Mindful Leadership. Janice Marturano
Читать онлайн книгу.war, der das Training leiten würde, und dass er Mikrobiologe mit Doktortitel vom Massachusetts Institute of Technology war. Anhand dieser Tatsachen war ich mir recht sicher, dass diese Methode auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und nicht auf New-Age-Sprüchen und Klischees beruhen würde. Nach Rücksprache mit meiner Familie, die mich voll und ganz unterstützte, meldete ich mich an.
Es stellte sich als etwas völlig anderes heraus als alles, was ich jemals erlebt hatte, und ich zähle es noch immer zu den zehn schwierigsten Dingen, die ich je getan habe. Es begann damit, dass Jon uns, zu zwölft im Kreis sitzend, eröffnete, dass wir nun eine dreiviertel Stunde sitzen und meditieren würden. Ich erinnere mich noch, was mir in diesem Moment durch den Kopf ging: Hat er gerade gesagt, dass wir eine dreiviertel Stunde still sitzen?! Warum denn so lange? Ich werde diese Woche nicht meinen Geist trainieren, ich werde verrückt werden!
Interessanterweise habe ich auch eine lebhafte Erinnerung an den letzten Tag des Trainings, als ich mein kleines Meditationskissen in die Kiva5 trug, in der wir uns zur morgendlichen Praxis trafen, und dachte: Es wird nur eine Stunde dauern. Das ist nicht mal annähernd lang genug.
Zwischen diesen beiden kontrastreichen Momenten – sozusagen das Vorher-nachher-Bild meines ersten Ausflugs in die Achtsamkeit – erfuhr ich, wie es ist, den Geist im gegenwärtigen Augenblick sein zu lassen. Ich erfuhr, dass die meisten Menschen ihr ganzes Leben damit verbringen, sich abzulenken und so viel über die Vergangenheit und Zukunft nachzudenken, dass wir schließlich den jetzigen Moment verpassen, den einzigen, den wir zu leben und auf den wir Einfluss haben.
Nach all dem Multitasking und dem Versuch, die verschiedenen Anforderungen meines Lebens auszubalancieren, nach dem jahrelangen Dauerlauf und der immensen Intensität der letzten achtzehn Monate – jetzt anzuhalten und zu lernen, präsent zu sein, fühlte sich an, wie gegen eine Backsteinmauer zu prallen. Während dieser Tage der persönlichen Erkundung von Achtsamkeit begann ich langsam, meine angeborene geistige Fähigkeit zur Präsenz wieder zu entdecken. Und durch diese Entdeckung begann ich, mich wieder mit mir selbst zu verbinden, mit Geist, Körper und Herz. Langsam entstand in mir ein wenig geistige Widerstandsfähigkeit.
Als ich nach Hause kam, begrüßte mich mein Mann an der Tür und bemerkte sofort, dass sich etwas verändert hatte. Ich war offener, ausgeruhter und friedlicher als ich es seit Langem gewesen war. Ich machte mit meiner täglichen Meditationspraxis weiter und bemerkte, wenn ich während des Tages nicht achtsam war. Zum Beispiel ertappte ich mich dabei, wie ich über die morgige Besprechung nachdachte, anstatt derjenigen zu folgen, in der ich mich gerade befand, oder ich checkte meine E-Mails, während ich an meinem Schreibtisch zu Mittag aß, und stellte fest, dass ich keine Ahnung hatte, wie meine Suppe eigentlich schmeckte. Andererseits bemerkte ich gelegentlich auch, dass ich durch meine Praxis, etwas inneren Raum zu schaffen und bewusst eine andere Wahl zu treffen, meine typischen Reaktionen auf bestimmte Personen oder Situationen bremsen konnte. Es wurde zu einer faszinierenden Erkundung meiner eigenen Konditionierungen und der Möglichkeit, meine mentalen Fähigkeiten zu erweitern.
In diesen ersten Jahren meditierte ich gewissermaßen heimlich. Ich war ziemlich sicher, dass die meisten meiner Kollegen nicht verstehen würden, warum ich meditierte und dass ihnen die Vorstellung nicht gefallen würde, mitanzusehen, wie sich eine leitende Anwältin der Firma in einen dieser stereotypischen, lässigen, durch nichts aus der Ruhe zu bringenden Meditationsfreaks verwandelt. Anwälte müssen schließlich reizbar und durchsetzungskräftig sein. Das fehlende Wissen meiner Kollegen über Achtsamkeitspraxis könnte sie zu der Frage veranlassen, ob die Meditation nicht den Verlust meines Schwungs und Engagements nach sich ziehen würde.
Ich entwickelte indes meine tägliche Meditationspraxis weiter und wollte schon bald mehr darüber wissen. Ich meldete mich für ein Alumni-Retreat für die ehemaligen Teilnehmer von Jons Kurs „Die Kraft der Achtsamkeit“ an. Es wurde von Saki Santorelli geleitet, dem Geschäftsführer des Center for Mindfulness in Medicine, Health Care and Society an der University of Massachusetts Medical School.
