Gestaltpädagogik im transnationalen Studium. Группа авторов
Читать онлайн книгу.Tradition ist die Humanistische Psychologie zuzurechnen, aus der sich auch die Gestaltpädagogik herleitet. Ihre Begründer haben aus den Traumata von Tod, Verlust und Vertreibung die Idee einer kosmopolitischen Humanität gerettet und diese in das zerstörte Europa zurückgetragen. In der existentiellen Begegnung mit den Anderen, bzw. in der Bereitschaft zum rückhaltlosen Beziehungsangebot sahen sie die riskante, aber Erfolg versprechende Chance einer Überwindung kollektiver Vorurteile und erlebter Fremdheit.
Diesem Ansatz fühlen sich auch die Initiatoren dieses Projekts verpflichtet. Aus diesem Grund wählten sie den mühevollen Weg, an Selbstwahrnehmung, Selbstausdruck und Selbstreflexion zu arbeiten als Basis und Voraussetzung für Offenheit und Verständigungsbereitschaft mit dem Anderen. Denn Verstehen und Akzeptieren des Anderen beginnt im Spüren und Annehmen von Fremdheit in der eigenen Person.
2. Heterogenität als Aufgabe und als Bedingung der Arbeit im Projekt - Verständigung durch Begegnung
Ein zentrales Ziel der transnationalen Lehreraus- und Fortbildungsprojekte der EU (Erasmus, Comenius u. a.) ist das in Beziehung Treten und die wechselseitige Bereicherung nationaler Lern- und Schulkulturen. Aus den Erfahrungen vielfältiger Heterogenität in den Schulklassen westlicher Großstädte (Deutschland, Österreich, Schweiz) haben wir in unserem Projekt von Anfang an „Heterogenität" nicht nur auf die unterschiedlichen Nationalitäten, Sprachen und Kulturen der beteiligten Länder - erweitert um die Sprachen und Kulturen von Zuwanderern, Kriegsflüchtlingen, Spätaussiedlern und deren teilintegrierte Nachkommen zweiter und dritter Generation - bezogen, sondern die z. T. damit verknüpften, z. T. davon unabhängigen Unterschiede in der sozialen Herkunft und in der Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit der Schüler mit einbezogen. Es konnte für uns daher nicht darum gehen, einzelne Aspekte der Problematik dieser Vielfalt auszugliedern und curricular zu bearbeiten mit dem Ergebnis, Methoden, Materialien und Medien für eine unterrichtliche Behandlung dieser Teilaspekte bereitzustellen. Dieser Weg führte uns allerdings in eine gewisse Spannung zu den formulierten Produkterwartungen an solche Projekte seitens der EU. Aus unseren langjährigen Erfahrungen mit gestaltpädagogischer Kompetenzentwicklung und deren Auswirkungen auf die Unterrichtsgestaltung, die Klassenführung und das Schulleben der beteiligten Lehrer hatten wir eine gewisse Skepsis gegen die geläufige Hochschätzung solch partieller methodischer Zugänge zur Veränderung von Unterricht und Schülerverhalten, da sie die Lehrer und Schüler zumeist nicht in ihrem subjektiven Erleben erreichen.
Aus unserer Sicht schulischen Lernens und der Vielfalt seiner Bedingungen und beeinflussbaren Vorraussetzungen heraus, lautete für uns die Ausgangsfrage: Wie können Lehrer - in Ergänzung zu einer fundierten fachwissenschaftlichen und (fach-) didaktischen Qualifikation - solche persönlichen, interpersonellen und sozialen Kompetenzen erwerben, wie sie für einen Umgang mit ihren in vielen Dimensionen so unterschiedlichen Schülern nötig erscheinen. Wir verstehen darunter zu allererst die Fähigkeit, den einzelnen Kindern zuzuhören in ihren Nöten und Sehnsüchten, die unterschiedlichen Bedürfnislagen und Erwartungsstrukturen anzuerkennen und die Spannung auszuhalten zwischen den Bedürfnislagen und dem, was in der Schule möglich ist und was notwendig auch erreicht werden muss. Auf dieser Grundlage geht es dann um die Fähigkeit, Kommunikationsprozesse zu initiieren und Lernen zu ermöglichen in einer Form, dass -trotz zunächst unüberblickbarer Verstehens- und Verständigungsschwierigkeiten - Beziehungen zwischen den Schülern entstehen und allmählich ein Gefühl von Gemeinsamkeit und von Lust auf Lernen sich entwickeln kann. Es geht darum, die Lebensprobleme der Kinder zu sehen und sie soweit aufzugreifen, dass sie die gemeinsamen Lernprozesse nicht blockieren.
Als Konsequenz aus einer solchen Sicht wollten wir in unseren Projekten Lehrer und Studenten einer analogen Erfahrungssituation aussetzen und am eigenen Leibe die Fremdheit und Unsicherheit einer kulturell und sprachlich heterogenen Gruppe erleben lassen. Sie sollten miteinander daran arbeiten, in dieser Situation neue Erfahrungen mit sich selbst und anderen zu machen, damit ein Lernen miteinander und voneinander möglich wird.
