk, als wir es damals wissen konnten. Doch intuitiv wussten wir es immer. Der Körper wusste es. Das Herz wusste es. Und wir wussten es, ohne dass wir es in Begriffe hätten fassen können. Und in diesem nichtbegrifflichen Wissen waren wir bewegt, und die Erinnerung rührt uns heute noch.

      Es ist auch erstaunlich, wie selten solche Erinnerungen bei manchen sind und wie viele von uns gar keine solchen Erinnerungen haben. Stattdessen gibt es oft Erinnerungen an Momente, in denen wir uns definitiv nicht wahr- oder angenommen fühlten, ja, manchmal sogar für das, was wir waren, gedemütigt oder lächerlich gemacht wurden.

      Der Sinn einer solchen Übung für Eltern ist natürlich die Einsicht, dass jeder Augenblick mit unseren Kindern eine Gelegenheit ist, sie zu sehen und anzunehmen, wie sie sind, und zwar in jedem Alter. Wenn solche Augenblicke, in denen wir gesehen wurden, für uns als Kinder so wichtig waren, dass wir sie nie vergessen haben (auch wenn sie vielleicht äußerst selten oder gar einmalig waren): Warum dann nicht bewusst achten auf die heilende Kraft einer stillen Präsenz, wie sie entsteht, wenn Sie wenigstens ab und zu Ihre Kinder jenseits dessen wahrnehmen, was Sie von ihnen erwarten? Jenseits aller Ängste, aller Urteile und auch aller Hoffnungen? Diese Momente mögen flüchtig sein, aber wenn wir sie annehmen und uns zu eigen machen, stillen sie den tiefsten Hunger, sind sie eine Infusion liebevoller Güte mitten ins Herz des Mitmenschen.

      Unser „Ansehen“ ist also für sich selbst etwas, was Aufmerksamkeit verdient, dessen wir gewahr sein und dessen Konsequenzen wir sehen, fühlen und kennen sollten. Denn nicht nur das Sehen ist wichtig, auch das Gegenteil, das Gesehen-Werden (dies zeigt sich in der Doppeldeutigkeit des deutschen Wortes „Ansehen“). Und wenn das für jeden von uns gilt, dann gilt es für alle.

      Sehen und Gesehen-Werden bilden einen geheimnisvollen Kreislauf der Gegenseitigkeit, eine Gegenseitigkeit der Präsenz, die Thich Nhat Hanh „Intersein“ (engl.: „interbeing“) nennt. Diese Präsenz trägt, ermutigt und gibt uns die Gewissheit, dass der Drang, zu sein, wie wir wirklich sind, und uns in unserer ganzen Fülle zu zeigen, ein gesunder Impuls ist. Denn das, was wir wirklich sind, wird gesehen, erkannt und akzeptiert, und wir werden in der Wesensautonomie, die unseren Kern ausmacht, angenommen.

      All das ist Teil der Wechselseitigkeit des Sehens, wenn es echtes Sehen ist. Wenn die Schleier unserer Ideen und Meinungen dünn genug sind, dass wir die Dinge sehen und erkennen können, wie sie sind, statt in Wunschvorstellungen über sie festzustecken, dann wird unser Blick wohltuend, still, friedvoll und heilsam. Und er wird von anderen sofort so empfunden. Er wird gefühlt, er wird erkannt


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