Octagon. Michael Weger
Читать онлайн книгу.übersät. Er war bis zum Bersten mit Menschen und Gepäckstücken gefüllt.
Paul und Arjun hatten im Fond des Busses noch zwei Plätze ergattert. Dicht aneinander gedrängt saßen sie nun auf abgenützten Plastiksitzen an einem der Fenster.
Schon nach wenigen Kilometern stadtauswärts empfand Paul, noch etwas geplagt von den Auswirkungen der Schnäpse, die Geräuschkulisse als unerträglich. Heftig aufeinander einredende Einheimische, aufgeregtes Geschrei von Kindern, Hupen und Motorengeräusche des enormen Verkehrsaufkommens und die alles überlagernden Soundeffekte eines Martial-Arts-Movies, das via Monitor über dem Kopf des Fahrers ausgestrahlt wurde, ergaben eine geradezu infernalische Symphonie.
Zudem schien ihm der dichte Straßenverkehr auf der holprigen Überlandstraße ohne geordnete Verkehrsregelung auskommen zu müssen. Immer wieder staunte er über abrupte Bremsmanöver und die darauf durch offene Fenster folgenden heftigen Diskussionen der Fahrer. An den Straßenrändern sah er scheinbar wahllos abgestellte Fahrzeuge, neben denen Männern in Gruppen rauchend ihre Schwätzchen hielten. Zusteigende Mütter gaben ihre Babys unbekümmert an Fremde weiter, währenddessen sie ihr Gepäck verstauten. Oft fanden die Kleinen, nachdem sie durch den halben Bus gereicht wurden, erst wieder etliche Minuten später den Weg über fremde Hände zurück zu ihren Müttern.
Der Lärmpegel war ohrenbetäubend, an Schlaf nicht zu denken und es war Paul ein Rätsel, wie er die, von Arjun angekündigten, neun Stunden Busfahrt überstehen sollte.
Immer wieder blieben seine Blicke an Alltagsszenarien und beeindruckenden Landschaften hängen, die vor den Fenstern vorbeizogen.
Die Armut der Bevölkerung stach allerorts ins Auge. Kärgliche Behausungen, wahllos in unregelmäßigen Abständen, aus Wellblech und Lehmziegeln an die Straße gestellt, waren meist an der Front unverbaut und gaben den Blick auf wenige Quadratmeter Innenraum frei. Mehrere Schlafplätze, Erdkuhlen, die als Abort dienten, und daneben gelegene Feuerstellen, auf denen gekocht wurde, reihten sich eng aneinander.
Ging die Fahrt durch kleinere Dörfer, wechselte die Szenerie und wurde wieder lebendig und übervölkert. Die bunten Saris der Frauen bestimmten dabei mit ihren teils grellen Farben das Bild.
Je länger die Fahrt andauerte, desto häufiger wand sich die Straße üppig bewachsene Steilhänge entlang.
Die Schluchten, oft hart an den Straßenseiten abfallend, waren von beschaulichen Bächen und Flüssen durchzogen, die sich durchs Land schlängelten.
Mit völlig verschwitztem Oberhemd vermischten sich im Lauf der Zeit Eindrücke, Farben und Gerüche in Pauls Wahrnehmung und ergaben einen Flickenteppich, der ihn mehr und mehr wie ein klebriger Mantel umhüllte.
Vier Stunden später war wider Erwarten alles, was ihn zuvor so schreiend bedrängt hatte, zur gewohnten Monotonie geworden und er döste zunehmend abgestumpft vor sich hin.
Zwischendurch fielen ihm sogar die Augen zu und nach einer weiteren Stunde übermannte ihn schließlich tiefer Schlaf.
An ihrem Zielort angekommen, musste Arjun ihn sogar etwas unsanft wecken.
Paul schreckte desorientiert auf, wehrte sich kurz, entschuldigte sich aber gleich, als er realisierte, wo er sich befand und dass alles seine Ordnung hatte.
Der Bus war zum Stillstand gekommen, die Fahrgäste stiegen aus und nachdem Paul seine Füße auf festen Grund gesetzt hatte, bestaunte er überwältigt die entfernt aufragenden schneebedeckten Giganten. Ihre Gipfel waren vom untergehenden Sonnenlicht in zartes Orange getaucht und hoben sich mit scharfen Konturen vom indigoblauen Abendhimmel ab.
Das Dorf Banglung am Unterlauf des Kali Gandaki unterschied sich nicht wesentlich von den Außenbezirken Kathmandus, wie sie Paul bei seiner Fahrt vom Flughafen ins Zentrum erlebt hatte.
Einfache Steinhäuser mit verwitterten Holzaufbauten reihten sich an einer einzigen Straße entlang aneinander. Verwaschene Farben, verfallene Mauerwerke, trockene Schotterwege und schiefe Holzbalken, die überall als Stützen eingesetzt waren, zeichneten dasselbe Bild verbrauchten Reizes.
