Grobe Nähte. Johannes Schweikle

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Grobe Nähte - Johannes Schweikle


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zwischen den Toren herum.

      Was macht der Mann? fragte Victor. Das ist der Platzwart, sagte Hermann, er mäht den Rasen. Im nächsten Dorf lachte Victor wieder. Er zeigte auf den Kirchturm und sagte: Sieht aus wie eine Zwiebel! – Ja mei, sagte Hermann, so gfallt’s uns halt in Bayern. Dann fragte er vorsichtig: Bist du Moslem? Er schaute in Victors dunkle Augen und konnte seinen Blick nicht deuten – war er finster? Hatte er etwas Falsches gefragt? Victor nestelte die goldene Halskette aus seinem T-Shirt, an der ein Kreuz hing, und sagte ernst: In Nigeria haben wir vor jedem Spiel gebetet. Wenn wir am Sonntag gekickt haben, durften wir nicht nur auf den Ball schauen. Die Frauen gingen quer über den Platz zur Kirche. Die rote Erde war staubig, vor der Regenzeit bekam der Boden Risse. Und die Frauen in Afrika sind anders als die in Deutschland. Am Sonntag ziehen sie bunte Kleider an. Solche Farben gibt’s gar nicht in deinem Land – hier ist alles ernst. In Afrika gehen sie mit prächtigen Röcken zur Kirche, stolz und langsam. Wenn eine kam, mussten wir das Spiel auf den anderen Flügel verlagern, damit ihr Kleid nicht schmutzig wurde. Das hätte großen Ärger gegeben.

      Hermann war erleichtert. Der Neue war kein Moslem, sondern Christ, und nicht bigott. Das Leben wurde kompliziert, wenn er bei jedem zweiten Satz überlegen musste, welche fremden Gefühle zu berücksichtigen waren, ob er jemand auf die Zehen trat. Erleichtert sagte er: Gott sei Dank, mit dem gräuslichen Boko Haram hast du nix am Hut! Victor verstand das bayrische Adjektiv nicht, aber rasch erfasste er, dass sie einen gemeinsamen Feind hatten, und sagte grimmig: Ich weiß nicht, welches Verbrechen schlimmer ist: Was die Terroristen mit unseren Mädchen machen. Oder die Feigheit unserer Regierung. Im ganzen Land siehst du Soldaten. Sie lungern herum und kassieren Wegzoll, wenn du irgendwohin willst. Haben aber nicht die Eier, um gegen ein paar Terroristen zu kämpfen. Die Generäle stehen mit ihren Orden herum wie Gockel. Wenn der Präsident die Parade abschreitet, denkt er nicht an sein Land. Sondern an seinen Clan – ob vielleicht irgendwo noch einer die Hand aufhalten kann. In Europa habt ihr falsche Vorstellungen. Nigeria will eine Nation sein, so wie Deutschland oder England. Aber das funktioniert nicht. Fußball ist das Einzige, was unser Land zusammenhält. Wenn die Super Eagles beim Afrika-Cup spielen, stehen die Moslems im Norden genauso hinter der Mannschaft wie die Christen im Süden. Wenn wir gegen die Löwen von Marokko gewinnen, gibt’s alles umsonst: Bier und Pfeffersuppe, und die Frauen auch.

      Das Ziel der Fahrt lag kurz vor der Grenze. Der Dorfbrunnen war mit Blumenkübeln geschmückt. Hermann zeigte quer über den Rathausplatz und spottete: Da hinten liegt Österreich. Sogar dort gibt’s gute Straßen.

      Das Geschäft, in dem sie erwartet und überschwänglich begrüßt wurden, war eine Boutique. Die Einrichtung wagte einen Balanceakt: Einerseits erzählte sie von Tradition. Zwischen den Regalen hingen Geweihe von Gams und Hirsch, hinten ging’s zur Werkstatt. Andererseits durfte diese Inszenierung nicht provinziell aussehen, kein Münchner sollte sich hier fremdschämen müssen. Deshalb waren die Hocker mit Kuhfell bezogen, und auf dem Schild über der Tür zur Werkstatt stand Manufaktur. Die junge Verkäuferin trug Dirndl und musste keine Freundlichkeit heucheln, als sie bei Victor das Maßband anlegte, Bund und Schrittlänge. Dieser Kunde hatte schwarze Haut, aber das machte nichts, denn er strotzte vor Saft und Kraft und lachte strahlend. Zudem war er prominent.

      Die Lederhose für den Afrikaner war an den Nähten mit hellen Paspeln verziert. Handgestickte Ornamente schmückten das Hosentürl und lenkten den Blick auf die männlichste Region des Körpers. Rechts gab’s eine Seitentasche für das Jagdmesser. Das dunkle Leder war weich und passte sich geschmeidig den Muskeln des Sportlers an. Hermann zeigte auf das große Geweih an der Wand und sagte: Hirsch, mein Lieber, da kriegst was Gscheits! Die Verkäuferin brachte noch ein Leinenhemd, weiße Kniestrümpfe und Haferlschuhe. Mit den Größen gab es kein Geschiss, bald passte alles, der Mann aus Nigeria füllte die bayrische Tracht gut aus. Aber Victor war unsicher. Er beschaute sich im Spiegel und fragte skeptisch: Zieht der Torwart das auch an?

      Jetzt lachte Hermann. Was glaubst denn du? Sogar unser wilder Chilene, der Held des Münchner Nachtlebens, steigt in die Tracht. Auch der Trainer kommt selbstverständlich in Lederhosen zum Shooting. Und so zieht ihr dann auf die Wiesn.

