Grobe Nähte. Johannes Schweikle

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Grobe Nähte - Johannes Schweikle


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an einen Bungalow aus den Siebzigerjahren, die Lampen in der Stube an dänisches Design. Die Fenster sind so groß wie im Neubaugebiet, und der Hubschrauber bringt genügend Bier. Das historische Blockhaus wurde abgebaut, man kann es jetzt in München besichtigen. Es steht neben der Zentrale des Alpenvereins, als Erinnerung an das alte Gebirge.

      DIE AMATEURE HABEN HEIMRECHT. Deshalb musste Bavaria München beim Wettbewerb um den deutschen Fußballpokal in der Provinz antreten. Der Verein hatte einen lustigen Namen. Im Bus wurden Witze gemacht, die Victor nicht verstand. Die Fahrt zog sich, irgendwann wurde ihm klar: Der Platz, auf dem sie heute spielen sollten, lag nicht mehr in Bayern. So groß konnte auch dieses Land nicht sein. Er stellte sich also auf schwierige Verhältnisse ein, denn so hatte der Mann aus Afrika seinen Betreuer Hermann verstanden: Bayern war toll. Den Rest von Deutschland musste man nicht unbedingt gesehen haben. Victor dachte an Belgien, sein erstes Land in Europa. Anderlecht hatte ihn gekauft. Von dort war er an einen Verein aus der zweiten Liga verliehen worden. Am schlimmsten war der Wind. Bis in den Mai hinein wehte er eiskalt über die Plätze. Er zog Handschuhe und lange Hosen an, aber das tat er nur einmal. Die Weißen hänselten ihn, und Victor verstand schnell, warum der Verteidiger aus Algerien, der schon länger hier spielte, in kurzen Hosen bibberte. Ein Afrikaner musste zeigen, dass er hart genug war, um in Europa zu bestehen. Auch an den Rasen musste Victor sich gewöhnen. Er staunte, wie viel Wasser ein Fußballplatz nach dem Regen speichern konnte, und es regnete oft. In Lommel wurde er zum Gespött der ganzen Tribüne, als er aus vollem Lauf eine Flanke schlagen wollte, aber den Ball nicht traf, weil er den matschigen Boden unterschätzt hatte. Sein Standbein rutschte weg, auf dem Hintern schlitterte er bis zur Eckfahne. Alle lachten, Victor schämte sich. So etwas war ihm zuletzt als Junge passiert. Im Norden Nigerias, wo die Plätze holprig waren und man keinen Rasen erwarten durfte. Die nackte Erde staubte, deshalb sah er die Kuhle nicht, die sich nach dem Regen gebildet hatte. Ihm versprang der Ball, die Zuschauer höhnten schadenfroh, in dieser Hinsicht waren die Menschen anscheinend gleich. Auf den Dörfern in Nigeria hatten allerdings die Tore kein Netz, das musste jeder Stürmer bedenken. Einmal erwischte er eine Flanke perfekt. Traf mit dem Spann, es war ein Traum, der Schuss ging genau ins linke Eck. Aber weil er so viel Energie hatte und von keinem Netz gebremst wurde, flog der Ball weiter, viel weiter, über die Böschung, die zum ausgetrockneten Fluss hinunter führte. Zu dritt mussten sie ihn aus dem Gestrüpp holen, er kratzte sich blutig, und alle schimpften mit ihm, obwohl er ein Tor geschossen hatte. So lernte er, dass es besser ist, Verteidiger und Torwart auszuspielen, danach den Ball nur noch mit einem kleinen Stoß lässig über die Linie zu schieben. Das sah überlegen aus und hatte außerdem den Vorteil, dass es den Gegner demütigte.

      Und dann lief er in diesem deutschen Dorf auf einem Rasen, der nicht einmal dort braune Löcher hatte, wo die Torhüter standen. Die Linien waren schnurgerade mit weißer Kreide gezogen, kein bisschen anders als in der Arena in München. Es gab nicht nur Netze an den Toren, sondern hinter jedem Tor auch noch einen hohen Gitterzaun aus Metall. Er funkelte in der Sonne, noch nicht mal an den Schrauben konnte Victor beim Warmlaufen Rost entdecken. Neben dem Rasenplatz gab es einen zweiten, zum Üben, mit Kunstrasen. Er hatte Flutlicht und lag in einem Käfig mit einem abschließbaren Tor im Gitterzaun. Victor fragte sich, ob die Spieler beim Training nicht herausdurften. Oder ob die Kinder aus dem Dorf davon abgehalten werden mussten, ohne Aufsicht Fußball zu spielen. Am Geländer vor der kleinen Tribüne hingen ein paar Schilder, die Victor auch nicht verstand. Auf einem sah er ein Stück rotes Fleisch, das von weißen Streifen durchzogen war. Darunter stand:

      METZGER SCHENKELS

       MEISTERSCHINKEN – LECKER!

