Herbarium, giftgrün. Gert Ueding
Читать онлайн книгу.und der Ausdruck des Ernstes nur auf das Stichwort dafür wartete. Kersting saß neben dem Dekan der philosophischen Fakultät, auf eigenen Wunsch. Philosophie war sein Hauptfach gewesen, und wenn die Malerei ihm jetzt noch Zeit ließ, griff er am liebsten zu Montaignes Essays oder den kleinen Schriften Schopenhauers, auch lagen Lichtenbergs Aphorismen und die »Fröhliche Wissenschaft« oft in Reichweite auf dem Regal neben den Schachteln mit Pinseln, Farben, Firnissprays oder Strukturpasten. »Ein miserabler Redner und durchschnittlicher Präsident«, flüsterte ihm sein rechter Nachbar nach der drögen Rede des Rektors zu. Er kannte ihn noch aus seiner Studienzeit und erinnerte sich nach kurzem Überlegen auch wieder an den Namen: Müller-Riedel, Germanistikprofessor kurz vor der Emeritierung, eine Koryphäe der Hölderlin-Philologie und exzellenter Rezitator, noch voller Spannkraft und Bosheit. Man erzählte sich wilde Geschichten von seiner Trinkfestigkeit, Nase und Haut zeugten davon, doch die Augen blickten klar, ein wenig listig sogar in die Welt.
»Durchschnittlich?« fragte Kersting, »als Präsident meinen Sie? Er hat doch die Universität in die Exzellenz-Förderung gebracht, viel Geld eingesammelt. Die Zeitungen waren voll des Lobes.«
»Nachdem er das erste Mal alles vermasselt hatte.« Müller-Riedel hüstelte mehrmals trocken, eine Angewohnheit, die, wie sich Kersting erinnerte, seine Vorlesungen zur Qual machten, weil er fast jede Satzpause damit füllte. »Der erste Antrag vor vier Jahren war voll von Fehlern und Versäumnissen gewesen, ein schlampiger Witz. Den Posten hat er bloß bekommen, weil es an Gegenkandidaten fehlte. Gelegenheit macht Verhältnisse, wie sie Diebe macht. Wer will schon seine Wissenschaft für einen reinen Verwaltungsjob aufgeben – es sei denn, er machte auch vorher schon nichts anderes. Man braucht nur zu sehen, was er aus den Institutionen macht, die sich nicht auf ›exzellent‹ reimen: abwickeln ist da die bürokratische Losung – wie beim Universitätszeichenlehrer.«
Kersting dachte sich sein Teil, wusste schließlich, dass auch für den boshaften Müller-Riedel, der da neben ihm saß, als Dekan und damit als Vorsitzender einer großen Fakultät keine bedeutenden wissenschaftlichen Sprünge mehr möglich waren. Er sah sich in dem kleinen Festsaal der Museumsgesellschaft um, der im ersten Stock über dem Restaurant lag.
In dem schmucklosen Raum war eine ganze Anzahl runder Tische verteilt, die meisten voll besetzt, man hatte offensichtlich darauf geachtet, dass an jedem Tisch mindestens ein Professor, eine Professorin Platz nahm. Das Stimmengewirr schwoll mal hier mal da an, je nach Alkoholkonsum.
Kersting kannte kaum jemanden. Die meisten waren im vorgeschrittenen Alter, viele begleitet von ihren professionell geschminkten oder, im krassen Gegenteil, naturbelassenen Ehefrauen. Nur wenige in seinem Alter. Ein paar Tische weiter erkannte er den Besitzer eines Textilunternehmens, das seinen Erfolg vor allem luftigen Dessous und exquisiter Nachtwäsche verdankte. Wenn man nicht genau hinsah, hätte man ihn, wie auch Kersting selber, für einen frisch examinierten Uniabsolventen halten können. Beide etwa gleichaltrig, noch ohne die hier übliche Geselligkeitsroutine. Ihre Blicke trafen sich, sie nickten sich verständnisinnig zu. Kersting strich sich eine Locke seines kastanienbraunen Haares aus der Stirn.
Auch von den Repräsentanten der Universität waren ihm wenige Gesichter vertraut: der Kanzler, der Prorektor noch. Sonst auffallend viele junge Leute, deren Aussehen auch an einem Bank- oder Postschalter nicht fremd gewirkt hätte. Eine rundliche junge Frau sonnte sich in der Aufmerksamkeit ihres graumelierten Gegenüber. Ziemlich weit entfernt sah er einen zwar weißhaarigen, aber den ausdruckslos glatten Gesichtszügen nach, noch jungen Mann. Ein Professor namens Knaipp, wie er sich jetzt erinnerte. Sogenannter Kommunikationswissenschaftler und Sprecher des Rektors. Seine Affären waren Stadtgespräch. Einen sonnigen Intriganten, hatte ein Kollege ihn öffentlich genannt.
Kersting ärgerte sich jetzt doch, die Einladung angenommen zu haben. Überall im Saal beherrschte gepflegt-langweilige Plauderei die Atmosphäre, überall freundliche, doch nichtssagende Gesichter. Er hätte Besseres zu tun gehabt. An einem der näher gelegenen Tische begann immerhin ein lebhafteres Gespräch die Stimmung etwas zu heben. Er hörte Satzfetzen, von einem Artikel im ›Tagblatt‹ war die Rede, vom Versagen der Polizei. Worum es genau ging, bekam er nicht mit.