      Schon länger spielte kein Münchner mehr in der ersten Mannschaft des erfolgreichsten Vereins der Stadt. Ein Verteidiger kam aus dem Speckgürtel, ein Stürmer aus der bayrischen Provinz. Mit der Brauerei, einem Sponsor des FC Bavaria, verhielt es sich ähnlich. Sie warb mit einer Tradition, die wenig mit der Gegenwart zu tun hatte. Ihre Sudkessel standen nicht mehr am Nockherberg, sondern in einer neuen Bierfabrik. Sie lag so weit draußen vor der Stadt, dass die Bewohner von Schwabing, Giesing und Haidhausen diesen Vorort nicht mehr als München gelten ließen. Außerdem hatte ein Konzern aus den Niederlanden die Hälfte des Unternehmens gekauft. Deshalb hatte die Marketingabteilung der Brauerei die Idee entwickelt, Fußballspieler in bayrischer Brauchtumsuniform zu zeigen. Ein Vertrag regelte die Angelegenheit. Er sicherte dem Sponsor das Recht auf einen Tag, an dem alle Spieler, Trainer und Betreuer für Werbeaufnahmen zur Verfügung stehen mussten.

      Victor Akbunike ließ sich schnell überzeugen. Wenn die ganze Mannschaft solche Hosen trug, auch der Brasilianer und der Holländer, konnte er sich nicht blamieren. Die Sache mit dem Hirsch gefiel ihm sogar richtig gut. Der Jäger schmückt sich mit der Haut des erlegten Tiers. Und der Hirsch musste in Bayern ungefähr das sein, was der Löwe in Afrika war, jede Wildnis hat ihren eigenen König. Deshalb gab es kurz vor der Heimfahrt noch einen kleinen Disput mit Hermann. Der wollte Victor unbedingt die Hosenträger ausreden, das sei was für alte Männer. Aber der Fußballspieler aus Nigeria bestand darauf. Ihm gefiel das Medaillon, das ins Leder des Querriegels eingearbeitet war. Ein Relief, aus Elfenbein geschnitzt, es zeigte den springenden Hirsch. Ihn wollte Victor vor der Brust tragen.

      DIE ISAR IST KEIN URALTER STROM WIE DER RHEIN. Mit junger Kraft entspringt sie dem Gebirge. Unser Fluss ist nicht tief, er trägt keine Wasserfahrzeuge, die größer wären als ein Floß. Er mündet auch nicht in die Nordsee. Ganz im Gegenteil, er bringt uns den Süden. Im Sommer liegt die halbe Stadt am Ufer. Nicht nur Kinder, auch gestandene Menschen baden im Wasser, das klar ist bis zum Grund. Am Flaucher sieht man den Kies nicht mehr vor lauter Sonnenschirmen, die in den Schotterbänken stecken. Dann bietet München die Möglichkeit, anstrengungslos die Alpen zu überqueren. Wir bleiben in Bayern. Und tun so, als wäre hier Italien.

      DER SOMMER WAR GROSS. Er ging zu Ende, und die Ferien auch. Die Hitze wurde erst am Abend erträglich. Eva und Korbinian Moser saßen auf dem Balkon über dem Innenhof. Eiswürfel klackerten im Gin Tonic, die Geräusche der Stadt drangen gedämpft zu ihnen. Das Licht fiel schräg auf Ziegeldächer, München leuchtete in warmem Rot. Eva klappte den Laptop auf und zeigte Bilder. Eine Flut, weder sortiert noch bearbeitet, nur schnell von der Kamera auf den Computer kopiert. Korbinian war kein aufmerksamer Betrachter. Wenn die Fotografin dem Autor ihre Arbeit präsentierte, sagte sie meist nach ein paar Minuten resigniert: Gell, das interessiert dich nicht.

      Aber jetzt kamen seine Augen nicht vom Bildschirm los.

      Genau genommen hatte dieser Tag schon am Abend davor begonnen. Im Fernsehen hatte man auf allen Kanälen den Hauptbahnhof gesehen. Endlich lag München mal wieder im Zentrum des Interesses. Ganz Deutschland und die halbe Welt schauten auf diese Stadt. Da hatte Korbinian eingewilligt: Um die Betreuungslücke zu schließen, nimmt er morgen die Kinder. Ruft vor der Konferenz in der Redaktion an und gibt Bescheid, dass er zu Hause schreibt.

      Die ersten Bilder zeigen Absperrgitter. Viel Flatterband, rot-weiß. Der Bahnhof ist geteilt. Polizisten sichern einen Zaun, aber das wäre gar nicht nötig. Ein blondes Mädchen streckt einen Löwen aus Plüsch durch die Stäbe, auf der anderen Seite strahlt ein Kind mit dunklen Augen. Ein Gwamperter mit Schnauzbart, blauweiß kariertes Hemd, wohl Münchner, spreizt Zeige- und Mittelfinger, Victory! Ein Transparent wird hochgehalten: Refugees welcome!!!, drei Ausrufezeichen sind in Herzform gemalt. Die vielen Augen auf der anderen Seite des Zauns sind sich nicht einig. Sie blicken fassungslos, skeptisch, ungläubig, euphorisch. Ein junger Mann, schwarze Stoppeln im eingefallenen Gesicht und Ringe unter den Augen, erfasst die Situation. Hält sein Handy hoch und filmt die Begeisterung der Deutschen. Auf der einen Seite Gedränge und Männerüberschuss, auf der anderen werden Rollkoffer über leere Bahnsteige gezogen. An Gleis 18 viele Uniformen, dort mischen sich die beiden Gruppen. Augenscheinlich friedlich. Eva erklärt:


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