Octagon. Michael Weger

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Octagon - Michael Weger


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seinen Freund erwartungsvoll an.

      Carl seufzte tief, schob seine Brille auf die Stirn und beugte sich etwas vor: „Die letzten Monate haben mir gezeigt, dass ich langsam alt werde. Lange Zeit habe ich versucht, die Alterserscheinungen einfach zu ignorieren. Aber mittlerweile geht das nicht mehr. Ich vergesse einfach zu viel. Und allzu oft vergesse ich sogar, das, was ich vergessen könnte, wenigstens zu notieren.“ Er lächelte mild. „Meine Konzentration lässt zusehends nach und, was das Schlimmste ist, auch mein Engagement. Mein Herz ist müde geworden. Es schlägt, um es pathetisch zu sagen, nicht mehr mit dem meiner Klienten. Ich verbringe meine Zeit mittlerweile tatsächlich lieber auf dem Golfplatz oder mit einem Buch und Whisky auf der Veranda meines Hauses als mit der Psyche der Menschen. Obwohl mich diese Arbeit ein Leben lang zutiefst erfüllt hat.“

      Der Kellner kam mit zwei kleinen, bauchigen Gläsern, in denen die bernsteinfarbene Flüssigkeit schimmerte. Nachdem er sie abgesetzt hatte, nahmen die beiden einen kräftigen Schluck, wonach sich Pauls Gesicht zu einer Grimasse verzog. Selbst bei milden Sorten war er den immer noch intensiven Geschmack nicht gewohnt. Carl musste lachen und kam, nun wieder aufgerichtet, mit Elan zum Punkt:

      „Ich möchte mich im Frühjahr aus der Praxis zurückziehen und dir die Leitung übertragen.“ Er beobachtete Pauls Reaktion. „Was sagst du?“

      Paul war mehr als überrascht. Er wandte sich aus Carls Blickfeld und vor seinem inneren Auge tauchten Bilder und Gedanken der vergangenen Tage auf.

       Wie hinter Schleiern die Silhouette eines vertrauten Gebäudes. Der Herr zeigt denen, die ihn suchen, stets einen Weg.

       Eins mit allem und von allem zugleich unendlich beschützt und behütet.

      Nach einer Weile sagte er mit Bedacht: „Das ist zu früh, Carl.“

      Er atmete durch und erklärte: „Ich bin noch nicht so weit. Ich kenne dich gut und lange genug, um mir sicher zu sein, dass du dir einen solchen Schritt reiflich überlegt hast. Und du liegst vermutlich sogar richtig, wenn du meinst, ich könnte das bewältigen. Nur“, es fiel ihm schwer, die passenden Worte zu finden, um den Freund nicht vor den Kopf zu stoßen, „es haben sich auch bei mir in den letzten Wochen Ereignisse zugetragen, die mir zeigen, dass ich dich zuvor leider noch eine Weile im Stich lassen muss. Darüber wollte ich meinerseits mit dir sprechen. Bis vor wenigen Stunden war mir das allerdings noch nicht so klar.“ Er stockte.

      „Sprich ruhig weiter“, sagte Carl mit hochgezogenen Brauen. „Ich bin gut in dem, was ich tue. Das weiß ich schon“, holte Paul aus, „ich habe viel gelernt, mein Buch ist ein Erfolg und die Praxisstunden sind voll mit Klienten. Doch“, er suchte nach Worten, „etwas fehlt. Ich kann es nicht genau benennen. Auch nicht nach all unseren Stunden der Supervision, den Jahren der Ausbildung und der umfassenden Kenntnis psychischer Zustände, ihrer Ursprünge und Auswirkungen.“ Er wollte es treffender ausdrücken und wusste, das ging nur mit großer Offenheit. „Zum einen ist da diese Unsicherheit, die mich immer wieder einholt. Besonders in Gegenwart von interessanten Frauen. Zum anderen fühle ich manchmal eine Leere in mir, die ich nur durch übermäßigen Arbeitseinsatz ausfüllen kann. In den Abendstunden, wenn ich allein in meinem Bett liege, bin ich oft so erschöpft und aufgewühlt zugleich, dass der Schlaf sich nur schwer und spät einstellt. Etwas fehlt, Carl. Und ich glaube, ich weiß jetzt, wo ich es finden kann.“ Er hielt inne und blickte seinen Mentor direkt an. „Ich werde nach Nepal reisen und dort im Himalaya nach einer geheimen Tempelschule suchen, in der man angeblich alle Charakteranteile durchleben und sein wahres Selbst entdecken kann.“