Über den Köpfen der Passanten warfen bunt gemischte Reklametafeln ihr flackerndes Licht auf die schmalen Gehsteige.
Männergruppen unterhielten sich in Straßencafés, Frauengruppen schlenderten mit ihren Kindern an den Händen die Straße entlang, Touristen feilschten an den wenigen Verkaufsständen, um alles, was sie für ihre bevorstehenden Trekkingtouren noch auf Vorrat besorgen mussten.
Überall traf man auf Lastenträger, sogenannte Porters, die ihre schweren, randvoll gefüllten Tragesäcke mit angespannten Nacken durch einen Gurt, der über die Stirn führte, auf dem Rücken des Weges schleppten.
Am Rand des Dorfes, direkt am Eingang des Gandakitales, hatte Arjun die Zimmer für die Nacht reserviert.
Die Herzlichkeit der Bevölkerung erstaunte Paul einmal mehr, als er die schlichte Behausung betrat und mit Ingwertee, Hefegebäck und offenem Lachen in faltigen Gesichtern begrüßt wurde.
Das Nachtmahl bestand aus einem Reisgericht mit frischem Gemüse und einfachem Fladenbrot, einer Kost, mit der er sich in den kommenden Wochen würde vorwiegend begnügen müssen.
Auf der Pritsche sitzend, in einer mit modrigem Holz der Tränenkiefer vertäfelten engen Kammer, schloss Paul den Tag mit einem Eintrag in sein Büchlein.
Er hatte beschlossen, sowohl die paar Zeilen als auch den Schluck Whisky vor dem Einschlafen als kleines, allabendliches Ritual einzuführen.
17
„Guten Morgen, mein Freund!“ Arjun strahlte mit einer Energie, die Paul nicht annähernd imstande war aufzubringen. Er fühlte sich im Gegenteil, als hätte er nur wenige Stunden Schlaf hinter sich. Nachdem der den kleinen Speiseraum betreten und einen Blick auf den uralten Klingelwecker am Fenstersims geworfen hatte, stellte er überrascht fest, dass er damit auch richtig lag.
„Es ist fünf Uhr am Morgen!“, rief er Arjun in gespielt vorwurfsvollem Ton über den Frühstückstisch hinweg zu. „Warum hast du mich geweckt? Was, um alles in der Welt, wollen wir so früh?“
„Wir wollen uns auf den Weg machen, mein Freund. Es gibt nichts Schöneres auf dieser Welt als Sonnenaufgänge im Himalaya. Das willst du doch nicht verpassen?“
„Es hätte nicht unbedingt gleich der erste sein müssen.“ Er blickte zum kleinen Holzfenster auf der anderen Seite des Raumes, bückte sich vor und sah voll Staunen durch die verschlierte Glasscheibe, wie das erste, geradezu magische Licht des Tages die Berghänge überströmte. „Andererseits muss ich dir recht geben. Das ist wirklich atemberaubend.“
„Und das ist noch gar nichts gegen das, was dich in den kommenden Tagen erwartet. Glaub mir, das wirst du dein Leben lang nicht vergessen.“ Er lachte fröhlich und war sich nicht annähernd bewusst, wie sehr er damit recht behalten sollte.
In Absprache mit Arjun hatte Paul auf einen Porter verzichtet. Den kleinen Trolley mit den zusätzlichen Reiseutensilien hatte er in Arjuns Wohnung unterbringen dürfen und so blieb ihm für die Tour nur der rote Trekkingrucksack. Er traute sich zu, die mäßige Last auf seinen Schultern auch in steilem Gelände und nach mehreren Tagen selbst tragen zu können.
Für die Verpflegung des Zwei-Mann-Teams wäre in Dörfern und Lodges auf der Route, die vor ihnen lag, ohnehin gesorgt. Paul hoffte, sollte er den Tempel tatsächlich finden, auch dort mit wenigen Utensilien das Auslangen zu finden. So bestand ihr Gepäck, neben den nötigsten Bekleidungsstücken wie Unterwäsche, Shirts, Pullovern, wetterfesten Überhosen und Anoraks sowie einer weiteren Flasche Whisky, vorwiegend aus Wasserflaschen und Batterien. Paul hatte sogar drei Slips dabei.
Während der ersten Etappe ihrer Wanderung wurden die beiden vom satten Grün der subtropischen Landschaft und weitläufig angelegten Reisterrassen umgeben. Die anhaltende Stille, die sie schon kurz nach dem Verlassen des Dorfes einhüllte, wurde nur vom Tosen zahlreicher Wasserfälle unterbrochen, die sich über schroffes Gestein wild rauschend in die Tiefe ergossen.
Paul empfand