Die Begegnung mit Saki war der Auftakt zu einem mehrjährigen gemeinsamen Weg, auf dem wir vielfältige enge Beziehungen zueinander knüpften. Er teilte mit mir seine Weisheit und Erfahrung in Bezug auf Achtsamkeit und half mir, meine Praxis deutlich zu vertiefen, und er lehrte mich die Kunst, Achtsamkeit zu lehren. Ich wurde Mitglied des Beirats des Center for Mindfulness, Direktorin für die dortige Leadership-Schulung und bot dem Center zur Unterstützung meine Fertigkeiten als ausgebildete Strategin an. Wir wurden Kollegen und Freunde. Zusammen entwickelten wir das erste Mindful-Leadership-Curriculum und leiteten fast fünf Jahre lang gemeinsam Mindful-Leadership-Retreats. Es war ein fruchtbares und reichhaltiges Übungsgelände für meine Praxis und für das, was schließlich eine wesentliche Veränderung in meinem Leben werden sollte.
Unterdessen bemerkte ich bei meiner Arbeit für General Mills, dass meine Achtsamkeitspraxis mich auch zu einer besseren Führungskraft machte. Gleichzeitig wurde mir die Belastung meiner Freunde, Kollegen und Bekannten aus anderen Bereichen immer deutlicher bewusst. Es war und ist noch immer unglaublich schwierig, mit Exzellenz zu führen. Diese Menschen arbeiteten sehr hart und waren erschöpft und auch frustriert, weil sie nicht über ausreichend Zeit und Raum verfügen, um die kreativen Lösungen, das Mentoring und das strategische Wissen einzubringen, die in ihren Möglichkeiten lagen.
Ich begann mich zu fragen, ob das Achtsamkeitstraining, das ich mitgemacht hatte, nicht auch dazu genutzt werden könnte, einige der angeborenen mentalen Fähigkeiten zu kultivieren, die in direktem Zusammenhang mit exzellentem Leadership stehen. Es hatte auf mein eigenes Leben eine Wirkung, die weit über Stressbewältigung hinausging. Es verwandelte meine Art, dem Chaos des Lebens zu begegnen, und diese Veränderung wurde langsam für mein Umfeld spürbar.
Eines späten Nachmittags saß ich an meinem Schreibtisch. Ich schaute auf meine Uhr und stellte fest, dass es an der Zeit war, nach Hause zu gehen. Ich bemerkte auch ein Gefühl der Zufriedenheit und Erfülltheit angesichts der getanen Arbeit. Fast augenblicklich erinnerte ich mich an Hunderte von Tagen, an denen das nicht der Fall gewesen war, an denen ich auf die Uhr schaute und schockiert war, dass es schon Zeit war, zu gehen, und mich fragte, wo der Tag nur geblieben war.
Dieser kurze Augenblick war ein Durchbruch. Er machte mir klar, wie sehr sich mein Leben durch das Achtsamkeitstraining änderte. Auch wenn ich noch immer weit davon entfernt bin, die ganze Zeit über achtsam zu sein – die Veränderung besteht darin, für meine Familie und meine Arbeit präsent zu sein, anstatt mein Leben zu verpassen.
Die Entdeckung mit meinen Kollegen teilen
Im Herbst 2005 ging ich mit einem Freund zu einer Sitzung der leitenden Angestellten zum Thema Innovation. Wir hatten einen ganzen Nachmittag frei gehalten, um darüber zu sprechen, was den kreativen Prozess behinderte und was ihn beförderte. Wir probierten alle möglichen Methoden aus, die das Auftauchen neuer, bahnbrechender Ideen in Aussicht stellten.
Wir saßen an kleinen Tischen und arbeiteten mit dem Seminarleiter daran, Hürden auf dem Weg zu mehr Innovation zu identifizieren. Nach vielen Stunden und wenig Fortschritt stand einer der Vizepräsidenten auf und sagte etwas frustriert klingend: „Also, es ist ja nicht so, dass wir keine großartigen Ideen haben. Wir haben kluge, kreative Leute. Aber wenn jemand seinem Team eine Idee vorstellt, dann passiert immer das Gleiche: Alle am Tisch stürzen sich auf einmal darauf, mit Kommentaren wie ‚Dafür haben wir kein Geld, die Geschäftsführung wird sich niemals darauf einlassen, so was Ähnliches gab es schon mal vor zehn Jahren, das wird zu lange dauern‘ und so weiter und so fort. Bevor die Idee überhaupt nur mal einen Atemzug lang existieren darf, um zu sehen, ob vielleicht etwas dran sein könnte, ist sie schon wieder vom Tisch.“ Die Gruppe konnte sich in seinen Worten gut wiederfinden.
In diesem Moment wusste ich, dass ich einen Weg finden musste, Achtsamkeitstraining in die Entwicklung von Führungsexzellenz zu integrieren. Was der Vizepräsident beschrieb, war die Art und Weise, wie der menschliche Geist sich selbst Geschichten erzählt, die uns dann schließlich einschränken, individuell und kollektiv. Die Herausforderung würde jetzt sein, ein Training zu entwickeln, das für eine eher konservative Firma mit bereits gut ausgebildeten Führungskräften akzeptabel wäre.
Um in kürzester Zeit den größtmöglichen Einfluss zu haben, würde