Bevor der Hauptgang kam, Tafelspitz mit Meerrettich und reicher Gemüsebeilage, erkundigte sich Kersting bei seinem Tischnachbarn nach einigen seiner früheren Professoren, die er aus den Augen verloren hatte, erhielt aber nur zerstreute Antwort. Der Grund zeigte sich bald. Müller-Riedel begann in seiner Sakkotasche zu kramen und zog einen kleinen quadratischen Zettel hervor, schob ihn zu seinem Nachbarn hinüber. »Können Sie sich einen Reim draus machen?«
Auf dem kleinen Papier standen, etwas schräg aufeinander zulaufend, drei Zeilen, per Hand mit dem Kugelschreiber geschrieben und gut lesbar: »Denk an unser herbarium sidereum oder die andere schreit und lärmt in allen Gassen. Wie immer F20« –
Die lateinische Wendung (übersetzt: ›das himmlische Kräuterbuch‹) kam Kersting von fernher nicht unbekannt vor, doch wusste er nicht, wo er sie einordnen sollte.
»Ich müsste darüber nachdenken, aber wo haben Sie das her?«
Doch bevor Müller-Riedel antworten konnte, wurden von hinten die gefüllten Teller auf den Tisch gestellt, der Präsident wünschte an seinem Platz stehend, mit erhobenem Glas, guten Appetit. Kersting wollte den Zettel zurückreichen, aber Müller-Riedel winkte ab: »Behalten Sie ihn und rufen Sie mich an, wenn Sie eine Idee haben.«
Die kleine Pause vor dem Nachtisch kam dann gerade recht, um die Frage nach der Herkunft der Notiz zu wiederholen.
»Erinnern Sie sich an die Uni-Tragödie, den Kriminalfall, vor einem halben Jahr? Die tote Studentin, die man im Seminarraum der Kommunikationswissenschaftler fand, an einem Montag, noch vor Veranstaltungsbeginn des Sommersemesters, im April?«
Max Kersting erinnerte sich natürlich. In der noch immer pietistisch geprägten Bevölkerung der Universitätsstadt hatte der Fall große Aufmerksamkeit erregt, zumal einige Indizien darauf hindeuteten, dass die junge Frau vor ihrem Tode nicht allein gewesen war. Auch munkelte man, dass Rauschgift eine Rolle gespielt hatte, obwohl niemand wusste oder wissen wollte, dass sie Rauschgift nahm. Auch sollte sie ihr Studium nicht mehr sehr ernst genommen haben, was man einem unbekannten Freund angelastet hatte. Mehr war Kersting von der Sache nicht in Erinnerung geblieben, er hatte sie nicht weiterverfolgt, zumal die Polizei Fremdverschulden schließlich ausgeschlossen hatte.
»Der Zettel stammt von ihr«, fuhr Müller-Riedel fort. »Die Polizei hat ihn bei ihr gefunden und nach der Untersuchung mit einigen aus der Bibliothek stammenden Büchern und sonstigen Seminarmaterialien zurückgegeben. Er lag in einer Mappe mit Photokopien zu einem Referat, das sie vorbereitete. Das Thema hieß ›Der Ursprung der Faust-Sage‹ und hat mit den Zeilen hier aber offenbar nichts zu tun. Mir hat die Botschaft, denn das ist es ja wohl, trotzdem keine Ruhe gelassen. Ich glaube auch, dass sich die Schlussbemerkung auf ein geplantes Treffen bezieht. Vielleicht auf das, was sie dann nicht überlebt hat.«
»Sie meinen die Schlussbemerkung ›wie immer F20‹?«
»Ja. Klingt wie eine Verabredung: ›Wie immer Freitag‹, also vielleicht der Tat-Tag, und die Uhrzeit, 20 Uhr. Man sollte doch wissen, was das Übrige heißen soll.«
»Könnte natürlich auch ein Seminarraum gemeint sein …«
»Unwahrscheinlich, gibt’s zumindest in unserm Haus nicht. Ist mir auch sonst nicht begegnet. Aber sei’s drum, wichtig wär auch das. Doch sicher ein Hinweis auf den Freund, mit dem sie in den letzten Wochen zusammen war, den auch ihre Freundinnen nicht kennen und möglicherweise der letzte, der sie lebend gesehen hat.«
Darüber sollte man nachdenken, war auch Kerstings Meinung. Auf Geheimnisse war er schon immer angesprungen. Innerlich belustigt dachte er an manchen Titel seiner Kinderlektüre. Er versprach, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, bat um einen Stift, um sich die Sätze von dem Zettel abzuschreiben.
»Behalten Sie ihn ruhig erst mal. Vermisst ja niemand.«
Müller-Riedel lehnte sich zurück, zufrieden, etwas zur Aufklärung des Rätsels getan zu haben, das ihn so sehr beschäftigte – kaum ein Kollege, den er damit verschont hätte. Kersting steckte das Papier in seine