Andershimmel. Blickle Peter

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Andershimmel - Blickle Peter


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er nicht. Es war zu spät. Die Augenblicke waren vorbei. Im Atmen. Im Schlafen. Ein und aus. Immer wieder. Ineinander. Miteinander. Durcheinander. Sie und er. Im Dorf. In diesem Dorf, das eine Sekte war.

       17

      Beim Beten war es, als stülpte sich etwas in ihnen um. Es waren Stimmen in ihrem Inneren. Die Stimmen sagten: »Ich gehöre ganz DIr; danke, dass DU mich willst, danke, dass DU mich annimmst, danke, dass DU mir gibst, was ich brauche.« Es waren ihre eigenen Stimmen, die sie umstülpten. Sie gehörten ihnen, und sie gehörten IHm. Von innen heraus.

      Die Stimme des Vaters sprach beim Beten in einem Rhythmus. Wie dieser Rhythmus sich ergab, war die natürlichste Sache der Welt. Es war die Stimme, die sich mit IHm verband. Sie atmete einen Rhythmus, sie atmete ein Ja. »Führe mich, o HErr, und leite meinen Gang nach DEinem Wort.«

      Tief fühlten sich die Stimmen im Gebet miteinander verbunden. Es waren ihre Worte, und es waren SEine Worte. In der Gemeinde. Im Gottesdienst. ER hielt sie in SEinen Händen. ER bewegte sie. ER führte sie. ER sprach. Durch sie. ER ließ sie einander fühlen. Sie waren SEine Stimmen. Sie waren SEine Sprecher. Sie waren SEine Jünger. ER lehrte sie, damit sie sich IHm öffneten und IHn willkommen hießen, damit sie SEinen HEiligen GEist, SEine Worte, SEine Gebote empfingen. Sie waren bei IHm. Sie waren in IHm. Sie waren mit IHm. ER schenkte SIch ihnen; und sie schenkten sich IHm. ER sah sie, wie sie waren. ER sah alles, was sie waren. ER blickte ihnen ins Herz. ER sah, was sie fühlten. ER sah ihre Lauterkeit. ER sah ihre Demut. ER sah ihre Treue. Und von dort her, wo ER sie sah und aufnahm, kamen ihre Stimmen. »Sei bei uns, lieber VAter im Himmel, führe uns in DEinem Geiste.« »Habe Dank, lieber VAter, dass DU uns wieder behütet hast. Habe Dank für unsere Gesundheit und für DEine Bewahrung in Anfechtung und Gefahr.« Manchmal sprachen die Stimmen Bitten aus. »Behüte uns.« »Sei bei uns.« »Und sei auch bei der Tante Mechthilde, die heute im Krankenhaus operiert wird. Und denke auch an den Pfarrer, wenn er morgen von der Kur heimkommt und gleich wieder predigen muss. Führe DU ihn.«

      Nach dem Amen blickten die Augen überrascht auf. Nach dem Amen nahm man einander wieder wahr. Die Stimmen wurden strenger, wurden tiefer, wurden härter. Sie wurden die Stimmen, die wieder strafen konnten – in SEinem Namen, in SEiner Liebe, in SEiner Barmherzigkeit.

      Dabei verhielt es sich seltsam mit der Sünde im Dorf. Sie war allgegenwärtig. Alle waren arme Sünder. Wer das nicht erkennen wollte, war verstockt und stand nicht im Glauben. Denn ER hatte SEinen eingeborenen Sohn dahingegeben, auf dass alle, die an IHn glaubten, nicht verloren würden, sondern das ewige Leben hätten. Wer die eigene Sünde nicht sah, konnte unmöglich IHn anerkannt haben und konnte unmöglich ins ewige Leben gelangen.

      Alle waren sündig. Alles war sündig – der Körper, die Gedanken, die Augen, das Fleisch. »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.«

      Sünde löste ein komisches Gefühl im Magen aus – wenn man wieder einmal gestohlen hatte: einen Zeringenast aus einem Garten an der Straße für Rahel, Gebäck aus dem Keller der Mutter, Haribocolaflaschen aus dem Glasbehälter neben der Kasse der Bäckerei.

      Rahel, die Abiturientin mit den roten Haaren, sagte auf dem Jägerstand: »Man darf alles, nur nicht sich erwischen lassen.« Dann zog sie an der Zigarette und blies ihm eine Wolke ins Gesicht.

      Sie schworen einander, sie würden eines Tages Blue Jeans anziehen, Mendocino, West Virginia’s Country Roads, the City of New Orleans, Denver, Rocky Mountain High und California Dreaming sehen. Sie würden singen: »I sing it in the morning, all over this land.« Und sie würden sich der Grenzenlosigkeit dieses anderen Landes voller Hingabe öffnen.

       18

      Der Gehorsam in der Gemeinde wuchs im Körper. Körper und Gehorsam wuchsen gemeinsam. Sie wuchsen in Haut und Blut, in Fleisch und Haar. Sie wuchsen in Schmerz und Hoffnung.

