Octagon. Michael Weger

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Octagon - Michael Weger


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Schritten marschierten die beiden vor sich hin und ließen zahlreiche andere Wanderer an sich vorbeiziehen.

      „Die holen wir alle noch ein“, erklärte Arjun, „spätestens über viertausend Metern geht ihnen nämlich im wahrsten Sinn des Wortes die Luft aus.“ Er lächelte verschmitzt und ergänzte: „Außerdem müssen wir uns an die Höhe langsam gewöhnen.

      Das wird uns am besten vor der Schwindelkrankheit schützen. Alles maßvoll, Schritt für Schritt und Atemzug für Atemzug.“

      Der Weg wand sich das ausgedehnte Flussufer entlang. Bergauf und bergab folgte Paul seinem schon zum Freund gewordenen Trekkingführer an Eichenwäldern und Farndschungeln vorbei über unendlich scheinende Ebenen wie auch durch Gärten knorrig verwunschener Baumgruppen.

      Arjun hatte Ramchandras Bericht einige Anhaltspunkte entnehmen können, die ihre Route zumindest bis zu einer gewissen Region vorzeichnete.

      Die nahezu hundert Kilometer lange Wegstrecke würde sie Richtung Thorong La führen, dem höchsten, dauerhaft begangenen Pass der Welt mitten im Annapurna-Massiv. Den Pass selbst würden sie jedoch nicht überqueren, da sie einige Kilometer davor Richtung Tilicho Lake, einem ebenso hochgelegenen Bergsee, abzweigen müssten. Nach einer weiteren Wegstrecke über den See hinaus wären sie dann allerdings bei ihrer Suche auf sich allein gestellt, weil ab dieser Zone Ramchandras Erinnerung ausgesetzt hatte. Sie wusste nur noch zu berichten, dass ihre Mutter sie in diesem, schon gut viereinhalbtausend Meter hoch gelegenen Areal stets in ein festes Tuch gewickelt auf ihren Schultern weitergetragen hätte. Dabei wäre sie immer in tiefen Schlaf gefallen und hätte in keiner Weise mehr abschätzen können, welche Richtung ihre Mutter danach für wie lange eingeschlagen hätte.

      Arjun stellte, sofern alles im Rahmen des Erwarteten verlaufen würde, für den Aufstieg bis zu diesem Punkt eine Dauer von acht Tagen in Aussicht.

      Zur dritten Nacht ihrer Tour wurden die beiden in einer Lodge direkt am Fluss willkommen geheißen. Gleich nach der Ankunft musste sich Paul eine gute Stunde in dem üblichen, schlichten Zimmer ausruhen und empfand die engen Wände, nach der mitunter beängstigenden Weite der Landschaft, als beschützend und heimelig. Durchs Fenster war das Rauschen eines nahen Wasserfalles zu hören.

      Noch vor dem Abendessen stieg er über Geröll einige Meter zum steinigen Flussbett hinab. Nach bereits gut vierzig Kilometern Wanderung an diesen ersten Tagen schmerzten seine Achillessehnen bei jedem Schritt und er entschied sich am flachen Ufer zu einigen Dehnungsübungen. Der angeschwemmte gräuliche Bergsand bildete eine kleine Düne und nach wenigen Versuchen, seine gespannten Unterschenkel zu dehnen, um die Sehnen zu entlasten, spürte er unter seinem linken Fuß einen harten Widerstand. Er bückte sich, wischte den Sand beiseite und traute seinen Augen kaum, als darunter ein Shaligram Shila zum Vorschein kam, der seinem eigenen bis hin zur goldgelben Farbe aufs Auge glich.

      Zufälle, dachte er lächelnd und blickte in Richtung des Wasserfalles, der die letzten durch das Tal fallenden Sonnenstrahlen in hellen Regenbogenfarben versprühte. Er nahm den Stein behutsam an sich und fuhr mit seinen Übungen fort.

      Arjun hatte mit dem Essen bereits auf ihn gewartet, als Paul kurze Zeit später das behagliche, nur durch Kerzen beleuchtete, schmale Zimmer betrat.

      „Ich habe etwas für dich“, sagte er zu seinem Freund und hielt ihm den Shila hin.

      „Paul!“, rief Arjun überrascht aus. „Es gibt keinen Grund, mir deinen Shaligrama zu schenken. Du wirst ihn ja hoffentlich auch noch brauchen, um in den Tempel aufgenommen zu werden.“

      „Das ist nicht mein Shila, Arjun. Diesen hier hab ich eben am Fluss gefunden. Er sieht meinem eigenen nur täuschend ähnlich. Und ich habe gelernt, man verschenkt sie nur an Menschen, die einen in der Seele berühren, nicht wahr? Also, dieser hier ist für dich.“

      Arjun sah ihn mit ernstem Blick an und rührte sich nicht vom Fleck. Paul war verunsichert, ob er einen Fehler begangen hatte.

      Nach einer Weile begann Arjun schließlich verlegen: „Es gibt etwas, das ich dir verschwiegen habe, mein Freund.“ Er hielt inne, nahm zögernd den Stein aus Pauls Hand und betrachtete ihn, als würde es sich um ein kostbares Juwel handeln.

