Andershimmel. Blickle Peter
Читать онлайн книгу.Etwas verdienen. Auch das gehörte zu diesem Dorf. Wenn der Vater ihm etwas gab, das er verdient hatte, staunte Johannes, weil dann die Zähne im Vatergesicht groß wurden. Es sah aus, als hätte er die Zähne eines anderen Wesens im Gesicht.
Miriam sagte: »Was spüren Tiere, wenn sie geschlagen werden? Hast du dich das schon mal gefragt?«
Schläge waren gängige Währung im Dorf. Bei Kindern und Vieh. Alles, was von GOtt, dem VAter, den Menschen anbefohlen worden war. In GOttes unergründlichem Ratschluss lag es. So wollte es GOtt. So wollte es GOttes Wort. So wollten es die Gemeindeältesten. So wollten es die Eltern. Schläge bedeuteten Ordnung. Schläge zählten. Schläge halfen der Seele. Wer geschlagen wurde, erfuhr SEine Güte und Barmherzigkeit. In Liebe.
Denn also hatte GOtt die Welt geliebt, dass er SEinen eingeborenen SOhn gab, dass ER Mensch werde und als Mensch leide. Auch GOtt ließ sich als SEin eingeborener Sohn, der ER auch war, schlagen. Er ließ sich Nägel durch Hände und Füße schlagen. ER ließ sich anspucken. ER ließ sich erlösen.
Und der HErr sah, dass es gut war.
Mit Mann und Ross und Wagen, hat sie der HErr geschlagen.
Johannes holte Luft, bevor es anfing. Er hielt die Luft an. Er machte sich klein. Er atmete aus, wenn es vorbei war. Im Ausatmen ließ er alles aus sich heraus. Auch das, was sich in seinem Körper angestaut hatte. Im Ausatmen trennte er sich von dem, was geschehen war. Es war gar nicht ihm geschehen. Es war jemand anderem geschehen. Es war vorbei. Gelobt sei, was hart macht. Ein Indianer kannte keinen Schmerz. Johannes war stärker als das, was da mit ihm geschah.
»Wer den Stock schont, schadet dem Kind«, hieß es im Dorf.
Manche Eltern mussten vom Pfarrer und von den Ältesten getröstet werden, wenn der HErr ihnen die Prüfung auferlegte, dass sie ihre Kinder lieben sollten. »Es ist nicht immer einfach, IHm gehorsam zu sein.«
SEine Güte und Barmherzigkeit währten ewiglich. Das durfte man nicht vergessen. Es ging um das ewige Leben.
Johannes und Miriam blickten durchs Dachfenster. Draußen war der Himmel. Draußen war es Nacht. Draußen hörten sie den Wind, der sich mit den Pappeln auf dem Nachbargrundstück beschäftigte.
Miriam sagte: »Dass der Grenzstein auch gerade an der Stelle stehen musste.«
Johannes sagte: »Genau. Der hätte auch ein paar hinter die Löffel verdient.«
Miriam lachte.
Johannes lachte. Er wusste, er würde eines Tages aus dem Dorf gehen. Weggehen. Verschwinden. Nach Amerika würde er gehen. Amerika war das Land, das schlug und nicht geschlagen wurde. Wer in Amerika war, wurde nicht geschlagen. Nicht vom Vater. Nicht von GOtt. Nicht von den Ältesten.
13
Sie sagte: »Soll er doch toben, der Alte.«
Nur das Atmen war noch da – und die Wärme der Bettdecke. »Willst du dich noch ein bisschen zu mir legen?«, fragte sie Johannes. Er legte sich neben sie. Er betrachtete die Tränen in ihren Augenwinkeln. Sie zog die Decke weit über sich und über ihn. Da waren sie allein.
»Pubertär.« Das war ein Vaterwort. Wenn der Vater »pubertär« sagte, war es ihm wohl, denn er meinte, wenn er ein Wort gefunden hatte, dann hätte er ein Verstehen gefunden, und das Verstehen war ihm ein Werkzeug des Trostes. Des Selbsttrostes. Im Verstehen fand der Vater seinen Atem. Im Verstehen fand der Vater die Ordnung der Welt. Der Vater meinte es gut, wenn er etwas verstanden hatte. Alles gehörte in SEine Ordnung, gelobet sei der HErr. So verstand der Vater die Welt. Alles war größer als man selbst. Alles lag in SEiner Hand. So hoch der Himmel über der Erde, so hoch sind MEine Gedanken über euren Gedanken. Alles lag in SEiner Hand, in der man sich geborgen fühlen durfte. Geboren und geborgen. Ich steh in meines HErren Hand und will drin stehen bleiben.
