Grobe Nähte. Johannes Schweikle

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Grobe Nähte - Johannes Schweikle


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      Victor stammt aus Afrika. In München wird er für seine Tore in der Champions League gefeiert. Benedikt spielt Tuba in einer HipHop-Band. Er hofft, irgendwann von der Musik leben zu können. Korbinian lebt mit seiner Patchworkfamilie in einem multikulturellen Viertel. Als Journalist schreibt er für eine bessere Welt.

      Packend und provokant beschreibt Johannes Schweikle die Zerreißprobe der sogenannten Flüchtlingskrise und wirft Schlaglichter auf die Widersprüche einer Gesellschaft. Ein Roman über die fragile Befindlichkeit einer Stadt von Welt.

      Johannes Schweikle, 1960 in Freudenstadt geboren, schrieb in München für die Süddeutsche Zeitung. Heute arbeitet er als freier Autor u. a. für Die Zeit und FAZ, Geo und Brand eins. Seine Erzählungen und Romane, allesamt bei Klöpfer & Meyer erschienen, spannen den Bogen von der Gegenwart zu historischen Stoffen. Zuletzt erschien 2017 die Romanbiografie Die abenteuerliche Fahrt des Herrn von Drais. In der hoch gelobten, mehrauflagigen literarischen Reisereportage Westwegs (2012) erkundet der Autor zu Fuß das Zentralmassiv deutschen Gefühls: den Schwarzwald. »Er macht sich einen Begriff von Heimat, der ohne die Piefigkeit vergangener Tage auskommt«, so die Süddeutsche Zeitung.

      Johannes Schweikle

       Grobe Nähte

      Roman einer deutschen Stadt

      1. Auflage

      in der Edition Klöpfer

      Stuttgart, Kröner 2021

      ISBN DRUCK: 978-3-520-75401-1

      ISBN EBOOK: 978-3-520-75491-2

      Umschlaggestaltung: Denis Krnjaić

      unter Verwendung eines Motivs von Anna Pruski und Kristina Hilles

      Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

      Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

      © 2021 Alfred Kröner Verlag Stuttgart · Alle Rechte vorbehalten

      E-Book-Konvertierung: Zeilenwert GmbH Rudolstadt

      In diesem Buch treten fiktive Figuren auf. Sie stellen Widersprüche dar und sollten deshalb weder von links denunziert noch von rechts vereinnahmt werden.

       Besser ein Anzug nach Maß

       als eine Gesinnung von der Stange.

      KURT TUCHOLSKY

      IN DIESEM LICHT SEHEN WIR DIE STADT AM LIEBSTEN. Die Sonne spiegelt sich in unserem Stadion. Das passt – hier stehen nicht die üblichen Tribünen um einen Sportplatz. Wir haben ein Dach gebaut, das mehr bietet als bloßen Wetterschutz. Durchsichtig schwebt es über den Rängen. So viel Leichtigkeit hat uns kaum jemand zugetraut. Aber dann kam die Welt zu Gast und hat sich überzeugt, dass wir die Hauptstadt des Südens sind – ja, Deutschland kann heiter sein.

      Wir mögen auch die kleinen Wolken. Hoch oben ziehen sie über unsre olympische Inszenierung hinweg und werfen keine Schatten auf ihre transparente Eleganz. Mit ihnen wird der bayrische Himmel nicht langweilig. Sie strahlen weiß, haben verspielte, trotzdem klare Ränder und verschmieren nicht das frische Blau, in dem sogar die breiten Straßen freundlich wirken. Keiner kann sagen, ob diese groben Nähte die guten Viertel unsrer Stadt mit den anderen verbinden. Oder ob es Trennlinien sind.

      Jedenfalls bekommt an diesem Samstag im Sommer sogar das arme Ende der Schleißheimer Straße etwas ab vom großen Glanz. Wo sie am Stadion vorbei pfeilgrad ins Zentrum führt, leuchtet ein runder Schein über den Autos. Er bewegt sich langsam. Schwebt über den Mittleren Ring, strahlt zwischen Pizza Rapido und dem Pflegedienst Sonnenschein. Erhellt kurz das Felgenparadies, streift das Fitnessstudio Body Street, dann das Café Back Power. Vor dem Bio-Solarium sagt ein Kind: Guck mal, Mama, da fährt der Mond!