      Sein Mentor richtete sich auf und wollte etwas einwenden. „Warte noch einen Augenblick, bitte.“ Paul musste seine Gedanken noch konkreter fassen. „Das klingt ein bisschen nach esoterischer Verklärung und hört sich so gar nicht nach mir an, das ist mir schon bewusst. Doch du kennst mich wie kein Zweiter und weißt, dass ich eher zu übertriebener Selbstreflexion neige. Gewiss, man ist immer gefährdet, sich selbst zu betrügen, doch hier verhält es sich anders.“ Er sah Carl mit wachen Augen voll Energie an. „Etwas hat es mit dieser Tempelschule auf sich, das mich in ihren Bann zieht. Du selbst hast immer gesagt: Erst wenn objektiv sinnvolle Entscheidungen durch Synchronizitäten bestätigt werden, erweist sich ein Lebensweg als der richtige. Und damit hast du deinem Namensvetter C. G. Jung alle Ehre gemacht. Was nun diese Reise betrifft, häufen sich die Zufälle auf erstaunliche Weise.“ Er kam zum Schluss. „Worum ich dich bitte ist, dass du deinem Schützling, bevor du ihm deine geheiligte Praxis überträgst, noch etwas zusätzliche Zeit zum Reifen gibst. Es handelt sich vielleicht um ein halbes Jahr, nicht mehr. Danach können wir über alles reden. Glaubst du, so lange noch durchhalten zu können?“

      Väterlich legte Carl eine Hand auf Pauls Schulter und antwortete mit seiner beinahe hypnotischen Stimme: „Du weißt, eines meiner Talente war es stets, zu erkennen, wann man dem Schicksal die Führung überlassen muss und wann es besser ist zu intervenieren. Diese Gabe, die Energie des Schicksals zu fühlen, habe ich bis heute nicht eingebüßt. Und was du mir eben erzählt hast, ist voll von dieser Energie und ich sehe dich in deiner Kraft. Ich werde alles tun, um dich auf diesem Weg zu unterstützen.“

      8

      Arjuns Schriftenglisch war hervorragend. Nachdem auf Pauls erste Mail einige Tage bis zur Antwort vergangen waren und er schon erwogen hatte, sich an eine andere Trekkingagentur zu wenden, lernte er seinen künftigen Bergführer im folgenden Mailverkehr als gebildeten und weltoffenen 35-Jährigen kennen. Arjun ebnete ihm von den Einreiseformalitäten bis zur Reservierung des Hotels in Kathmandu und der Planung der Trekkingtour alle weiteren Hürden.

      Als nächstbeste Reisezeit stellten sich dabei die Monate von März bis Juni heraus. Paul konnte somit sein Versprechen Carl gegenüber halten, die Praxis möglicherweise schon im kommenden Sommer zu übernehmen. Zudem hielt er diesen Zeitraum auch für gerade noch leistbar, stand ihm doch noch ein Gespräch mit seinem Bankbetreuer bevor, in dem er um eine vorübergehende Aussetzung der Rate für seinen Wohnungskredit ersuchen musste.

      Drei Monate schienen ihm überdies eine ausreichend lange Zeit, um die Tempelschule zu finden und sich den Lehren zu stellen, die sie versprach, bereitzuhalten.

      Auf die Frage danach reagierte Arjun in einem seiner Mails jedoch ausweichend, beinahe sogar gekränkt. Man hätte hin und wieder von solch einem Tempel gehört, doch weder er selbst noch seine Kollegen konnten mit Sicherheit sagen, wo und ob er überhaupt existierte. Zudem hätten Berichte, die vereinzelt von Touristen darüber verbreitet wurden, die Schule als spirituell atheistisch und somit für einen tiefgläubigen Hindu als indiskutabel ausgewiesen. Er versprach jedoch trotz seiner Vorbehalte, Erkundigungen einzuholen, um vielleicht doch eine vage Route bestimmen zu können, die Paul seinem Ziel zumindest näher brächte.

      Nachdem Paul seinen Flug gebucht hatte, beendeten die beiden vorübergehend ihren E-Mail-Verkehr mit der Vereinbarung, in den Tagen vor ihrem Zusammentreffen in Kathmandu noch die letzten Daten auszutauschen und den Treffpunkt am Airport zu fixieren. Paul war erleichtert, dass so viele ungeklärte Fragen zu den Details seiner Reise ganz unkompliziert beantwortet worden waren.

      Bei einem Treffen mit seiner Verlegerin im Café Jansen während der Weihnachtsfeiertage löste sich schließlich zu Pauls Überraschung sogar noch die Sorge über die Finanzierung der Reisemonate.

      „Auch wenn ich es“, begann Jasmin Reuter, „besonders jetzt, da Ihre Verkaufszahlen wirklich beeindruckend sind, gar nicht gern sehe, dass wir die geplanten Lesungen und Signierstunden für, wie lange?!“, unterbrach sie sich abrupt.

      „Höchstens drei Monate“, antwortete Paul zuversichtlich.

      „Also für mindestens vier Monate aussetzen müssen“, fuhr sie erfahren fort, „freut es mich natürlich zu hören, dass sich ein so erfolgreicher Jungautor wie Sie auf Recherche für ein neues Buch begibt.“

      Paul hatte diese Begründung für seine bevorstehende unerwartete Absenz vorgeschoben, in der Annahme, dadurch, ohne allzu große Einwände, eine Zustimmung von seiner engagierten Verlegerin zu erlangen. Den Beigeschmack der Notlüge konnte er vor sich selbst mit der Aussicht auf einen möglicherweise tatsächlich interessanten neuen Stoff durchaus


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