Im Westen geht die Sonne unter. Hansjörg Anderegg

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Im Westen geht die Sonne unter - Hansjörg Anderegg


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Browns Mundwinkel drohten aus dem Gesicht zu fallen, als er mit Grabesstimme fragte: »Scheiße, Bob, was erzählen wir dem Sicherheitsberater?«

      Bob zuckte die Achseln. Er war genauso ratlos wie alle andern. Nach einigem Zögern antwortete er schließlich: »Wenn wir die Möglichkeit nicht erwähnen, könnte uns die Wirklichkeit schneller einholen, als uns allen lieb ist.«

      »Scheiße«, wiederholte der Sitzungsleiter düster. »Michael wird an die Decke gehen.«

      Das ist allerdings das kleinste Problem, dachte Bob.

      Fort Meade, Maryland

      Der rote Nissan reihte sich in die Kolonne auf der rechten Fahrbahn des Baltimore-Washington Parkway ein. Vor der Ausfahrt mit der schlichten Bezeichnung ›NSA nur für Angestellte‹ hatte sich ein Stau gebildet.

      »Willkommen in Crypto City«, murmelte Alex, als sie der langen Autoschlange ins dichte Waldstück hinein folgte, hinter dem sich das Gelände ihres neuen Arbeitgebers verbarg. Fort Meade, der Sitz der Nationalen Sicherheitsbehörde, des weitaus größten und teuersten Geheimdienstes der Vereinigten Staaten. Eine Stadt für 40’000 Angestellte hinter elektrischen Sicherheitszäunen, elektronisch so vollkommen abgeschirmt, dass sogar das Navigationsgerät im Auto verrückt spielte, als sie sich ihr näherte. Nach dem jüngsten Ausbau war die Fläche der Bürogebäude auf beinahe die doppelte Größe des Pentagon angewachsen. Allein die Parkplätze würden für fünf komplette Baseballstadien ausreichen, hatte der Instruktor bei ihrem letzten Interview stolz versichert. Wie man auf große Zahlen stolz sein konnte, war ihr stets ein Rätsel. Baseball interessierte sie noch weniger. Sie hatte sich für diesen Job entschlossen, weil ihr die Arbeit als Korrespondentin des ›Wall Street Journal‹ in Peking zu eintönig wurde. Vielleicht wollte sie auch einfach wieder zurück nach Baltimore. Falsch, sie hatte einen besseren Grund: die NSA hatte sie angefragt. Diesem verschwiegensten aller Geheimdienste schickte man nicht einfach seine Bewerbung. Sie holten einen. Alex machte sich keine Illusionen. Die Scouts der NSA waren nicht durch ihre guten Abschlüsse und die paar Jahre Erfahrung als Ökonomin und Journalistin auf sie aufmerksam geworden. Hier in Fort Meade musste es von Akademikern mit weitaus spektakuläreren Qualifikationen wimmeln. Nein, sie stand jetzt am schwer bewachten Kontrollposten, weil sie fließend Mandarin sprach und chinesische Zeitungen las wie andere Leute die Sportnachrichten in der ›Baltimore Sun‹.

      Nervös wie das erste Mal steckte sie den provisorischen Badge in den Schlitz und gab ihren PIN-Code ein, scharf beobachtet vom SPO mit der Maschinenpistole. Es würde einige Zeit dauern, sich an all die dreistelligen Kürzel zu gewöhnen, mit denen man hier die Funktion der Angestellten bezeichnete. Die Security Protective Officers, die mit den Kanonen, waren einfach die ersten, die ihr von nun an jeden Morgen auf dem langen Weg ins Büro begegneten. Noch zweimal brauchte sie die Chipkarte, bis sie auf dem zugewiesenen Platz parken konnte. Sie achtete peinlich genau darauf, die richtige Nummer zu erwischen. Wahrscheinlich würde sonst sofort irgendein Alarm losgehen. Sie hatte keine Ahnung, wie genau sie beobachtet wurde, aber man konnte nicht vorsichtig genug sein. Jedenfalls am ersten Tag.

      Der Badge verschaffte ihr Zutritt zum ›Building‹, dem schwarz glänzenden Faraday-Käfig des Hauptquartiers. Das feine Kupfernetz in der Glasfassade sollte angeblich keine elektromagnetische Strahlung durchlassen. Kein Telefongespräch, kein Radiosignal, kein Funkverkehr, keine verräterische Strahlung eines Bildschirms drang nach draußen. Sie kam bis zur ersten Schranke, keinen Schritt weiter. Sie legte die Chipkarte auf den Tisch der Eingangskontrolle und sagte betont kühl:

      »Alex Oxley für Bob Wilson.«

      Die Angestellte verglich die Angaben auf dem Badge mit den Angaben auf ihrem Bildschirm, dann gab sie Alex die Karte zurück und nickte einer uniformierten und bewaffneten Kollegin zu, die neben ihr wartete.

