Hungern für die Liebe. Cassandra Light
Читать онлайн книгу.Ich vermisse sie. Am liebsten würde ich jetzt mit allen dreien über den Weihnachtsmarkt schlendern.
Alles duftet und sieht nach Weihnachten aus. Zusammen basteln, Gestecke machen, Fenster schmücken, in der Stube sitzen. Schön weihnachtlich.
Ach wäre das schön, bei ihnen zu sein. Ich würde auch alles dafür tun, doch sie lassen mich bestimmt nicht, denn ich könnte auch schnell sterben, wenn etwas danebengeht.
Aber ich würde versprechen, dass nichts danebengeht – wirklich.
Hilf mir doch bitte, lieber Gott. Ich vermisse sie.
Es ist erstaunlich, was für eine Sicherheit hinter diesen Worten steckt. Die Sicherheit und das damalige Vertrauen in mein Leben – das Vertrauen, dass ich nicht daran sterben würde. Die Gewissheit, dass es noch nicht an der Zeit war zu gehen. Vielleicht auch gemischt mit Leichtsinn oder der gespürten Grenzenlosigkeit. Dem Körper kaum Essen zuzuführen war mehr, als nur über körperliche Grenzen zu gehen. Es war quasi selbstverständlich, die Warnsignale des Körpers zu überhören und trotzdem zu leben.
Im Gegensatz zu Zeiten vor der Klinik. Zu diesen Zeiten hatte ich, wie bereits beschrieben, des Öfteren das Gefühl, mein Herz würde bald stehen bleiben und es wäre vorbei. Daran kann ich mich sehr genau erinnern. Ich erinnere, dass ich im Bett lag und mein Herz kaum noch schlug. Kurz vor dem Ende.
Da war diese Sicherheit am Wanken.
Ich kann nicht dafür garantieren, wenn ich sage, dass ich anhand dieses Wissens den Vergleich ziehen darf, dass ich es innerlich gespürt hätte, wenn das Ende nah war. Ich glaube, ich hätte es gemerkt, denn da kann man nicht mehr drüber hinwegsehen.
Montag, der 04.12.2000
Heute hatte ich keine Bettruhe. Ich habe 100 Gramm zugenommen. Morgen habe ich Geburtstag und ich hoffe, ich bekomme keine Bettruhe. Ich hoffe auch, dass ich Besuch von Mutti, Vati und Marleen bekomme.
Ich vermisse sie so sehr. Die Schwester hat mir gerade einen schönen Gruß von Mutti und Marleen bestellt. Mutti wollte bestimmt horchen, ob alles in Ordnung ist.
Ich könnte den ganzen Tag heulen.
Das alles an meinem Geburtstag – na toll.
Ich sterbe bald vor Sehnsucht, sie fehlen mir so und mein Herz ist fast am Springen, so schmerzt alles.
Diese Worte sind direkt aus meinem Tagebuch. Nichts wurde verändert. Wie deutlich, bildlich und genau ich meine Gefühle beschrieb, finde ich wundervoll. Schmerzhaft und berührend und für mich kaum zu fassen, wie ich unbewusst die seelischen Leiden auf die körperliche Ebene brachte.
Jetzt als erwachsene Frau frage ich mich von Zeit zu Zeit: Warum stolpert denn mein Herz so? Um schließlich darauf zu kommen, dass es vielleicht Sehnsucht ist.
Man überhört so viel, je mehr Erfahrungen man im Leben gesammelt hat.
Es braucht viel Mut, weich und gefühlvoll zu bleiben oder es wieder zu werden, trotz vieler Verletzungen.
Ich hoffe so sehr, dass ich morgen keine Bettruhe bekomme und dass sie mich besuchen. Ich muss es ihnen doch sagen, mit dem Vorschlag.
Wenn nicht, dann möchte ich nur noch bis Weihnachten hierbleiben, und dann zu Hause würde ich es ihnen beweisen, dass ich essen kann.
Nach Weihnachten möchte ich hier nicht mehr her, aber ich weiß auch nicht, ob ich es bis dahin hier aushalte.
Erschreckenderweise dreht sich so vieles darum, dass ich wieder nach Hause komme. Da ist das Gefühl des Eingesperrtseins. Enge, Angst, Hoffnung, Traurigkeit. Ein lebensbedrohliches Gefühl für einen Menschen. Erst recht für ein Kind.
