Dag Hammarskjöld. Hermann J. Benning
Читать онлайн книгу.Kräften ein; die Menschheit hat es auch ihm zu verdanken, dass es nicht zu einem Dritten Weltkrieg kam. Dabei kannte er auch herbe Enttäuschungen, Verleumdungen, tiefe innere Verletzungen und eine lange dauernde persönliche Einsamkeit. Die schmerzlichen Erfahrungen behielt er zeitlebens für sich, er rang damit allein und hielt den Herausforderungen stand, blieb darin bis am Ende immer ein Fragender.
Aus menschlicher Sicht ist sein früher Tod eine Tragödie, doch sein Lebenswerk ist ein bleibendes Vermächtnis. Die Vereinten Nationen sah Hammarskjöld nicht in erster Linie als eine Organisation für Staaten, sondern für die in ihnen lebenden Völker und Menschen. Für viele, besonders in den Entwicklungsländern, wurde er zu einem Hoffnungsträger, zumal sein Engagement auch der Bekämpfung von Armut, Hunger, Krankheiten und Analphabetismus in der Welt galt.
Dass dieses Buch anlässlich des 60. Todestags von Dag Hammarskjöld bereits in dritter Auflage als aktualisierte Neuausgabe erscheinen kann, zeugt von dessen ungebrochener Wertschätzung und Bedeutung. Was Hammarskjöld für die Neuordnung und Zukunft einer menschenwürdigen Weltgemeinschaft geleistet hat, bleibt wegweisend in den alten und neuen Krisen und Herausforderungen unserer Zeit und für die kommenden Generationen.
Hermann J. Benning
DIE FAMILIE HAMMARSKJÖLD
Dag Hammarskjöld entstammte einer in Schweden hoch angesehenen adeligen Familie, in der es über Jahrhunderte Tradition war, in Staat, Gesellschaft und Kirche, Wissenschaft und Wirtschaft zu dienen. Am Südrand des Vättersees liegt die Stadt Jönköping, bis vor einigen Jahrzehnten das Zentrum der schwedischen Zündholzindustrie. Dort kam Dag in der Villa Liljeholmen im gleichnamigen Stadtteil am 29. Juli 1905 zur Welt. Er war der jüngste von vier Söhnen des Ehepaares Agnes, geb. Almqvist, und Hjalmar Hammarskjöld. Seine Eltern hatten sich 1884 kennengelernt und sechs Jahre später geheiratet. Sein Vater (1862–1953) war im Stammsitz der Hammarskjölds geboren, dem kleinen Gut Tuna ganz nahe bei Vimmerby, dem Geburtsort der Schriftstellerin Astrid Lindgren in der südschwedischen Provinz Småland.
Die mittlerweile gründlich erforschte Ahnengeschichte der Familie reicht zurück bis zu dem Rittmeister Peder Michelsson (um 1560–1640), der Oberst und Statthalter von Öland wurde. König Karl IX. hatte ihn 1610 für seine Verdienste ums Vaterland geadelt und ihm das kleine Rittergut Tuna mit drei weiteren ländlichen Anwesen in der Umgebung geschenkt; dazu bekam er den Adelsnamen Hammarskjöld und das Familienwappen mit zwei überkreuzten Hämmern auf weißem Schild; es setzt den neuen Namen der Familie heraldisch ins Bild. „Nennen Sie mich Hämmerschild“, so antwortete Hammarskjöld einmal einem englischsprachigen Journalisten auf die Frage, wie man seinen Namen aussprechen müsse.
Viele Nachfahren des adeligen Rittmeisters machten in den vergangenen vier Jahrhunderten Karriere im Staatsdienst, als Politiker und Diplomaten, ranghohe Offiziere, Wissenschaftler und Industriemanager. Die Hammarskjölds übernahmen Verantwortung für ihr Land und gehörten zur Elite Schwedens.
Auch Dags Vater und seine drei Brüder standen in dieser Tradition: Sein ältester Bruder Bo (1891–1974) arbeitete als Jurist im Range eines Staatssekretärs im Sozialministerium und regierte danach 23 Jahre die historische Provinz Södermanland in Mittelschweden. Sein Bruder Åke (1893–1937) wurde ebenfalls Jurist und Diplomat; als er 44-jährig starb, war er seit einem Jahr Richter am Ständigen Internationalen Gerichtshof des Völkerbundes in Den Haag. Der Journalist Sten Hammarskjöld (1900–1972) verklagte 1965 erfolgreich Presseorgane wegen Verleumdung seines Bruders, weil sie den Verdacht in die Welt gesetzt hatten, dieser habe seinem Leben selbst ein Ende gesetzt. Der Bruder des Vaters, ihr Onkel Carl Gustaf (1865–1940), war am Ende seiner beruflichen Laufbahn General und Stabschef der schwedischen Armee.
