Systemische Wirtschaftsanalyse. Günther Mohr

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Systemische Wirtschaftsanalyse - Günther Mohr


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Maturana und Francisco Varela haben diese Eigenbezogenheit jedes Systems in seiner evolutionär gewachsenen Struktur besonders betont. Eingriffe von außen in ein System sind nur unter besonderen Bedingungen möglich: »Es gibt keine instruktive Interaktion.« Man kann ein Humansystem – etwa einen Menschen oder eine Gruppe – nicht einfach per Instruktion zu etwas anderem bewegen, das nicht seinem ursprünglichen Programm entspricht. Es sei denn, man koppelt dies sehr genau an seine Struktur an. Dieses Pacing (Mitgehen mit dem anderen) ist die Voraussetzung für Leading, also irgendeine Form von Führung. Dies stellen alle »Reformer« immer wieder fest. Auch viele Projekte der Entwicklungspolitik mussten hier Lehrgeld bezahlen, weil sie die Strukturmechanismen eines fremden Systems nicht verstanden und nicht passend ankoppeln konnten.

      Die strukturerhaltende Funktion zeigt beispielsweise auch der schon erwähnte Besitztumseffekt. Man kann ein System zu nichts zwingen, man kann es zwar vernichten, aber zu nichts zwingen. Mit dieser Feststellung Maturanas und Varelas wird die Selbstbezogenheit von Systemen noch deutlicher (Maturana/Varela 1987):

      Systemisch intervenieren bedeutet, aus der aktuellen Situation heraus unter Kenntnis des Bisherigen Veränderungen einzuleiten.

      Systemisch bedeutet in diesem Sinne auch, pragmatisch vorzugehen. Max Weber hat die Tendenz zur Rationalität, aber auch zur Bürokratisierung beschrieben. Unter den »Großen Vier« – Marx, Nietzsche, Freud, Weber – ist er vielleicht der systemischste, weil er keine Heilslehre entwickelt hat, keine neue Gesellschaft wollte, keinen neuen Menschen entwickelte, keine Befreiung vom Trieb erstrebte, sondern Einzelhypothesen für die Entwicklung aufstellte.

      Für die Wirtschaft gibt es ein wesentliches systemisches Spannungsfeld, das zwischen der Mikro- und der Makroperspektive. Die Mikroperspektive beschäftigt sich mit dem Handeln des einzelnen Wirtschaftssubjekts, also des privaten Haushaltes, des Unternehmens oder eines Staatsorgans. Die Makroperspektive beschäftigt sich mit dem Zusammenwirken des ganzen Systems. Diese Perspektive korrespondiert interessanterweise mit der Polarität der individuellen und der systemischen Sichtweise.

      Die systemische Perspektive, also die Makroebene einzunehmen ist für uns Menschen schwer zu begreifen. Darauf wies schon der bekannte systemische Theoretiker Matthias Varga von Kibéd hin (Varga v. Kibed o. J.). Menschen sind im systemischen Denken wenig geübt, da es ein Abstrahieren und ein Lösen vom kurzfristigen Erleben erfordert. Es liegt Menschen normalerweise näher, vom Einzelnen auf das Ganze zu schließen. Wenn ich wenig Geld habe, muss ich sparen. Das gilt für eine Familie und ein Unternehmen. Für eine gesamte Volkswirtschaft gilt dies aber nicht unbedingt. Wie die Wirtschaftshistorie mehrfach gezeigt hat, kann dies fatale Folgen haben, wie beispielsweise die restriktive Wirtschaftspolitik in Deutschland in den 1920er-/30er-Jahren, die oft mit dem Namen des Reichskanzlers Heinrich Brüning in Verbindung gebracht wird. Unterbleibt die ergänzende Nachfrage des Staates, werden dem gesamten Wirtschaftskreislauf Mittel entzogen. Wenn der Staat notwendige Investitionen unterlässt, müssen Unternehmen ihre Mitarbeiter entlassen, die dann wiederum kein Geld zum Konsumieren haben. Die Schraube dreht nach unten, die Situation spitzt sich zu. Seitdem gilt, dass ein Staat in einer Krisensituation investieren muss, auch wenn es paradox klingt. Man muss wie in einer Vogelperspektive einen Abstand zu den Dingen gewinnen, um besser sehen zu können. Die Makroebene, als deutlich systemische Ebene der Wirtschaft, braucht eine eigene Perspektive.

