Im Westen geht die Sonne unter. Hansjörg Anderegg

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Im Westen geht die Sonne unter - Hansjörg Anderegg


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was?«, fragte die Uniformierte befremdet.

      »Alles O. K.«

      Zum ersten Mal fiel ihr die Rückkehr nach Fort Meade nicht ganz so leicht wie sonst. Das beunruhigte sie, auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte. Die drei Tage Shopping und Theater in London, die sie an die Geschäftsreise angehängt hatte, genügten offenbar bei weitem nicht, sich diesen Ryan aus dem Kopf zu schlagen. Während ihres Interviews rückte das Thema zeitweise etwas in den Hintergrund. Das Begehren drohte sich vom Modell des Briten auf den Briten selbst zu verlagern. Ganz entgegen den klaren Regeln des Sicherheits-Handbuchs für NSA Angestellte. Was soll’s, sagte sie sich nicht zum ersten Mal, seit sie die Universität von Bristol verlassen hatte. Eine solche Beziehung hätte sowieso keine Chance.

      »Danke, Madam«, murmelte die Frau vom Sicherheitsdienst und schob den Inhalt ihrer Tasche über den Tisch. Einräumen durfte sie selbst. Die Prozedur beim Betreten des ›Building‹ gehörte auch zu den Rätseln, die Alex bis jetzt nicht verstand. Warum konnten die nicht einfach ein paar vernünftige Scanner installieren, die jedes elektronische Bauteil sofort orteten? Vor Elektronik in jeder Form fürchteten sie sich in Fort Meade wie der Papst vor den Frauen. Niemand führte ein Handy, eine Kamera, einen iPod oder Laptop mit sich, wenn er das Gebäude betrat oder verließ. Jeder wusste das. Die Angst vor miniaturisierten Megabytes war größer als die Abneigung gegen Schusswaffen und Klappmesser. Vielleicht müssten die Angestellten eines Tages ihr Hirn leeren vor dem ›COB‹, dem ›Close of Business‹, vulgo Feierabend. Soweit war es Gott sei Dank noch nicht. Weshalb aber beschäftigten sie Heerscharen Uniformierter, um nach Spiegeln, Taschentüchern und Nasensprays der Angestellten zu graben? Unangenehm für beide Seiten und irgendwie überflüssig, doch sie musste ja nicht alles verstehen. Sie stopfte ihre Habseligkeiten in die Tasche, nahm den Notizblock vom Tisch, den niemand beachtet hatte, und machte sich auf den hindernisreichen Weg in ihr privilegiertes Büro – ›f2b‹ zwanzig!

      Sie schaffte es, die Tür zu schließen, ohne dass Bob sie abfing. Sie fuhr den PC hoch, loggte sich ein und erledigte die Routinearbeiten ohne Begeisterung, dafür umso schneller. Dann kam die Stunde der Wahrheit. Sie rief das Formular für den Rapport ihrer Geschäftsreise auf. Mechanisch tippte sie die notwendigen Angaben wie Datum, Kontaktadresse, Zweck des Besuchs in die Felder des Deckblatts. Dazwischen schielte sie auf den Notizblock, als graute ihr vor seinem Inhalt. Das wichtigste Ziel der Reise hatte sie klar verfehlt. Ryans Modell lagerte noch immer unverstanden auf den Servern der Universität in Bristol. Schwierig, diese Tatsache so zu formulieren, dass ihr Boss die Reise als Erfolg verbuchte. Bobs Weltsicht in dieser Hinsicht war einfach: Ziel erreicht oder nicht, gut oder schlecht. Sie sah die Dinge differenzierter. Sie kannte Zwischentöne zwischen weiß und schwarz. Aus ihrer Sicht hatte sich die Reise gelohnt, und das nicht nur, weil sie nach langer Zeit wieder einmal die Luft von Oxford Street und West End geschnuppert hatte. Der Kontakt zum britischen Genie war hergestellt. Sie wusste nun, dass sein Modell höchst wahrscheinlich für die Suche nach den Hintermännern von Mountain Pass taugte. Sie hatte ihn neugierig gemacht. Mehr noch: er hatte Blut gerochen. Wenn sie nicht alles täuschte, war er bereits an der Erweiterung seines Modells, die sie so locker nebenbei besprochen hatten. Und all das, ohne ihre wahre Identität und Aufgabe preiszugeben. Je mehr sie darüber nachdachte, desto zufriedener fühlte sie sich. Auch Bob musste das mit der Zeit begreifen. Sie wusste jetzt, was sie schreiben wollte. Jedes Wort war wichtig, vor allem die Wörter, die man wegließ. Darin hatte sie Übung aus ihrer Zeit beim ›Journal‹.

