Die Shoah. Achim Bühl
Читать онлайн книгу.gezwungen waren. Am Abend zuvor hatte ich diesen gelben Lappen wie vorgeschrieben an der linken Brust in Herzhöhe fest an den Mantel genäht. Die jüdischen Wohlfahrtsämter hatten jedem Juden vier solcher Sterne gegen ein Entgelt abgeben müssen. (…) Wie auch andere Juden hatte ich gelegentlich sehr erfreuliche Erlebnisse. Ich erinnere mich, wie Unbekannte in der Untergrundbahn oder auf der Straße, meist im dichten Gewühl der Großstadt, ganz nahe an mich herantraten und mir etwas in die Manteltasche steckten, während sie in eine andere Richtung schauten. Manchmal war es ein Apfel, ein anderes Mal Fleischmarken, Dinge, die Juden offiziell nicht erhielten. Dennoch, der ›Judenstern‹ schuf eine diskriminierende Isolation. Ich hatte das Gefühl, eine Maske vor dem Gesicht zu tragen. Es gab Menschen, die mich mit Hass ansahen; es gab andere, deren Blicke Sympathie verrieten, und wieder andere schauten spontan weg.« (Deutschkron: o.J.: 85/87)
Am 18. Oktober untersagte ein Erlass Heinrich Himmlers (1900–1945) den Juden die Auswanderung mit Wirkung vom 23. Oktober. Zum Zeitpunkt des »Himmler-Erlasses« lebten noch ca. 150 000 Juden im sogenannten »Altreich«. Der Krieg mit der Sowjetunion führte zu einer neuerlichen Welle antijüdischer Verordnungen, die nahezu alle Lebensbereiche umfassten. Exemplarisch seien an dieser Stelle aufgeführt: »Juden sollen keine Seife und Rasierseife mehr erhalten (26.6.1941)«, »Juden dürfen allgemeine Leihbüchereien nicht benutzen (2.8.1941)«, »Juden dürfen keine Zeitungen und Zeitschriften mehr kaufen (17.2.1942)«, »Kennzeichnungszwang für Wohnungen jüdischer Familien durch den Judenstern (26.3.1942)«, »Juden erhalten keine Zigaretten oder Zigarren mehr (11.6.1942)«, »Juden müssen ihre elektrischen und optischen Geräte, Fahrräder, Schreibmaschinen und Schallplatten abliefern (12.6.1942)«, »Juden dürfen keine Bücher mehr kaufen (9.10.1942)«. Am 26. Juni 1942 schreibt Victor Klemperer (1881–1960) in sein Tagebuch:
»Bisher durften Juden im Arbeitseinsatz [gemeint sind die zur Zwangsarbeit verpflichteten Juden, d. Verf.] ihre Fahrräder behalten. Neueste Verordnung: Fahrräder sind nur zu behalten, wenn der Arbeiter einen längeren Weg als 7 km hat. Gleichzeitig: Wer noch die Tram benutzen darf (Arbeiter jenseits der 7 km-Grenze), darf nicht mehr Zwölferkarten oder Umsteigehefte lösen, sondern nur noch die teuren Einzelbillette.« (Klemperer 1995: 145)
Insgesamt erließ das Nazi-Regime ca. 2000 antijüdische Gesetze und Ergänzungsverordnungen. Die Flut der Erlasse endete mit der 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom Juli 1943, welche die Juden als Rechtlose dem direkten Zugriff der SS unterstellte.
1.3 Die Ermordung der Juden Deutschlands 1941–1945
Ende September 1941 stimmten sich die Nazis über die systematische Deportation der deutschen Juden ab, die im Oktober begann. Für viele Züge aus Deutschland war das Ghetto von Łódź anfänglich der Ort ihrer Ankunft, so auch für den ersten Deportationszug aus der deutschen Hauptstadt, der Berlin am 18. Oktober 1941 vom Bahnhof Grunewald verließ. Aus Berlin wurden über 50 000 deutsche Juden deportiert. Züge in Richtung Osten verließen die Hauptstadt auch vom Güterbahnhof Moabit sowie vom Anhalter Bahnhof. Zielorte waren anfangs u. a. die Ghettos von Riga, Kowno und Minsk im militärisch eroberten Teil der Sowjetunion. Anfang Dezember 1941 fanden in der litauischen Stadt Kowno (»Kaunas«), die am 24. Juni 1941 besetzt worden war, sowie in Riga, der am 1. Juli 1941 besetzten lettischen Hauptstadt, die ersten Massenmorde an deutschen Juden statt. In den Jahren 1942 und 1943 war der hauptsächliche Bestimmungsort für deutsche Juden das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Von den im »Altreich« lebenden deutschen Juden wurden 131 154 deportiert.
