Herbarium, giftgrün. Gert Ueding

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Herbarium, giftgrün - Gert Ueding


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      Die Rückfahrt von Fellbach war nicht weniger mühsam, immerhin lagen die Keilrahmen im Auto, er konnte weiterarbeiten. Die Unterbrechung mit den Gesprächen im Geschäft und der üblichen Fachsimpelei hatten ihn wieder in die Wirklichkeit geholt. Als er sich Unterjesingen und seinem Atelier, ganz am Ende einer Wohnstraße näherte, freute er sich nur auf ein Glas Rotwein. Er rangierte auf seinen Parkplatz vor dem Haus, erleichtert, zuhause zu sein. Er stieg aus und merkte erst jetzt, da die Autoscheinwerfer ausgeschaltet waren, dass mit der Straßenlaterne vor dem Haus etwas nicht stimmte, genauer: sie leuchtete nicht, flackerte nicht einmal, so dass es ihm nicht leichtfallen würde, die Rahmen so aus dem Kofferraum zu ziehen, dass sie nicht beschädigt wurden. Ob er die Innenbeleuchtung noch mal einschalten sollte? Er kam nicht dazu. Hörte hinter sich Geräusche, schnelle Schritte, drehte sich um, sah schattenhaft zwei kräftige Gestalten auf sich zukommen.

      »Raus mit dem Papier!«

      »Was …«

      »Komm schon, raus damit!«

      Mehr Worte machten sie nicht. Der eine hielt ihn fest, der andere versuchte, in seine Jacke zu fassen. Kersting wehrte sich jetzt so gut er konnte, trat mit den Füßen, bekam einen Arm frei. Das nützte wenig, ein Faustschlag in die Nieren tat höllisch weh, er krümmte sich, ein Schlag traf seinen Kopf, ein Knie rammte gegen seine Nase, noch ein Schlag, er lag auf dem Boden, benommen und hilflos. Später wunderte er sich, dass er nicht um Hilfe geschrien hatte, aber alles war sehr schnell gegangen. Nicht ohne einigen Lärm allerdings, in dem etwas entfernt stehenden Nachbarhaus ging die Außenbeleuchtung an.

       2 Der Fall entwickelt sich

      »Los, weg, ich hab’s,« hörte er etwas verschwommen einen der beiden Angreifer sagen, dann war der böse Spuk vorbei. Er rappelte sich auf, schnappte nach Luft, atmete hastig und schwer und brauchte eine Weile, bevor er wieder aufrecht stehen konnte. Das Licht nebenan war jetzt ausgegangen. Er verzichtete für heute darauf, seine Einkäufe aus dem Kofferraum zu holen, schloss den Wagen ab und verzog sich etwas mühsam ins Haus.

      Max Kersting bewohnte es alleine. Er hatte es auf Erbpacht von der Gemeinde erworben, als nach den beiden Ausstellungen in Stuttgart und Baden-Baden die Sammler auf ihn aufmerksam geworden waren. Der Verkaufserfolg hatte ihm etwas Geld eingebracht. Ursprünglich besaß es nur ein Stockwerk, das spitze Dach hatte er zu einem hellen Atelier mit Schlafraum und kleinem Badezimmer ausgebaut.

      In dem Spiegel im Bad gab er jetzt kein besonders schönes Bild ab: auf der hohen Stirn sah er einen langen, zum Glück flachen Riss, der aber blutete, als habe ein Ring ihn aufgeschlitzt, das ganze Gesicht war blutverschmiert, die Unterlippe aufgerissen, der Unterleib schmerzte. Er säuberte sich vorsichtig, ging dann ins Atelier, wo die Cognacflasche stand, ein kräftiger Schluck, der zwar an der Lippe schmerzte, aber doch guttat, dann verzog er sich in seinen Lesesessel und überdachte das Geschehen.

      Klar war, dass die beiden Schläger es auf Müller-Riedels oder vielmehr Verenas Zettel abgesehen hatten. Was sollte er jetzt tun? Die Polizei rufen? Zeugen gab es keine, und selbst wenn der Nachbar durchs Fenster gelinst hatte, bevor er das Licht anschaltete, hatte er nicht mehr als flüchtige Schatten sehen können. Er selber konnte keinen von beiden beschreiben, sie hatten etwa seine Größe, um die einsachtzig herum, glaubte er; es waren trainierte Halunken gewesen, besonders der eine, der ihm zielsicher seine Hiebe verpasst hatte. Das war alles, damit konnte man keine Suchmeldung losschicken. Und schließlich: der Zettel war zwar weg, aber die paar Worte konnte er auswendig.

      Warum also, fragte er sich ziemlich ratlos, haben die Angreifer dieses Risiko auf sich genommen? Der Abend hatte gerade erst angefangen, und auch wenn er am Ende der Straße wohnte, ohne Gegenüber, hätte doch leicht ein anderer auch unterwegs sein können, den Hund ausführen oder einfach zwischen den Weinbergen spazieren. Sie mussten überdies damit rechnen, dass er sich den Inhalt des Zettels gemerkt hatte. Also kam es darauf wohl nicht an. Vielleicht weil es ihr Zettel, also der Zettel mit Verenas Handschrift, gewesen war, und dieser Zusammenhang sich jetzt nicht mehr beweisen ließ. Da hätten sie beide, Müller-Riedel und er, noch so viel bezeugen können.