      Ihr Bericht neigte sich dem Ende zu, als das schwarze Telefon klingelte. Sie zuckte zusammen. Ihr Herz pochte und das Blut schoss ihr in die Schläfen, als sie die Vorwahl des Anrufers sah: 44, Großbritannien. Die Journalistin nahm den Hörer und meldete sich wie üblich:

      »›Wall Street Journal‹, Alex Oxley.«

      »Alex, guten Morgen. Ryan Cole hier.«

      »Ryan, wie geht es Ihnen? Gut dass Sie anrufen. Ich wollte mich gerade bei Ihnen melden«, flunkerte sie, während sie versuchte, sich trotz der Stimme am andern Ende der Leitung zu beruhigen.

      »Trifft sich gut. Es gibt Neuigkeiten.«

      »Ich höre?«

      »Wollen Sie eine Wette mit mir abschließen?«

      »Ich verliere immer«, lachte sie.

      »Diesmal bestimmt, wenn Sie gegen mich wetten. Sie wissen, wir lassen das Modell jetzt dauernd den Markt beobachten. Seit heute Morgen erkennen wir einen neuen, völlig unerwarteten Trend im Commodity-Handel. Ich dachte, das würde Sie vielleicht interessieren für Ihren Artikel.«

      »Auf jeden Fall. Worum geht es denn?«

      »Lithium. Seit ein paar Tagen entwickelt sich der Preis genau nach dem Muster einer typischen Blase. Sie wird innerhalb eines Monats platzen. Dann fallen die Preise wieder auf das alte Niveau.«

      »Sie sagen ja doch die Zukunft voraus«, neckte sie. Dann fragte sie im Tonfall der routinierten Statistikerin: »Konfidenz?«

      »Achtzig Prozent.«

      »Immerhin. Das ist gut. Ich wette nicht, aber ich wünsche, dass Ihre Voraussage in Erfüllung geht. Wäre eine brillante Ergänzung für den Artikel.« Achtzig Prozent betrug die Wahrscheinlichkeit, dass die Lithium-Blase innerhalb eines Monats platzte. Erstaunlich, wie genau das Modell rechnete, wenn sich die Wirklichkeit an die Prognose hielt.

      »Wenn Sie wollen, sende ich Ihnen die Details an die Mailadresse auf Ihrer Karte. Ist das in Ordnung?«

      »Ja, natürlich, ausgezeichnet. Vielen Dank, Ryan.« Der Name schmolz auf ihrer Zunge fast wie die Schokolade in seiner Stimme.

      Bob streckte den Kopf zur Tür herein. Wie üblich ohne anzuklopfen. Sie hob nur den schwarzen Hörer in die Höhe, worauf er sich sofort wieder zurückzog. Schwarze Anrufe wirkten in diesem Haus besser als Besetztzeichen an der Tür.

      »Alex? Sind Sie noch da?«

      »Ja, sorry.«

      »Ich fragte, weshalb Sie mich sprechen wollten.«

      »Ach so, ja – klar.« Lass dir schnell etwas einfallen, Mädchen. Sie räusperte sich, während ihre Gedanken rasten. Der künstliche Husten half ihr, für eine Sekunde nicht an die sportliche Stimme zu denken. »Ich – wollte mich erkundigen, ob Sie nochmals über die Erweiterung nachgedacht haben.«

      »Die SWIFT-Sache meinen Sie?«

      »Ja.«

      »Die dürfte ziemlich trivial sein. Wir brauchen nur ein Stück Software, das die Meldungen analysiert und die benötigten Felder für unsern Input Feed aufbereitet. Ein Kinderspiel für einen SWIFT-Spezialisten. Die Auswertungsmodule sind bereits so konzipiert, dass sie alle Resultate bis zu den Quellen aufschlüsseln können. ›Backtracking‹ nennen wir das.«

      »Das ist – gut.« Eine intelligentere Antwort fiel ihr nicht sofort ein. Heute war ihr Glückstag. Bob würde begeistert sein. Vielleicht auch nicht. Das Modell war immerhin noch nicht im Haus.

      »O. K., ich muss wieder. Hat mich gefreut, mit Ihnen zu sprechen, Alex.«

      »Mich – auch. Bitte die Mail nicht vergessen.«

      »Alles klar. Bis zum nächsten Mal.«

      Gar nichts war klar. Was bildete dieser Ryan sich ein, sie derart zu verwirren? Warum tauchten plötzlich die verträumten Augen seiner Verlobten hinter ihrem Monitor auf? Das blonde Gift sagte kein Wort, aber sie wusste genau, was die Frau sagen wollte. Und sie hatte wahrscheinlich recht.

      »Schlag dir diesen Kerl aus dem Kopf«, schnauzte sie das Phantom an.

      »Was soll ich?« Bob trat ein. Er schien nur gewartet zu haben, bis sie den Hörer auflegte.

      »Komm doch herein«, lächelte Alex säuerlich.

      »Lass die Scherze. Wo ist das Modell?«

      »Das ist eine längere Geschichte. Der Bericht ist fast fertig. Wenn du mir noch zehn Minuten …«

      »Wäre ich dann in deinem lausigen Büro?


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