Octagon. Michael Weger
Читать онлайн книгу.er das Glas geleert und sich ohne Erfolg auf Ablenkung durch die unzähligen Kanäle des Bordfernsehen gezappt hatte, starrte er etwas verloren aus dem ovalen Fenster.
Die Wolkendecke unter ihm war eine geschlossene Hügellandschaft aus rosa angehauchter Zuckerwatte. Die Sonne, eben im Begriff hinter dem Watteland zu verschwinden, zauberte im Untergehen auch noch orange Schlieren auf den azurblauen Himmel. Die klischeehafte Romantik der Szenerie drang allerdings nicht bis zu Paul durch. Zu sehr war er mit Zweifeln und Ängsten beschäftigt, die er in den vergangenen Wochen mit Erfolg unterdrückt hatte.
Als wäre ich auf der Flucht vor etwas. Oder jemandem. Ist das Furcht oder Hoffnung, die mich antreibt? Spielt mir meine Psyche einfach einen Streich, lässt mich glauben, aufregenden neuen Erkenntnissen auf der Spur zu sein und verdeckt dabei doch nur die Angst davor, in Gefühlen von Unzulänglichkeit und Minderwert zu vergehen? Oder ist es das alles tatsächlich wert? Soviel Risiko für einen so kleinen Funken Hoffnung und Wahrscheinlichkeit.
Die Sonne war mittlerweile untergegangen und tiefe, undurchdringliche Schwärze hatte sich wie ein Meer ausgebreitet, auf dem das gewaltige Schiff des Flugkörpers sanft schaukelnd dahinsegelte.
Nach einem weiteren Glas Champagner ging es ihm langsam besser.
Gut, dass ich Alkohol nicht vertrage, dachte er angenehm erleichtert, wandte sich dem Bordfernseher zu und ließ sich in die bunte, tanzende Welt eines Bollywoodmusicals hineinziehen.
12
Beim Landeanflug auf Kathmandu stellte Paul zufrieden fest, wie schnell die vielen Stunden in den drei Maschinen, mit Aufenthalten zwischen den Anschlussflügen in Wartehallen und Duty-free-Arealen, letztlich vergangen waren. Die unzähligen Eindrücke von Menschen, Nationen, Farben und Gerüchen hatten die lange Reisezeit buchstäblich verfliegen lassen.
Durch das Fenster erspähte er an den Köpfen der Mitreisenden vorbei einen ersten Eindruck der Metropole. In den frühen Morgenstunden dehnte sie sich noch schlafend unter dem Flieger aus. Der Frühling hatte mit dichten Nebelschwaden bereits Einzug gehalten und die Tausenden teils verfallenen Backsteinbauten in rotbraunen Farbtönen ergaben ein Bild pittoresk verbrauchter Schönheit.
Nach der üblichen Schrecksekunde beim Aufsetzen der Maschine und dem anschließenden Applaus der Fluggäste war Paul zwar erschöpft, doch gut gelaunt und froh darüber, diese erste Etappe seines Abenteuers heil überstanden zu haben.
In der überschaubaren und schlichten Ankunftshalle des Airport wurde er wie vereinbart etwas abseits vor dem Kundenschalter einer bekannten Leihwagenagentur von Arjun erwartet.
Mit dem üblichen Namensschild in Händen und einem freundlichen Lachen auf dem Gesicht winkte sein Reiseführer ihm lebensfroh inmitten einer schnatternden Menge aus hoffnungsvoll Wartenden und erleichtert Angekommenen zu. Diesem gefühlsbetonten und geschwätzigen Austausch von Neuigkeiten unter der Bevölkerung sollte Paul in den kommenden Tagen noch oft begegnen.
Als er sich zu ihm durchgekämpft hatte, verneigte sich Arjun mit gefalteten Händen auf Höhe des Kopfes, sprach den landesüblichen Gruß Namaste und legte ihm einen bezaubernden Kranz aus orange- und rosafarbenen Blüten um den Hals. Paul kannte diesen Brauch nur aus Filmen und Berichten über Hawaii. Er bedankte sich erstaunt lächelnd und erwiderte etwas linkisch zum ersten Mal das für ihn respektvolle und anmutende Begrüßungsritual.
Die beiden waren einander auf Anhieb sympathisch. Paul war beeindruckt von Arjuns höflicher und zuvorkommender Art und konnte sich mit ihm fließend auf Englisch unterhalten. Arjun seinerseits war angenehm überrascht, in den kommenden Wochen einen so herzlichen und rücksichtsvollen Mann begleiten zu dürfen.
In einem völlig veralteten Lada Taiga wurden die beiden von einem älteren Freund Arjuns, dessen indische Züge von tiefen Falten gekerbt waren, ins Zentrum der Stadt gefahren. Auf den holprigen Einfahrtsstraßen hatte bereits dichter Frühverkehr eingesetzt.
Durch das Fenster stachen Paul die unzähligen Straßenkinder ins Auge. In kleinen Gruppen säumten sie munter lachend die schmalen Gehsteige und umlagerten die vor Ampeln zum Stillstand gekommenen Fahrzeuge mit Putzlappen und Touristennippes.