Hjalmar Hammarskjöld, der Vater, hatte an der traditionsreichen Universität Uppsala Jura und Philosophie studiert. Der junge Wissenschaftler arbeitete danach als Dozent für Zivilrecht an der dortigen Hochschule, ab 1891 als Lehrstuhlinhaber. So wohnte das junge Ehepaar Hammarskjöld zunächst in der einstigen königlichen Residenzstadt nördlich von Stockholm. Als Hjalmar Hammarskjöld 1895 in den Dienst des Justizministeriums berufen wurde, übersiedelte die Familie mit den bereits geborenen Söhnen Bo und Åke nach Stockholm. Hjalmar qualifizierte sich auch im Völkerrecht und machte weiter Karriere: Als parteiloser Konservativer wurde er 1901 Justizminister und war ab 1904 Mitglied des Haager Schiedshofs. Nach dem gescheiterten Versuch einer Wahlrechtsreform schied er bereits 1902 aus dem Kabinett aus und wurde Präsident des Appellationsgerichts von Götaland für ganz Südschweden in Jönköping, wo Dag 1905 zur Welt kam. Am Tag seiner Geburt weilte sein Vater in Stockholm. Er wurde eine Woche später zum Kultusminister ernannt und leitete damals als Experte für Internationales Recht die Verhandlungen über die Auflösung der schwedisch-norwegischen Union, die noch im gleichen Jahr erfolgte. Dags Taufe wurde wegen der Abwesenheit seines Vaters aufgeschoben; erst zwei Monate nach seiner Geburt wurde er auf die Namen Dag, Hjalmar, Agne und Carl getauft. Der altnordische Vorname Dag ist dem Wortstamm nach verwandt mit „Tag“ (schwedisch dag), was ursprünglich „Zeit, da die Sonne brennt“ bedeutet.
Als sein Vater 1906 Gesandter und kurz darauf Generalkonsul an der Schwedischen Botschaft in Kopenhagen wurde, lebte die Familie in der dänischen Hauptstadt. Dieser Aufenthalt währte aber nur kurz, denn im nächsten Jahr trat Hjalmar an die Spitze der Regierung der Provinz Uppsala, was er als persönliche Auszeichnung empfand. Die schwedische Amtsbezeichnung landshövding entspricht dem heute noch in Österreich und Südtirol gebräuchlichen Titel „Landeshauptmann“; in früheren Zeiten waren das in Schweden die Statthalter des Königs. Sein Amtssitz war das alte Wasa-Schloss in Uppsala, wo Dag einen Großteil seiner Kindheit und Jugend verbrachte und das ihm zur Heimat wurde. Dags Vater war ein konservativer Intellektueller, loyal zur schwedischen Krone, bestimmt im Auftreten und sehr reserviert. Manche in Uppsala nannten ihn den „Einsiedler auf dem Schloss“. Befreundet war er mit Nathan Söderblom, damals Professor für Religionsgeschichte und Kollege an der Universität Uppsala, später Wegbereiter der ökumenischen Bewegung und Friedensnobelpreisträger.
Während des Ersten Weltkriegs, von 1914 bis 1917, stand Hjalmar Hammarskjöld als Ministerpräsident Schwedens an der Spitze einer Beamtenregierung, die König Gustav V. eingesetzt hatte. Wegen der unnachgiebigen Durchsetzung einer Lebensmittelrationierung wurde er von Landsleuten als „Hungerskjöld“ beschimpft. 1918 wurde der Gelehrte durch die Aufnahme in die Schwedische Akademie geehrt, zu deren Aufgabe auch die Verleihung der Nobelpreise für Literatur gehört. Von 1923 bis 1938 war er Abgeordneter im Schwedischen Reichstag und leitete von 1929 bis 1947 die Nobel-Stiftung. Hjalmar Hammarskjöld starb 1953 im hohen Alter von 91 Jahren, sechs Monate nach dem Amtsantritt seines Sohnes als Generalsekretär der Vereinten Nationen. Als Kind und Jugendlicher profitierte Dag von den Kontakten seines Vaters mit führenden Intellektuellen; von ihm selbst übernahm er ein ausgeprägtes Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein, Selbstdisziplin und unbeirrtes Festhalten an persönlichen Überzeugungen im Reden und Handeln. Die bisweilen autoritäre Strenge und Zurückhaltung seines Vaters in der Äußerung von Gefühlen wirkten auch auf Dag, der sich dafür umso stärker mit seiner Mutter verbunden fühlte.
Seine Mutter Agnes (1866–1940) war in Stockholm geboren und aufgewachsen. Ihr Vater, ein Halbbruder des Schriftstellers Carl J. L. Almqvist, verantwortete im Staatsdienst den schwedischen Justizvollzug. Der älteste bekannte Vorfahre ihrer Familie war ein kirchlicher Würdenträger, der Superintendent Abraham Almqvist (1699–1760).
Da Agnes’ Mann beruflich vielseitig beschäftigt und häufig unterwegs war, führte sie besonnen Regie im Haus. Güte, Rechtschaffenheit und der Glaube an Gott zeichneten sie aus; dies vermittelte sie auch ihren Söhnen, ebenso wie Toleranz aus Respekt vor der Würde jedes Menschen. In ihrer liebenswürdigen, herzlichen Art schenkte sie den Kindern mütterliche Zuneigung und Geborgenheit.
Ganz im Gegensatz zu ihrem Mann war Agnes ausgesprochen kontaktfreudig. In ihren freien Stunden schrieb sie gern Briefe; sie interessierte sich besonders für Literatur und las viel in ihrer Freizeit. Ihre persönlichen Verdienste für die Zivilgesellschaft würdigte König Gustav V. 1930 mit einem hohen Orden. Zehn Jahre danach starb sie und wurde in Sigtuna bestattet. Zu Dags Konfirmation