Im Westen geht die Sonne unter. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.verzog die Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln. Ausgezeichnet, sie war im Geschäft.
Bob schüttelte ungläubig den Kopf und brummte: »Du willst mir allen Ernstes weismachen, dass diese Brits die Katastrophe kommen sahen?«
»Das glaube ich nicht, aber hätte ihr Modell damals schon existiert, hätte es auf einen Preissprung hingedeutet. Sie nennen das Regime-shift.«
»Und wenn schon«, entgegnete er ärgerlich. »Das hätten auch normale Marktturbulenzen sein können. Das Wundermodell hätte die Katastrophe auch nicht vorausgesehen.«
»Klar, aber darum geht es mir nicht. Ich will auf etwas anderes hinaus. Dieser Cole und seine Leute behaupten, die finanziellen Auswirkungen des Attentats im Voraus ziemlich genau berechnen zu können. Und das einzig und allein aufgrund öffentlich zugänglicher Daten. Da frage ich mich, was das Modell wohl leisten würde, wenn es unsere Daten zur Verfügung hätte. Gut möglich, dass wir damit den Urhebern des Anschlags doch noch auf die Schliche kommen.«
Er schaute sie nachdenklich an. Die Skepsis wich allmählich aus seinem Blick, machte einer Mischung aus Neugier und Jagdlust Platz. Ein sicheres Zeichen, dass er begann, einen Schlachtplan auszuhecken. »Mit Daten meinst du wohl SWIFT«, murmelte er.
»Unter anderen«, nickte sie. Praktisch alle Geldströme zwischen Banken und Firmen, sogar Einzelpersonen, liefen als Meldungen über das weltweite Netzwerk der ›Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication‹, SWIFT, mit Sitz in Belgien. Wollte man herausfinden, wann wer wem wie viel und wofür bezahlt hatte, gab es keine bessere Datenquelle.
»Wie kommen wir an die Archive?«
Sie lächelte, vielleicht ein wenig zu selbstzufrieden. Aber sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht. »Wir haben Glück«, sagte sie. »Mountain Pass fällt in die Zeit, als noch der ganze SWIFT-Verkehr auf unsere Server gespiegelt wurde. Wir haben alles in unseren Archiven, brauchen keinen Antrag zu stellen.«
»Zufälle gibt’s«, grinste er.
Bob wusste genauso gut wie sie, dass sie die SWIFT-Meldungen auch unter den neuen, strikteren europäischen Datenschutz-Bestimmungen erhalten hätten. Dauerte bloß etwas länger.
Das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. Er sagte entschlossen: »Wir haben die Daten, ich organisiere die Einsteins, du das Modell. Inkognito.«
»Funktioniert nicht, fürchte ich. Nichts gegen unsere Eierköpfe, aber wie ich es sehe, geht es bei diesem Modell um Spitzenforschung. Bis sich unsere Jungs eingearbeitet haben, verlieren wir wertvolle Zeit. Wäre es nicht viel einfacher, diesen Cole die Arbeit machen zu lassen? Wir haben noch genug damit zu tun, die Daten für sein Modell aufzubereiten.«
»Wie stellst du dir das vor? Wir geben keine Daten heraus, basta.« Leise fügte er hinzu: »Auch wenn sie uns nicht gehören.«
Das war das Hauptproblem. Sie überlegte schon die ganze Zeit, wie sie das Dilemma lösen könnten. Es half nichts. Die NSA musste in der einen oder anderen Richtung über ihren Schatten springen. Entweder gingen ihre Daten an die Forschergruppe in England, oder die englischen Forscher brachten ihr Modell und das nötige Wissen dazu nach Fort Meade. Eine vernünftige dritte Lösung sah sie nicht. Das sagte sie ihm auch.
»Unmöglich«, war Bobs erste Reaktion.
Sie hatte nichts anderes erwartet, schwieg jedoch. Sie musste ihm Zeit lassen, sich an den furchtbaren Gedanken zu gewöhnen. Er runzelte die Stirn, während er die zwei unmöglichen Varianten gegeneinander abwog. Plötzlich schüttelte er energisch den Kopf und wiederholte:
»Unmöglich, vergiss es. Wir machen es so, wie ich gesagt habe. Du beschaffst das Modell, den Rest erledigen wir hier.«
Sie antwortete nicht sofort, schaute ihn stattdessen an, als erwarte sie eine Erklärung.
»Gibt es ein Problem?«, fragte er gereizt.
»Nein – nein, ich werde es versuchen. Habe ich Clearance für England?«
Er nickte. »Sind ja nicht gerade unsere Erzfeinde«, knurrte er.