Ergänzend zu einer zeitraubenden und Distanz schaffenden Sicherung von Verständigung durch Übersetzung war es uns vor allem wichtig, den Wunsch zu stärken, sich mit den anderen im direkten Kontakt zu verstehen. Wir wollten die Bereitschaft fördern, mit den anderen in der Gruppe in Hinblick auf kleine, spielerische Vorhaben zu kooperieren, bei denen Missverständnisse keinen Schaden anrichten, sondern eher zu Heiterkeit beitragen. Wir wollten die Neugier auf die anderen Menschen, ihre Erfahrungen und ihren Blick auf Schule stärken und Freude am gemeinsamen Lernen wachsen lassen.
In unserem Leitungsteam wie auch in den drei jeweils gemischtnationalen Gruppenleitungen ging es darum, einander kennen zu lernen, Missverständnisse auszuräumen und in gemeinsamer Arbeit zueinander zu finden. Wir bemühten uns darum, Heterogenität als Bereicherung erleben zu lernen und dabei zugleich in allen Dimensionen anzuschauen:
• Beteiligt waren im Laufe der Jahre sehr viele Länder; die drei kulturellen und sprachlichen Großräume Europas (der romanische, der slawische und der germanische - soweit wir diese Begriffe heute noch gebrauchen möchten) wie die Türkei waren dabei vertreten;
• Es ging um einen Brückenschlag zwischen West und Ost (viele der beteiligten Länder gehörten für fünfzig Jahre zu den sozialistischen Staaten Europas);
• Die Wunden zweier Kriege galt es zu sehen und zu überwinden (alle beteiligten Länder hatten sich in Kriegen gegenüber gestanden, auch Väter und Großväter der Teilnehmer) und auch an den Orten unserer Seminare waren die Spuren des Krieges unübersehbar;
• Die beteiligten Regionen waren im Hinblick auf den Stand der wirtschaftlich-technischen Entwicklung, die Arbeitsbedingungen und den Lebensstandard der Bevölkerung extrem verschieden; dies erfuhren wir auch im Projekt: was für die einen „spottbillig" war, war für die anderen ein seltener „Luxus";
• Die Schulsysteme und Bildungsvorstellungen der Länder wurzelten in ganz unterschiedlichen Traditionen;
• Die beteiligten Studierenden hatten unterschiedliche Studienziele und die Lehrer kamen aus allen Formen des Bildungswesens (vom Kindergarten bis zur Universität);
• Die Teilnehmer selbst gehörten unterschiedlichen Generationen an (z. T. mehr als 30 Jahre Altersunterschied), sie waren jung und ledig, Mütter oder Großmütter;
• Projektmitarbeiter wie Teilnehmer hatten unterschiedlichen beruflichen Status: Studierende, Lehramtsanwärter, Lehrer, Schulleiter und Lehrerausbilder; Hochschullehrer und ihre Studenten saßen in einer Gruppe beieinander.
Bei so viel Trennendem stand für uns das Kennenlernen, die Verständigung und Wertschätzung sowie die Beziehungspflege unter den Projektmitgliedern stets im Vordergrund gegenüber einem möglichen Streit über die „wirklichen" Probleme heutiger Schulen oder das „richtige" Konzept zur Problemlösung. Der Wunsch, das Vorhaben gemeinsam zu wagen, das Risiko des Projekts nach innen und außen gemeinsam zu verantworten, erleichterte das Finden pragmatischer Kompromisse und die Konzentration auf den jeweils nächsten Schritt.
Die vorgängige Freundschaft einiger Projektmitglieder und ihre z. T. gemeinsamen Erfahrungen mit der Gestaltpädagogik erleichterten diese Vorgehensweise und waren eine gute Basis, die neu hinzukommenden Projektmitglieder und Teilnehmer in diesen Kreis mit aufzunehmen.
Die offene Aussprache über unsere Ideen und Erwartungen, über Enttäuschungen und Beglückendes, über Ansprüche der Institutionen „in unserem Rücken" wie über eigene Ängste, Grenzen und biografische Verletzungen erleichterte es uns, gemeinsam das Wagnis und die erhebliche finanzielle Verantwortung zu tragen, oft in Vorleistung zu gehen und evt. Finanzierungslücken in Kauf zu nehmen, da z. B. die entsprechenden Bewilligungsbescheide aus Brüssel weit hinter den verbindlich zugesagten Terminen und den bereits festgelegten Projekttreffen bei uns eintrafen. Das Modell der offenen Verständigung, getragen von Wertschätzung des anderen und dem gemeinsamen Interesse, dass es keine Verlierer geben möge, das Prinzip der Einigung auf kleine pragmatische Schritte mit der Bereitschaft jederzeit um- oder gegenzulenken, wenn es nötig erschien (d. h. ein Prinzip der „Fehlerfreundlichkeit") sowie die Verlässlichkeit, „die Suppe gemeinsam auszulöffeln", deren Zutaten wir gemeinsam ausgewählt hatten, haben uns geholfen,