Miriam legte Brahms in den Kassettenrekorder. Phantasien. Die Haare fielen ihr über die Schultern. Johannes schaute den Bewegungen ihres Halses zu. Der atmete. Es waren Mächte in ihm. Die Macht des Schluckens. Die Macht des Atmens. Die Macht des Sprechens. Die Macht des Singens. Miriams Atmen kam Mächtigem nahe. Er liebte sie. Er liebte ihren Hals. Er liebte ihr Atmen. Er liebte ihren Kampf gegen den Schmerz ihres Körpers. Er war bei ihr. Weit weg von allem.
Sie war stark, wenn es ihr kalt war.
Sie sagte: »Unser Alter hat doch keine Ahnung. Der lebt in einer Welt von vor zweihundert Jahren.«
Die Haare schwebten wie ein dünner Vorhang um ihren Hals. Der heilige Mund und die Töne, die ihr gehörten. Im Bett waren sie weit weg von allem und allen.
Sie waren Fremde – im Dorf und in der Welt. Sie waren Fremde voreinander und miteinander. Sie hießen Schneewittchen. Sie hießen Reh. Sie hießen Kuss. Sie hießen Kussi. Sie hießen Sternenhimmel. Sie richteten sich ein in ihrem Fremdsein. Gemeinsam. Miteinander.
Miriam roch nach Baby-Crème. Es war ein Geruch der Unschuld. Sie will zu mir, dachte er. Sein Herz zitterte. Das Dorf lag hinter ihnen. Es lag vor ihnen. Es lag neben ihnen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Johannes.
»Klar. Bei mir ist immer alles in Ordnung«, sagte Miriam und lachte.
Das Leben lag vor ihnen. Sie waren ruhig. Alles Atmen ging auf in ihnen. Sie lachten miteinander. Sie drehten den Kopf zur Seite und blickten einander in die Augen.
14
Sprach der Vater mit GOtt, dann sprach er in der Sprache eines Mannes, der einen Mann liebte. GOtt war seine erste Liebe. Die Sprache der Liebe kam, wenn er mit seinem GEliebten redete, von tief in ihm. Sie berührte erst spät die Kehle. Es war seine Seelenstimme. Der Vater liebte IHn über alles. Seine erste Liebe war ein Gehorchen. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als MIch, der ist MEiner nicht wert; und wer Sohn und Tochter mehr liebt als MIch, der ist MEiner nicht wert. Das war das erste Gesetz der Liebe. Ihr Vater wäre fähig gewesen, sie, wenn der HErr es von ihm verlangt hätte, auf einen Altar zu binden und ihnen mit einem Schwert den Kopf abzuschlagen. GOtt konnte so etwas verlangen. Und bei ihnen im Dorf gab es nirgends einen Widder, der plötzlich durchs Gesträuch gebrochen wäre und sie im letzten Augenblick gerettet hätte.
GOtt lebte in der Liebe. ER lebte in jedem Menschen. ER lebte in ihnen. GOtt war Mensch. Und Menschen, auch sie, Johannes und Miriam, waren ein Teil GOttes, ein Teil der lebendigen Liebe GOttes. ER war in ihnen. ER war sie. ER sagte: »Komm mit.« Sie schauten den Wolken zu, die übers Moor hereinzogen. GOtt sprach zu ihnen durch Menschenmund. Gefiel IHm etwas nicht, sprach ER zu ihnen durch Menschenmund. Dann redeten die Menschenmünder vom ALlmächtigen, vom EWigen, vom ZEbaoth und vom VAter. Dabei wurden die Münder spitz, die Worte kamen aus der Seele, die Stimmen wurden heilig. Dann sagten die Ältestenmünder durch ihre grauen Bärte, Bruder Lauer, Bruder Dorner, Bruder Maiwald, Bruder Nagel, was IHm nicht gefiel. Frösche quälen, einer Fliege die Flügel ausreißen, am Sonntag Fußball spielen. »Betet, dass ihr es nicht mehr tut. Bittet IHn innständig um SEine Vergebung.«
Johannes schaute den Spitzmäulern zu. Miriam schloss die Augen und hörte.
»Ihr Knechte, seid untertan mit aller Furcht den Herren, nicht allein den gütigen und gelinden, sondern auch den wunderlichen«, sagte das Spitzmaul Maiwald. Bruder Maiwald mochte es nicht, wenn man ihm, wenn er redete, aufs Maul schaute. Man sollte die Augen gesenkt halten, wenn das Spitzmaul Maiwald mit einem sprach. Eine Colaflasche aus der Bäckerei gestohlen. Die alte Bäckerin hatte es gesehen. Miriam konnte die Augen schließen und den Kopf senken. Sie hatte vor der Bäckerei gewartet.
Wenn sie die Colaflasche wenigstens hätten trinken können.
Haribo macht Kinder froh. Und Erwachsene ebenso.
»Bereut ihr aufrichtig?«
Sie nickten.
Die Seele war Teil vom IHm. Sie war hell und durchsichtig. Sie war ein weißer Nebel, der brennen konnte, ohne sich zu verzehren, der brennen konnte, ohne