Im »Altreich« existierten im Unterschied zu den meisten anderen besetzten europäischen Ländern keine Ghettos. Der Krieg mit der Sowjetunion verschärfte die Lage der Juden indes auch bezüglich ihrer Wohnungssituation. Juden wurden gezwungen, ihre Wohnungen aufzugeben und unter beengten Verhältnissen in sogenannte »Judenhäuser« zu ziehen. Eine Maßnahme, welche die »Volksgemeinschaft« mit neuerlichem »Beutegut« versorgen sowie die Deportation unterstützen sollte. Der Kreis derjenigen Juden, die Zwangsarbeit leisten mussten, wurde ausgeweitet und führte zu Rückstellungen der fast ausnahmslos in Rüstungsbetrieben beschäftigten Juden, deren Hoffnung von der Deportation verschont zu bleiben sich als trügerisch erwies. Im Februar/März 1943 lebten noch 75 816 Juden im »Altreich«. Am 27. Februar 1943 umstellten Gestapo und SS-Einheiten über 100 kriegswichtige Betriebe, verhafteten die jüdischen Zwangsarbeiter und brachten sie zu Sammelstellen, von denen sie Anfang März 1943 in fünf Transporten nach Auschwitz deportiert wurden.
Von den ca. 500 000 deutschen Juden des Jahres 1933 wurden mindestens 165 000 Opfer des Vernichtungswahns des deutschen Nationalsozialismus, was einer Prozentzahl von 33 % entspricht, wobei es sich um eine statistische Untergrenze handelt. Wie auch bei anderen Ländern ist die Zahl nur annähernd zu bestimmen, da insbesondere viele deutsche Juden nicht von Deutschland aus deportiert wurden, sondern von denjenigen Ländern aus, in die sie 1933 geflohen waren, die aber im weiteren historischen Verlauf in den Machtbereich des deutschen Nationalsozialismus gerieten. Die nach Holland geflohene Familie Frank verdeutlicht die Problematik der Opferzählung. Zu den unmittelbaren Opfern zählen nicht nur die in Vernichtungslager Deportierten, sondern ebenso diejenigen, die während der Novemberpogrome ermordet wurden, in deutschen Konzentrationslagern auf deutschem Boden den Tod fanden oder wie Martha Liebermann (1857–1943), die Witwe des Malers Max Liebermann (1847–1935), Suizid begingen als sie ihren Aufruf zur Deportation erhielten. Zu den unmittelbaren Opfern zählen auch diejenigen Juden, die im Rahmen des sogenannten »Euthanasie-Programms« ermordet wurden. Präziser zu differenzieren wäre schließlich zwischen den deutschen Juden und den Juden Deutschlands, insofern sich zum Zeitpunkt der Deportationen auch fremdstaatliche Juden in Deutschland befanden. Die Dimension der Shoah stellt auch die Opferstatistik vor kaum zu bewältigende Aufgaben, sodass abweichend von der zuvor genannten Angabe auch Opferzahlen von knapp 200 000 Personen genannt werden. Im Rahmen einer Überblicksstudie wie hier kann darauf nicht näher eingegangen werden. Von den in Deutschland verbliebenen Juden überlebten 15 000 Juden in »Mischehen«, als sogenannte »U-Boote« im Untergrund wie der Berliner Fernsehmoderator Hans Rosenthal (1925–1987) oder weil sie von nicht immer uneigennützigen nichtjüdischen Deutschen versteckt wurden.
1.4 Die Ermordung der Juden Österreichs
Die Zerschlagung der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn führte im Jahr 1918 zur Bildung der eigenständigen Republik Österreich. Im Jahr 1937 belief sich die Bevölkerung auf 6 725 000 Einwohner. Zum Zeitpunkt des Einmarsches der deutschen Truppen im März 1938 lebten 206 000 Personen in Österreich, die auf Basis der »Nürnberger Gesetze« als Juden galten. Rechtlich gleichgestellt waren die Juden seit 1867. Das Zentrum der jüdischen Kultur bildete die Hauptstadt Wien, die nach 1918 hohe Zuwachsraten jüdischer Migranten zu verzeichnen hatte, die sich zumeist der deutschsprachigen Kultur verbunden fühlten und aus vormaligen Gebieten der Doppelmonarchie zuwanderten. Aufgrund blutiger Pogrome kamen bereits während des Ersten Weltkriegs zahlreiche galizische Flüchtlinge nach Wien. Der Antisemitismus war in Österreich spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahezu allgegenwärtig und fand seine Resonanz in den Wahlerfolgen der antisemitischen Christlichsozialen Partei, deren Führer Karl Lueger (1844–1910) Karriere als Bürgermeister Wiens machte. In den 1920ern gewannen in Österreich klerikal-faschistoide sowie nationalsozialistische Kräfte an Boden, für die Hitler bereits vor 1933 zum Idol avancierte. Am 13. März 1938 wurde der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich verkündet. Unmittelbar danach kam es zu antisemitischen Übergriffen österreichischer Nationalsozialisten, die Juden demütigten und diese zwangen öffentliche Gehwege und Plätze zu reinigen. In den ersten Wochen nach dem Anschluss Österreichs flohen Tausende Juden in die Schweiz sowie nach Italien.
Bereits wenige Tage nach der Proklamation des Anschlusses verschärfte sich der Terror. Büros der jüdischen Gemeinde sowie jüdischer Organisationen mussten schließen, zahlreiche jüdische Persönlichkeiten, Gemeindeführer und Aktivisten wurden verhaftet und in den Monaten April und Mai nach Dachau verschleppt. Die Gestapo plünderte jüdische Wohnungen und beschlagnahmte Kunst- und Wertgegenstände. Am 26. März 1938 folgte die Entlassung jüdischer Professoren und Lehrer. Noch im selben Monat wurden alle Juden aus der Armee entlassen. Die kollektive Beraubung