      Aber wie konnten sie wissen, dass er das Stück Papier eingesteckt hatte? Müller-Riedel hatte die Übergabe bei Tisch im oberen Saal des Museums nicht besonders heimlich vollzogen, sie beide hatten dabei unbefangen über die Bedeutung gerätselt. Kein Zweifel: jemand, der in den Fall auf irgendeine Weise verwickelt war und nicht weit weg gesessen hatte, musste das mitbekommen und seine Maßnahmen getroffen haben.

      Eines hatten die ungebetenen Besucher aber nicht bedacht: War er vor der Attacke noch nicht sehr engagiert an des Rätsels Lösung interessiert gewesen, so wollte er es jetzt unbedingt und so schnell wie möglich aufklären.

      Bloß nicht gleich. Er fühlte sich ganz zerschlagen (kein Wunder), und seine Grübelei machte ihn auch nicht munterer. Also verschob er alles weitere auf den folgenden Tag, kletterte ohne Verzug ins Bett und war im Nu eingeschlafen.

      Als Kersting nach neun Stunden aufwachte, fühlte er sich elend. Der Riss auf der Stirn war nur noch eine rote Ritze und blutete nicht mehr. Aber die verletzte Lippe war angeschwollen, sein Bauch schmerzte, Kopfschmerzen kamen hinzu, kaum dass er aufgestanden war. Er saß in der Essecke seiner großen Küche, die zusammen mit Flur und einem kleinen Gästezimmer das Erdgeschoss einnahm. Der Kaffeeduft erfüllte den Raum. Vorsichtig wegen des harten Porzellanrandes, dann aber fast gierig trank er die erste Tasse.

      Was tun? fragte er sich, als er sehr vorsichtig vom morgendlichen Toastbrot einen Bissen zwischen die verletzten Lippen schob. Zur Polizei wollte er immer noch nicht, aber die beiden Ganoven hätte er zu gerne identifiziert. Das präsidentielle Mittagessen erschien ihm als die einzige Möglichkeit, einen Faden in die Hand zu bekommen, der ihn am Ende zu den Schlägertypen führen konnte.

      Müller-Riedel fiel aus, es sei denn, er hatte jemandem von ihrem Gespräch erzählt. Dasselbe galt wohl für Frau Jansen und die anderen Gäste am Tisch. Der Assistent oder wer immer da auf der anderen Seite seines Nachbarn gesessen hatte, schien ihm die vielversprechendste Adresse: er hatte sicher das meiste vom Gespräch mitbekommen, kam vom Alter her infrage und hatte, falls er zum germanistischen Kollegium gehörte, vielleicht sogar die Tote gekannt.

      Ein paar Klicks im PC brachten Kersting auf die Seite mit dem Programm der germanistischen Veranstaltungen des letzten Semesters. Ein Seminar mit dem Thema »Para-Feminismus im Mittelalter« fiel ihm auf. Der Dozent: ein Mann namens Gregor Sautter. Das Photo auf der Seite des Instituts bestätigte seinen Verdacht. Das schmale Gesicht, die dunklen Haare und seine selbst im Bild noch auffordernd blickenden Augen: das war der Mann, der den Kriminalfall als Medienspektakel verharmlost hatte. Vielleicht ein Ansatzpunkt.

      Also fuhr Kersting die paar Kilometer nach Tübingen, stellte das Auto ins Parkhaus nahe der Bibliothek. Im Seminargebäude studierte er als erstes die zum Teil recht wirr bestückten Aushängetafeln im Erdgeschoss, auf denen alle Lehrenden der hier untergebrachten Fächer mit der Angabe ihrer Diensträume verzeichnet waren. Mit der nötigen Information fuhr er in dem engen und recht betagten Aufzug ruckelnd in den 3. Stock, fand nach kurzem Suchen das Zimmer, an dem zwei Namen standen, darunter der gesuchte, und klopfte. Trotz Semesterferien hatte er Glück und konnte nach Zuruf eintreten.

      Hinter dem Schreibtisch erhob sich ein mittelgroßer junger Mann, das blonde Haar kunstvoll verstrubbelt, darunter ein rundes Gesicht mit üppigem Schnauzbart, der wohl das bubihafte Aussehen kaschieren sollte, es im Gegenteil aber betonte. Die sehr hellen grauen, aber kalt blickenden Augen passten nicht dazu. Das ist der Falsche, war auf Anhieb Kerstings Eindruck. Er stellte sich vor, der Schreibtischbewohner begrüßte ihn freundlich, nannte seinen Namen: Franz Buch; er hatte ihn draußen an der Tür schon gelesen. Er erinnerte sich auch, im germanistischen Programm seinen Namen vor dem Seminarthema »Walther von der Vogelweide in der Übertragung Peter Rühmkorfs« gefunden zu haben.

      »Ich habe gehofft, Herrn Dr. Sautter anzutreffen …«

      »Da sind Sie im falschen Zimmer gelandet … Ja, ich weiß: ich muss das Namensschild an meiner Tür ändern. Aber mein Kollege ist sowieso gerade heute nach Berlin abgereist, um an einem Kongress teilnehmen zu können.


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