      Die Entscheidungen des einzelnen Individuums und die Bewegungen des Gesamtsystems Wirtschaft hängen zusammen, haben Rückwirkungen aufeinander und oft ist ihr Zusammenhang nicht vorhersehbar. Hier bewahrheitet sich der alte Spruch: »Prognosen sind vor allem schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen.« Eine interessante Methodenkombination, um dieses Spannungsfeld zu betrachten, stellt die systemische Transaktionsanalyse dar. Sie verbindet den systemischen Ansatz mit der Transaktionsanalyse, die auf individuelle und überschaubare Beziehungskonstellationen gerichtet ist. Die Transaktionsanalyse stellt dabei eine Art Kernkonzept der Psychologie dar, weil sie die Verhaltensebene mit tiefenpsychologischer Betrachtung und humanistischem Menschenbild verbindet (Mohr 2008, 2010). Die Transaktionsanalyse besticht durch eine Orientierung am konkreten Verhalten der Menschen, ihren Transaktionen. Zudem hält sie kreative, optimal komplexitätsreduzierende Modelle für menschliche Reaktionen zur Verfügung und zeigt eine entwicklungsoptimistische Kultur. Mehr dazu in den Bücher zur Transaktionsanalyse (Mohr 2008, 2010). Ihr größter Vorteil besteht darin, dass ihre für die Mikroeinheit konzipierten Modelle sehr gut mit der systemischen und der Makroperspektive zu verbinden sind. Insofern habe ich eine Reihe von Einzelmodellen zur psychologischen Erklärung von Verhalten (Grundbedürfnisse, Denkbezugsrahmen, Ausblendung von Wirklichkeit, Rollen etc.) aus der Transaktionsanalyse bezogen. Das folgende Modell der Systemdynamiken zeigt ein Zusammenwirken aus systemischem Ansatz und Transaktionsanalyse.

      Der System- und Kreislaufcharakter der Wirtschaft lässt sich mit zehn Perspektiven in vier Feldern analysieren. Als Felder habe ich die Strukturen und Prozesse sowie das Gleichgewichtsstreben (Balancen) und die Pulsation an den äußeren und inneren Grenzlinien eines Systems angenommen. In diesen Feldern habe ich wiederum je zwei bis drei Dynamiken identifiziert. Diese zehn Systemdynamiken will ich jetzt auf das System Wirtschaft anwenden (siehe Abbildung 1).

      Die erste Perspektive ist die der Aufmerksamkeit. Wirtschaftsfragen sind grundlegend komplex und alles ist miteinander verbunden, Mensch, Natur und Technik. Deshalb lenkt die Aufmerksamkeit hier das Denken und Handeln und fokussiert immer nur Teilaspekte, auch weil die Komplexität die Fähigkeit des menschlichen Gehirns übersteigt. Aber aus dieser Fokussierung werden häufig Schlüsse gezogen, die dann mehr oder weniger für das ganze System passen.

      Die zweite Perspektive ist die der Rollen. Man muss sich klar machen, dass bestimmte Individuen verschiedene Rollen in einem System besetzen. Ein Beispiel ist die Rolle des Kapitaleigentümers, des Produzenten, des Konsumenten oder des regulierenden Staates. Bernd Schmid definiert die Rollen als zusammenhängende Muster mit bestimmtem Denken, Fühlen, Verhalten (Schmid 1994).

      Darüber hinaus treten die Rollenträger in bestimmte Beziehungen zu anderen Rollenträgern. Die Art der Beziehung hängt wiederum maßgeblich von deren individuellen Eigenschaften ab. Das lässt sich leicht nachvollziehen. Wie sind etwa zwei zentrale Wirtschaftsbeziehungen, die Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehung und die Gläubiger-Schuldner-Beziehung definiert? In den Beziehungsdynamiken ist vor allem auch die Frage der Macht zu stellen. Welche Machtformen spielen eine Rolle? Spezifische Beziehungsmuster charakterisieren ein System. Aufmerksamkeit, Rollen und Beziehungen sind die drei Perspektiven, die die Struktur eines Systems beschreiben.

      Im nächsten Schritt kann man die typischen Prozesse analysieren, die jedes Teilsystem wie auch die Wirtschaft als Ganzes charakterisieren: Das sind Kommunikations-, Problemlöse- und Erfolgsprozesse. Die Wichtigkeit von Kommunikation im persönlichen und beruflichen Leben ist jedem sofort einleuchtend. Wer hat keine Erfahrung mit Missverständnissen, Fehlern durch mangelnde Kommunikation oder der Erleichterung nach einem klärenden Gespräch? Wird die Kommunikation offen und fair geführt oder ist die Wirtschaftskommunikation charakterisiert durch subtile Werbebotschaft auf der einen und gerichtliche, juristisch spitzfindige Auseinandersetzung auf der anderen Seite?

      Wie Probleme angegangen werden, ist ebenfalls ein charakteristisches Zeichen für ein System und es lohnt sich, diesen Prozess zu analysieren. Werden die Kosten des Wirtschaftens realistisch einbezogen oder – wie in vielen Großprojekten – wird ein Teil ausgeblendet? Dieses Phänomen der externen Kosten ist heute ein sehr zentrales bei vielen


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