Das Modell beschaffen – sie fragte sich, wie um alles in der Welt sie das anstellen sollte, während sie die Unterlagen zusammenraffte und in ihr Büro zurückkehrte. Immerhin hatte sie die Erlaubnis, ohne nervenaufreibenden Papierkram nach Bristol zu reisen, sollte es nötig sein. Das war nicht selbstverständlich. Eines der ungelösten Rätsel von Fort Meade war die Sicherheitspolitik bei Auslandreisen. Sie hatte bis heute nicht verstanden, weshalb ein NSA-Angestellter nur mit schriftlicher Genehmigung nach Großbritannien oder Frankreich reisen durfte, aber problemlos jederzeit auf den Bahamas, dem Paradies für windige Firmen und Financiers, oder in der Drogenhölle von Mexiko Urlaub machen konnte. Ihr IQ reichte einfach nicht aus, die Logik der allmächtigen ›Clearance Division‹ M55 zu verstehen. Genauso wie sie das Modell des Ryan Cole nie begreifen würde.
»Du hast dich da in etwas hineingesteigert, Mädchen«, sagte sie zu sich selbst, als sie einigermaßen ratlos ihre leere Schreibtischplatte musterte. Im Augenblick wusste sie nur eines mit absoluter Sicherheit: Sie brauchte endlich ihren Koffein-Schub. Mit einem frischen Becher funktionierte ihr Gehirn normalerweise besser. So war es auch diesmal. Sie trank einen Schluck von der heißen Brühe, stellte den Pappbecher zur Seite, machte sich ein paar Notizen und griff zum Hörer des schwarzen Telefons. Sie schmunzelte beim Gedanken daran, was in den anderen Büros jedes Mal ablief, wenn jemand den schwarzen Hörer in die Hand nahm. Sofort verstummten alle noch so leisen Gespräche, bis der Hörer wieder sicher auf der Gabel lag. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr wählte sie die Kontaktnummer der Universität Bristol aus dem Artikel. Halb zwölf, halb sechs in England. Sie hoffte, der unbekannte Forscher wäre kein ›nine-to-five‹ Typ und noch nicht auf dem Heimweg.
»Dr. Ryan Cole bitte«, sagte sie erleichtert, als sich die Zentrale der Universität meldete.
»Wen darf ich melden?«
»Alex Oxley vom ›Wall Street Journal‹.« Ihre übliche Tarnung bei externen Kontakten. Sie hatte sich erstaunlich rasch ans Doppelleben gewöhnt. Es war ganz einfach. Sie kannte die Innereien des Blattes aus jahrelanger Erfahrung, wusste, wie sie sich als Journalistin zu verhalten hatte. Ihre schwarzen Anrufe konnten nicht zurückverfolgt werden. Auf ihren Visitenkarten stand die Nummer dieses Apparates. Falls jemand das Journal direkt anrief und sie verlangte, wurde der Anruf automatisch hierher umgeleitet.
Eine Männerstimme wie bittersüße Schokolade, die mit siebzig Prozent Kakao und einer Spur Chili, drang aus dem Hörer, in ihr Ohr, durch die Adern bis in die Zehenspitzen. »Hallo?«, sagte der Unbekannte.
Sie schluckte leer, hüstelte, bevor sie sich wieder gefasst hatte. »Dr. Ryan Cole?« Mein Gott, diese Stimme.
»Ryan Cole, ja. Mit wem habe ich das Vergnügen?«
Sie stellte sich gerne nochmals vor. Sie schob ihre Notizen beiseite, ohne sie auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen. Der Plan war jetzt ein anderer.
»Dr. Cole. Ich habe Ihren Artikel über Finanzblasen im ›Journal of Computational Finance‹ gelesen«, log sie. »Aufregend, Ihre Arbeit. Wir möchten im ›Journal‹ einen Bericht darüber veröffentlichen. Dazu bitte ich Sie um ein kurzes Interview. Das Ganze muss natürlich für den Laien verständlich dargestellt werden. Ohne Ihre Hilfe schaffen wir das nicht bei der komplexen Materie, fürchte ich.«
»O – K – schießen Sie los.«, antwortete die Schokolade gedehnt.
»Das geht schlecht am Telefon, meine ich. Ich bin sowieso in den nächsten Tagen in England. Wäre es möglich, dass wir uns an der Universität treffen?«
»Wenn das so ist. Ich bin montags bis freitags immer hier.«
Der Termin war schnell fixiert. Egal, was Bob oder ihr SSO oder M55 davon hielten, dieses Interview musste vor Ort durchgeführt werden. Eine solche Stimme musste sie auf jeden Fall sehen. Der Flug über den großen Teich gab ihr Gelegenheit, das verstaubte Kompendium über ›Corporate Finance‹ nochmals durchzublättern. Sie würde dann nicht gar so nackt vor dem Mann stehen. Obwohl – bei der Stimme?