      Der Mann unter dem Mond sitzt auf einem Fahrrad. Mit einem roten Bonanzarad fährt er aufrecht durch leichten Wind, der die Hitze fröhlich macht. Übermütig drückt er auf den Gummiball der Hupe am Lenker. Sein eigentliches Instrument hat er auf den Rücken geschnallt. Der glänzende Schallbecher des Sousaphons ragt über seinen Kopf, er ist größer als die Räder mit den Weißwandreifen und kreisrund nach vorn gerichtet. Dieser goldene Trichter hüpft, als es über die Schienen der Straßenbahn geht. Er schwankt, als der Radfahrer einem Fußgänger ausweichen muss, der sein Telefon nicht aus den Augen lassen kann. Knapp schrammt er an der Zamperl-Wirtschaft vorbei, das ist ein Laden für Hundefutter. Zwei Blocks weiter kommt ein Geschäft für Katzenbedarf, es heißt Raubtiersalon. Hier beginnt Schwabing.

      Benedikt schwitzt. Am Siegestor hadert er: Bis hierher hätten wir gemeinsam fahren können. Hätten unterwegs gehalten und ein Eis gegessen. Aber sie meint, sie muss die U-Bahn nehmen. Damit sie ihrem Ausbeuter frisch geduscht zur Verfügung steht. Dabei hat sie eine Reservebluse eingepackt, sogar die Strumpfhose könnte sie wechseln, hat brav Ersatz dabei. Und ich bin schon vor dem ersten Ton wie aus dem Wasser gezogen. Kein Wunder, mit zwölf Kilo im Kreuz.

      Der Wind bläst von vorn in den großen Trichter. Benedikt spürt einen Zug am Schulterriemen und stellt sich die verkehrte Welt in seinem Instrument vor. Normalerweise, denkt er, fließt der Atem aus meinen Lungen, geht durch das Mundstück, die Rohre und Ventile, dann kommt ein Ton aus dem Schallbecher. Aber jetzt strömt die Luft genau andersrum, und die Sousi bleibt stumm – ich kann mehr als der Wind! Die Theatinerkirche ragt in den Himmel wie vom Zuckerbäcker modelliert. Marzipan auf einer Hochzeitstorte, Ananas oder Aprikose, was darf ’s sein? Am Hofgarten rollt der Radfahrer wieder mit sich ins Reine. Ist froh, dass er die Oper links liegen lassen kann. Denkt an den Kollegen, der sich dort die Stelle des Tubisten erspielt hat. Sieht die Schaufenster der Residenzstraße und höhnt: Kauf dich glücklich! Für eine IWC reicht’s nicht, schon bei Prada für die Gattin wird’s eng.

      Locker fährt er am bayrischen König vorbei, der auf seinem Denkmal sitzt wie der Kaiser von Rom. Irgendetwas ist verkehrt, an der Maximilianstraße stoppt ihn eine Kelle.

      Wo müssen wir so dringend hin? fragt der Polizist.

      Der Radfahrer mit dem Sousaphon ist so perplex, dass ihm die Wahrheit rausrutscht: Zum Guerilla-Gig.

      Hinterher fragt sich Benedikt: Ist Guerilla für die bayrische Polizei noch immer ein Reizwort? Oder weiß der Depp nicht, was ein Gig ist? Auf jeden Fall muss er seinen Strafzettel zahlen und wird belehrend auf das Schild am Max-Joseph-Platz hingewiesen:

       Radfahren auf der abgesenkten Verkehrsfläche nur im Schritttempo erlaubt

      Familie Moser hat kein Problem mit erhöhter Geschwindigkeit. Mitten in der Stadt ist sie im Aufbruch begriffen, und der gestaltet sich zäh. Das neue Cargobike, das Eva Moser nach längerem Abwägen und Vergleichen ausgesucht hat, verfügt über zwei gepolsterte Kindersitze. Diese befinden sich in einer Art Kiste, die zwischen den beiden Vorderrädern montiert und marineblau lackiert ist. Es dauert, bis Maja sicher angeschnallt sitzt. Lennart findet es unter der Würde eines Schulkinds, neben seiner kleinen Schwester auf die gleiche Weise festgezurrt zu werden. Also tritt er gegen die Kühlbox mit dem Picknick, die vor seinen Füßen in der Kiste steht, und mault: Will selber Rad fahren.

      Mein Großer, du weißt doch: Wir müssen über die schlimme Straße, wo alle Autos höllisch rasen.

      Lennart: Dann will ich wenigstens mein Kickboard!

      Seine Schwester stimmt ein, gekonnt weinerlich: Laufrad haben!

      Die Mutter gibt diese Anweisungen weiter an ihren Mann: Mosi, holst du’s bitte? Beides müsste unter der Treppe zur Galerie stehen.

      Unwillig unterbricht Dr. Korbinian Moser die Inspektion


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