„Sie leben da“, erklärte Arjun, „und sind glücklich. Es wird Sie gewiss erstaunen, Mister Paul, aber man hat versucht, sie in einem breit angelegten Unterstützungsprogramm, an dem ich mich auch als Subkoordinator beteiligen durfte, in neu errichteten Heimen unterzubringen. Doch sie kehrten immer auf die Straßen zurück, fanden sich in den stets selben Gruppen ihrer Viertel zusammen und waren nicht davon zu überzeugen, sich helfen zu lassen. Sie empfanden unsere Bemühungen im Gegenteil als Bestrafung und brachen einfach aus. Irgendwann hat die Stadtregierung das Programm schließlich wieder eingestellt.“
„Ich hätte nicht erwartet, so viel Armut zu erleben“, entgegnete Paul sichtlich betroffen.
„Das Land hat sich noch nicht erholt von der Königsdiktatur vergangener Zeiten. Der Demokratisierungsprozess geht nur langsam vonstatten und das Kastenwesen ist nach wie vor unerbittlich darin, gesellschaftliche Hierarchien aufrechtzuerhalten. Den Armen und Mitgliedern der untersten Kasten stehen keine Bildung und so gut wie keine Aufstiegsmöglichkeiten zu.“ Er hielt kurz inne und blickte im Vorbeifahren gedankenverloren auf eine nicht weit von der Hauptstraße entfernte hinduistische Pagode. „Selbst meine eigene Frau, die aus einer niedereren Kaste stammt als ich, darf das Haus meines Vaters bis heute nicht betreten. Das ist traurig, doch es lässt sich nicht ändern.“ In fröhlicherem Ton fuhr er fort: „Aber lassen Sie uns jetzt über erfreulichere Themen reden. Ich habe Sie für die kommenden zwei Nächte in einem hübschen, kleinen Hotel direkt im Zentrum untergebracht. Für heute Abend darf ich mir erlauben, Sie in mein bescheidenes Heim zum Essen einzuladen. Meine Frau freut sich sehr darauf, die Bekanntschaft eines deutschen Psychologen und Buchautors zu machen. Sie liest viel, um die ihr teils vorenthaltene Schulbildung wettzumachen. Die Psyche der Menschen ist dabei so etwas wie ihr Steckenpferd. Außerdem“, kündete er mit schelmischen Augen verheißungsvoll an, „hat sie etwas über den Tempel, nach dem Sie mich gefragt hatten, in Erfahrung bringen können. Und ich habe dadurch vielleicht sogar eine Route für uns gefunden.“ Stolz und voll Freude trommelte er mit seinen Händen einen kleinen Wirbel auf das Armaturenbrett vor sich. Paul war mit einem Mal hellwach.
Nachdem Arjun jedoch keine Anstalten machte, mehr zu verraten, entschied er sich, bis zum Abend auszuhalten und den liebenswerten Nepalesen nicht mit weiteren Fragen zu bedrängen.
Das Zimmer in dem kleinen Hotel erwies sich für Pauls Begriffe viel mehr als heruntergekommen, denn als hübsch. Nach dem Durchqueren der letzten Innenstadtgassen mit ihren zahlreichen, verfallenen Häusern und Holzkonstrukten, die brüchige Balkone und Vordächer mehr schlecht als recht stützten, war ihm jedoch klar geworden, dass Arjun im vereinbarten Rahmen das Bestmögliche für ihn ausgewählt hatte. Die Zimmerpreise in den Touristenvierteln lagen im Vergleich zu den Vororten der Stadt unverschämt hoch. Immerhin boten sie den Mindeststandard an Hygiene sowie Badezimmer mit eigenen Toiletten und Duschen. Dennoch empfand Paul gleich beim Betreten des Raumes das düstere, durch löchrige Vorhänge fallende Licht, den abgetretenen Teppich und die mattroten, teils abgeschabten Tapeten als schlichtweg erdrückend. Er lehnte seinen Rucksack an eine Wand nahe dem Bett und zog die Vorhänge zurück. Der Ausblick auf einen Hinterhof aus braun verwaschenen Backsteinwänden trug ebenso wenig zu seiner Erheiterung bei. Er öffnete den Trolley, bewaffnete sich mit einem seiner Ersatzschuhe und machte sich auf die Suche nach den von Arjun beiläufig angekündigten Kakerlaken.
Zum Glück hielt das Zimmer, was an Hygiene versprochen war, und so konnte er nach einigen Minuten der Pirsch den Schuh beruhigt wieder an seinem Platz verstauen. Auch das frisch bezogene Bett mit Doppelpolstern erwies sich beim ersten Sitztest als überraschend komfortabel. Nachdem er sein Necessaire ins Bad getragen und die wenigen Bekleidungsstücke für die ersten Tage in der Stadt im schlichten Holzschrank verstaut hatte, positionierte er das Shaligrama behutsam auf dem Nachtkästchen. Er zog die Vorhänge wieder zu, legte sich aufs Bett und schlief, noch während er Zweifel daran hegte, ob er sich würde entspannen können, verblüffend schnell ein.
Als er erwachte, war das Zimmer in völlige Dunkelheit