      „Komm, setz dich“, sagte er, „lass uns etwas essen. Danach holst du deinen Whisky und wir reden. In Ordnung?“

      18

      Das Abendmahl verlief zum größten Teil schweigend. Arjun betrachtete immer wieder den Shila, den er neben sich auf den Tisch gelegt hatte, schüttelte mitunter versonnen den Kopf und kaute weiter an den kleinen Stücken etwas zähen Lammfleisches.

      Paul konnte sich keinen Reim auf sein Verhalten machen, ließ dem Freund aber Zeit, um sich zu sammeln.

      Nach dem Essen saßen die beiden, jeder mit einem Schluck Whisky im zerkratzten Glas, auf der schmalen Holzveranda, die zum Fluss hin an das schlichte Steinhaus gebaut war. Schließlich brach Arjun sein Schweigen und begann zu erzählen.

      „Als du mir in einer deiner ersten Mails von dem Shila und deiner Absicht, den Tempel zu suchen, berichtet hast, konnte ich nächtelang kein Auge zutun. Erst Manisha schaffte es mit ihrer Geduld und Weisheit, mich in langen Gesprächen wieder zu beruhigen. In diesen Tagen war es, als würde eine schwere Last von meinen Schultern fallen, und zugleich war ich mit den schlimmsten Ängsten meiner Kindheit konfrontiert.“ Er stockte und blickte traurig, beinah verzweifelt in den Himmel. „Du musst wissen, dass meine Eltern, für nepalesische Verhältnisse, relativ spät geheiratet hatten. Mein Vater wurde dann in seinen fortgeschrittenen Jahren“, es fiel ihm sichtlich schwer, darüber zu sprechen, „zu einem sehr, ja, sehr gewalttätigen Mann. Gewalt durch Männer an ihren Frauen und Kindern ist in unserer Kultur keine Seltenheit. Religiöse Frömmelei und männlicher Stolz ergeben gerade bei strenggläubigen Hindus eine oft gefährliche Mischung.“ Wieder hielt er inne und musste erst durchatmen, bevor er fortfahren konnte. „Es geschah kurz nach meinem achten Geburtstag. Während einer seiner cholerischen Anfälle traf ein Hieb meine Mutter so unglücklich, dass sie mit dem Kopf auf die Kante eines Glastisches fiel. Meine jüngere Schwester und ich kauerten in einer Ecke des Zimmers und mussten das schreckliche Geschehen mit ansehen. Die Verletzung meiner Mutter war so schlimm, dass sie wenige Tage danach“, Trauer brach nun seine Stimme und Tränen liefen ihm über die Wangen, „dass sie wenige Tage danach verstarb.“ Er barg den Kopf in seinen Händen. Paul reagierte instinktiv aus seiner therapeutischen Erfahrung. Er ließ ihm Zeit und legte nur beruhigend eine Hand auf seinen Rücken. „Entschuldige, mein Freund“, fand Arjun schließlich seine Fassung wieder und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Eigentlich ist es lange genug her, um mich nicht mehr dermaßen tief zu berühren. Aber diese Reise mit dir, deine Entschlossenheit und jetzt auch noch der Shila.“ Er griff nach Pauls Hand, drückte sie fest und ließ sie auch während der folgenden Worte nicht mehr los. Langsam sprach er aus, was er außer seiner Frau niemals zuvor einem Menschen anvertraut hatte: „Am Sterbebett hat meine Mutter mir prophezeit, dass eines Tages ein Shila den Weg in meine Hände finden würde. Dieser würde dann die weiteren Tage meines Lebens bestimmen. Weißt du, meine Mutter konnte so manches voraussehen, denn“, er blickte Paul angespannt in die Augen, „es gab im letzten Jahrhundert nicht nur eine nepalesische Meisterin im Tempel der Acht, sondern noch eine weitere, die jüngste, begabteste, die es jemals zu diesen Weihen gebracht hatte: meine Mutter.“ Paul konnte kaum glauben, was er da hörte, und blickte ihn verwundert und gerührt an. „Und das war es“, fuhr Arjun fort, „was meinen Vater so sehr faszinierte, was er in jüngeren Jahren an ihr bewunderte, liebte und dann, je älter er wurde, umso weniger verzeihen konnte: ihre Vergangenheit als Ungläubige, als Hellsichtige, als Magierin des Tempels, die ihn stets und in allen Lebenslagen überflügelte.“

      Nachdem sich beide dicke Lammfelldecken aus der Lodge geholt hatten und die Kälte der Nacht heraufzog, erzählte Arjun bewegt weiter.

      Die Tatsache, dass seine Mutter ein Mitglied der Lehrerschaft des Tempels war, wurde geheim gehalten, solange er sich erinnern konnte. Sowohl innerhalb der Familie als auch nach außen hin musste das Geheimnis gewahrt bleiben. Sein Vater hatte darauf bestanden, einen, seiner hohen Kaste und den religiösen Doktrinen entsprechenden, streng hinduistischen Lebensstil


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