      Wer nicht hören wollte, musste fühlen. Das war der Hauptsatz der Liebe in der Gemeinde. Miriam musste weniger fühlen als Johannes. Auch Rahel, die Tochter des Zahnarztes, durfte immer wieder fühlen. Sie rauchte mit Johannes auf dem Jägerstand, und als ihr Vater es erfuhr, durfte sie fühlen. Sie durfte den Hauptsatz der Liebe hinter der Tür des Vaters fühlen, die der Vater geschlossen hatte, damit er ihr hinter der Tür den Satz besser in den Körper lieben konnte. Mit den Instrumenten der Liebe, die seine Hände waren. In manchen Häusern gab es auch andere Instrumente der Liebe. Manche waren aus Leder. Manche waren aus Gummi. So konnte der Hauptsatz der Liebe voll Freud und Wonne in der Liebe des HErrn wachsen. Wer die Gesetze des HErrn missachtete, dem wurde liebend geholfen, damit er diese Gesetze das nächste Mal besser verstand. Immerhin war das ewige Leben in Gefahr. Da musste geholfen werden. Da musste gehorcht werden. Da mussten die Gesetze der Liebe mitgeteilt werden.

      Johannes und Rahel. Sie gingen zusammen in den Wald und in die Räuberhöhle. Rahel sagte: »Das machen wir. Und wenn mein Alter durchdreht, dann dreht er eben durch.«

      »Hure Babylon«, brüllte ihr Alter und schritt zur Ausführung der Liebe. Er sagte: »Das tut mir auch weh, aber es muss sein.« »So lügt das sadistische Arschloch auch noch sich selbst an«, sagte Rahel, als sie aus dem Fenster gestiegen war. »Er meint wirklich, GOtt verlange es von ihm.«

      Der Zahnarzt Maiwald war ein frommer Mann. Die Liebe zur Familie und zur Gemeinde verlangte von ihm, dass seine Tochter verstand. Niemand war allein auf der Welt. Jeder musste gehorchen. IHm gehorchen. Und der Zahnarzt Maiwald tröstete sich für die ihm auferlegte Prüfung mit dem Satz aus Psalm dreiundzwanzig: »Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn DU bist bei mir; DEin Stecken und Stab trösten mich.«

      Die Tochter verstand den Vatertrost, den er sich selbst spendete. »Sein Stecken und Stab trösten ihn.« Und sie lachte und blies Johannes eine Wolke ins Gesicht.

      Der Zahnarzt Maiwald wusste nur zu gut, dass Kinder von Natur aus wild waren. Wenn man es zuließ, dann stachen und schlugen sie, dann zerstörten sie aus Freude am Zerstören. Man musste sie lieben, damit sie sich im Leben zurechtfinden konnten. Man tat Kindern keinen Gefallen, wenn man sie machen ließ. Je früher man mit der Liebe anfing, desto besser war es für sie. Kinder wurden in den Stubenwagen gebunden, damit sie ihren Mittagsschlaf machten und nicht aufstanden.

      Schon die Säuglinge des Dorfes lernten, dass die Welt sich nicht um sie drehte. Sie lernten, sich einzuordnen. Sie lernten, sich unterzuordnen. Unter die Liebe GOttes, der in SEiner Güte die Welt geschaffen hatte. Nachts brauchte der Mann des Hauses seine Ruhe. Es war die Aufgabe der Ehefrau und Mutter, ihm diese Ruhe zu gewähren. So stand es im Buch der richtigen Erziehung.

       Ausnahmen von der Regel der nächtlichen Trinkverweigerung würde der Pfarrer zulassen, wenn nicht die Mütter so sehr in dem Ruf der Schwäche stünden und der Pfarrer fürchten müsste, dass bei solchem Zugeständnis jede Mutter ihr Kind als eine Ausnahme betrachtete. Wir können nicht zweifeln, dass auch diese Seite der Religion dem Menschenkind zu seiner eigenen Veredlung und zur Erfüllung seiner Bestimmung unter den Menschen helfen wird.

      So geschah die nächtliche Trinkverweigerung in diesem Dorf um der unerschöpflichen Liebe GOttes willen.

      Über jeder Liebe lag ein Schmerz. SEin Schmerz. Da waren Tränen. SEine Leiden am Kreuz. So wie ER SEinen eingeborenen Sohn gab. Rahel ließ sich von der Hand, die sie geliebt hatte, wieder über den Kopf streichlen. Und dann kam die Mutter ins Zimmer: »Komm, beten wir zusammen.« Sie betete für die Tochter, dass sie so etwas nicht noch einmal machte. Und dann kam die Mutterliebe: »Gell, jetzt geht’s uns schon wieder besser.«

      Das Wunder war, dass zu dieser Zeit, als Johannes von nichts und von niemandem berührt werden wollte, Rahel und er Hand in Hand zur Räuberhöhle gingen.

      Sie hatte sich die Haare streng nach hinten gekämmt und zu einem Haarknoten zusammengesteckt. Auf dem Jägerstand löste sie die Haare und ließ sie sich um den Nacken fallen. Rahel. Die Zahnarzttochter. Die Lippen. Die Fingernägel. Die Handbewegung, mit der sie sich die Haare hinters Ohr strich. So einfach. Und sie blickte ihn an dabei. Sie vertraute ihm. Unter dem Segen ihrer Haare.


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