      Als er seine Dehnungsübungen machte, beobachtete Victor aus den Augenwinkeln die deutsche Provinz. Einer der Gegner war so nervös, dass ihm beim Schuhebinden der Schnürsenkel riss. Es gab keinen Sicherheitszaun, der die Zuschauer auf Abstand hielt. Das war auch nicht nötig, alle blieben brav hinter dem Geländer, das so dicht neben der Seitenlinie verlief, dass man die Spieler aus München beim Einwurf oder Eckball piesacken könnte. An der Bude hinter dem Tor stand eine Schlange, vom Grill wehte Bratwurstgeruch in den Strafraum. In Plastikbechern wurde Bier ausgeschenkt. Es musste richtiges Bier sein, mit Alkohol, Victor sah Männer mit roten Köpfen. Er wusste nicht viel über Deutschland, aber er verstand: In diesem Dorf war heute Festtag. Neben der Tribüne hatte der Verein Bierbänke aufgestellt. Ein einzelner Mann versuchte, sich in die schmale Lücke neben einer Familie zu quetschen. Der Vater wollte schon rutschen, aber die Mutter schimpfte ihn weg: Wir sitzen hier seit einer Stunde – und du glaubst, du kriegst kurz vor dem Anpfiff noch einen Spitzenplatz?

      Nach sieben Minuten bekam Victor die erste Chance. Der Ball ging knapp am linken Pfosten vorbei und donnerte in den Fangzaun. Es gab einen dumpfen Knall. Alle hörten, welche Wucht dieser Schuss hatte, die Zuschauer raunten ehrfürchtig. Als der Stürmer aus Afrika zurücktrabte, kam das Glück des Spiels über ihn. Ich hab nicht getroffen – aber das macht nichts. Keiner schimpft, der Rasen ist perfekt, und ich hab Energie für viele weitere Versuche.

      An seinen Augen konnte jeder sehen, wie er sich fühlte. Das Weiß der Augäpfel war ständig in Bewegung. Als Erster bemerkte der Spanier im Münchner Mittelfeld Victors Spielfreude. Aus der eigenen Hälfte schickte er einen Steilpass. Victor rannte los, nahm den Ball aus der Luft, umspielte den ersten Verteidiger, tunnelte den zweiten, und der Torwart hatte keine Chance.

      Jetzt wurde das Spiel anders. Es bekam eine magische Leichtigkeit. Als ob die Bavaria ein Netz über den Platz gespannt hätte, dessen Fäden der Gegner nicht sehen konnte. An ihnen bewegten sich die Spieler und ließen den Ball fliegen. Der Versuch, den Rechtsaußen der Bavaria aufzuhalten, endete mit einem Tritt in den Knöchel. Der Schiedsrichter zeigte gelb, die Zuschauer tobten:

      Das war nix! Das war gar nix! So ’ne Muschi!

      Hinter dem Tor schwenkten zwei Dutzend Bavaria-Fans ihre Fahnen. Victor wunderte sich, dass sein Verein auch hier Anhänger hatte. In der Halbzeitpause erklärte ihm Hermann: Das sind unsre Allesfahrer.

      Was ist ein Allesfahrer?

      Die fahren zu jedem Spiel. Die sind noch härter als die Vierunddreißiger.

      Was ist ein Vierunddreißiger?

      Der kommt zu jedem Bundesligaspiel – 17 Heim- und 17 Auswärtsspiele, verstehst? Aber der echte Allesfahrer ist eine Klasse für sich. Der ist auch im Pokal und in der Champions League dabei. Barcelona, Mailand, Osnabrück – dem ist kein Weg zu weit.

      Nach der Hälfte war das Spiel gelaufen. Die Bavaria führte drei zu null. Der Münchner Torwart hielt sich mit Gymnastik im leeren Strafraum geschmeidig. Die beiden Innenverteidiger schoben eine ruhige Kugel. Die Pässe des Spaniers sahen elegant aus, gingen aber in die Breite des Spielfelds und waren wirkungslos. Nur der Afrikaner passte sich nicht an. Mit temperamentvollen Gesten forderte er den Ball. War auf Grätschen und Tritte gefasst, sprang federleicht über gestreckte Beine. Wenn man ihm zusah, konnte man meinen, die Bavaria liege im Rückstand. Das Gesicht seines polnischen Konkurrenten im Sturm zeigte Unverständnis. Aber bitte, wenn unser Wilder meint, dann soll er doch! So wurde Victor in einer Mannschaft von elf Spielern zum Alleinunterhalter. Nach einer Stunde schoss er das vierte Tor für die Münchner, zehn Minuten vor dem Schluss traf er mit dem Kopf. An der Anzeigetafel klappte wieder ein Helfer der Heimmannschaft von Hand eine Ziffer um, jetzt stand es 0 : 5. Die bayrischen Allesfahrer johlten.

      Gibt es auch männliche Gouvernanten? Der Pressesprecher der Bavaria verhielt sich so. Nach dem Abpfiff wich er nicht von Victors Seite. Dieser Sportplatz in der Provinz war ihm nicht geheuer. Jeder konnte auf den Rasen. Das war ungeschütztes Gelände, ganz anders als die Arena in München. Dort hatte der Verein fast alles unter Kontrolle. Gleich nach dem Wettkampf mussten zwei Spieler vor einer Sponsorenwand die Alibifragen des Fernsehens beantworten, das war vertraglich geregelt. Alle anderen verschwanden in einem Tunnel, der unter der Tribüne zur Kabine führte. Sie konnten duschen, sich ins Entmüdungsbecken legen, die Wunden der Schlacht versorgen lassen, essen und trinken. Erst auf dem Weg zu ihren Autos mussten sie durch die Mixed Zone. So nannte sich der Kontakthof, in dem Journalisten hinter Absperrbändern warteten. Wenn ein Spieler nicht mit ihnen reden wollte, nahm er den Weg links herum und wurde in Ruhe gelassen, das war ungeschriebenes Gesetz. Aber auf diesem Fußballplatz in der Provinz sorgten weder Bänder noch unterirdische Gänge


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