      »Folgen Sie mir bitte«, forderte sie diese auf und ging voran in eine Kabine. Wie auf dem Flughafen, nur wesentlich gründlicher. An die Abtasterei musste sie sich wohl oder übel gewöhnen. Sie hatte schon erlebt, dass man sie innerhalb des Gebäudes erneut befummelte, beim Übergang von einer Sicherheitszone zur nächsten. Die Prozedur wickelte sich wortlos ab. Nachdem auch die tausend Kleinigkeiten ihrer Handtasche den Test bestanden hatten, verließen sie die Kabine. Die Frau führte sie zu den Aufzügen mit den Worten: »Folgen Sie mir bitte.«

      Beschränkter Wortschatz, aber der saß perfekt. Alex konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Mit der Zeit würde auch dieses Ritual lockerer ablaufen, hoffte sie. Nach einem weiteren Kontrollposten und zwei mit Chip und PIN gesicherten Schleusen betraten sie den Korridor auf der siebten Etage, der zu Bob Wilsons Büro führte. Seine Tür stand einen Spalt offen, zu schmal, um einfach einzutreten, zu breit, um nur draußen zu warten. Die Sicherheitsbeamtin trat zurück, stellte sich zwei Schritte hinter ihr auf und beobachtete sie schweigend. Auch aus dem Büro drang kein Ton. Unschlüssig zögerte Alex einen Augenblick, dann klopfte sie kräftig an die Tür und trat ein.

      Am Schreibtisch saß ein smarter, hochgewachsener Mann mit angegrautem Bürstenschnitt, vielleicht um die fünfzig. Den Telefonhörer am Ohr, starrte er auf seine leere Tischplatte und schien sie nicht zu bemerken. In dem Moment, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, fuhr er auf, dass der Sessel an die Wand prallte. Mit einem Fluch knallte er den Hörer auf die Gabel und schnaubte sie wütend an:

      »Verdammt noch mal, können Sie nicht anklopfen? Wer zum Teufel sind Sie?«

      Unfreundliche Begrüßungen war sie aus ihrem Journalistenleben gewohnt, aber dieser Freund übertraf sie alle. Nur nicht einschüchtern lassen, redete sie sich tapfer ein. Sie war schließlich kein frisch geschlüpftes Küken mehr. Mit flauem Gefühl im Magen versuchte sie es mit Humor:

      »Ich habe Ihnen fast die offene Tür eingetreten, Sir. Entschuldigen Sie. Alex Oxley, Sir. Wir haben einen Termin.« Sie trat mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.

      Er ergriff sie gedankenverloren. »Jetzt ist es also soweit«, brummte er undeutlich.

      Sie schaute ihn verwirrt an. »Bitte?«

      »Diese verdammten Chinesen.«

      Mit Mühe unterdrückte sie eine ironische Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag und wartete, bis er sie wieder wahrnahm.

      Plötzlich durchbohrte er sie mit Röntgenaugen. »Alex Oxley, sagen Sie«, murmelte er. »Ach so, ich erinnere mich. Die Chinesin.«

      Sie begriff nicht sofort. »Sir?«, fragte sie verblüfft.

      »Nennen Sie mich nicht Sir. Ich bin Bob.«

      »O. K., Sir – Bob.«

      Zum ersten Mal zeichnete sich so etwas wie ein Lächeln um seinen Mund ab. »Sie kommen keine Sekunde zu früh, Alex. Unsere chinesischen Freunde haben gerade die Grenzen dicht gemacht für sämtliche REE Exporte. Auf unbestimmte Zeit, und der Handel ist eingestellt.«

      »REE?«

      »Rare Earth Elements« – »Seltene Erden.«

      Sie verstand immer noch nichts, stand nur da und wartete auf weitere Erklärungen. Ihr neuer Boss dachte nicht daran.

      »Worauf warten Sie?«, fragte er nach einer Weile, nachdem er schon wieder zum Telefon gegriffen hatte. Er streckte die Hand aus, zeigte ungefähr in die Richtung, aus der sie gekommen war und ergänzte gehetzt: »Melden Sie sich beim SSO, 7120, Flur hinunter links.

      Du mich auch, dachte sie ernüchtert, als sie Bobs Büro verließ. Das war vielleicht ein Früchtchen. Führten sich hier alle so auf? Ihr erster Arbeitstag begann etwas anders, als sie sich ausgemalt hatte. Sie fragte sich, ob es ein gutes oder schlechtes Zeichen war, wenn Bob sie so rasch abfertigte. Sein Verhalten ließ keinen eindeutigen Schluss zu.

      Der ›Staff Security Officer‹ stellte sich als freundliche Frau heraus. Die erste Person, die sie an diesem Morgen begrüßte, wie das unter normalen Menschen üblich war.

      »Ich bin Vanessa, Vanessa Taylor«, sagte sie lächelnd, während sie sich die Hand gaben. »Willkommen bei den Freaks, Alex.«

      »Danke. Tut richtig gut, mit jemandem reden zu können.« Es war keine leere Floskel. Nach der verstörenden


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