Wenn ich das so lese, dann möchte ich diesem Kind so gerne helfen. Dem Kind, das ich damals war.
Heute war ich zur Einzeltherapie, so um 14.00 Uhr.
Oh Gott, das war schrecklich. Ich musste danach so heulen. Auch schon während des Gespräches.
Ich habe mich danach im Spiegel angeguckt. Ich war kreidebleich und so habe ich mich auch gefühlt.
Mein Magen und mein Herz waren wie zugeschnürt. Ich dachte, ich sterbe vor Schmerz und Sehnsucht.
Ehrlich gesagt waren mir diese intensiven Gefühle und das Leid, das ich zu der Zeit erfahren musste, nicht in diesem Maße bewusst. Erst jetzt, wo ich diese Zeilen niederschreibe, bin ich sprachlos, was da für Gefühle in mir vorgingen.
Für mich erklären sich jetzt viele Ängste und Gefühle, die ich heute manchmal kaum aushalte und von denen ich nicht wusste, woher sie kamen. Doch ich sehe, sie haben ihren Ursprung genau dort. Dort, wo ich hilflos auf mich allein gestellt war. Wo ich Angst vor Tod, Bestrafungen wie Bettruhe und unendliches Heimweh hatte. Das Gefühl, allein zu sein.
Ich bin dankbar dafür, dass ich damals mein Tagebuch hatte. Das Schreiben und die damit verbundene Hoffnung hielten mich am Leben.
Kaffee habe ich aber trotz der Sehnsucht und der schrecklichen Gefühle getrunken. Danach habe ich mein Kalendertürchen geöffnet.
Als ich bei einer anderen war, die auch magersüchtig war, hat sie mich etwas gefragt und ich musste losweinen. Ich habe ein bisschen mit ihr erzählt und dann habe ich von ihr einen Schokoriegel bekommen – ich habe ihn auch gegessen, denn Mittag war heute auch nicht so gut.
Außerdem möchte ich morgen nicht im Bett liegen – ich habe Angst.
Das Mädchen hat mich ein bisschen aufgebaut und mir klargemacht, dass ich essen muss. Sie ist wegen Depressionen und so hier, Magersucht hatte sie auch – jetzt aber nicht.
Eben habe ich Abendbrot gegessen, nachher gibt es noch Spätstück. Drücke mir mal die Daumen, dass es etwas ist, was ich auch esse – es ist so oft Pudding. Hoffentlich kann ich diese Nacht schlafen. Nachts ist die Sehnsucht immer so groß.
Hauptsache, sie besuchen mich und ich habe KEINE Bettruhe.
Hilf mir doch bitte. Ich habe Angst und möchte nach Hause. Ich vermisse sie alle so sehr.
Es fällt auf, dass das Tagebuch immer mehr zum festen Ansprechpartner für mich wurde. Traurig und hart, nur noch diesen Halt gehabt zu haben. Dieses eine kleine Licht.
Mein Geburtstag in der Klinik
Dienstag, der 05.12.2000
Hallo liebes Tagebuch!
Toll. Heute ist mein Geburtstag.
Heute Morgen, als ich gewogen wurde, ist es 34,8 kg geblieben.
Das heißt eigentlich Bettruhe – die habe ich aber nicht.
Die Schwestern haben das, glaube ich, nicht bemerkt oder wegen meinem Geburtstag »übersehen«.
Ich glaube, Mutti hat heute Morgen angerufen. Weil: Eine Schwester sollte von Mutti fragen, ob sie mich besuchen dürfen. Ich habe zur Schwester gesagt: »Ja!«, und dann hat sie Mutti Bescheid gesagt.
Ich hatte doch erst am Anfang gesagt, sie sollen mich nicht besuchen, aber ich glaube, das kann ich auch nicht. Wenn ich sie gar nicht sehe, halte ich es auch nicht aus.
Nur wenn ich sie sehe, ist das Heimweh doch so groß. Ich hoffe, sie kommen, ich vermisse sie doch so. Hauptsache, mein Wunsch geht in Erfüllung. Sie sollen mich mitnehmen. BITTE.
Wenn man diese Worte liest, möchte man sich nicht