Säkulare Ethik. Karl-Heinz Brodbeck

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Säkulare Ethik - Karl-Heinz Brodbeck


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motiviert sind. Wer sein eigenes Wohl auf Kosten anderer durchsetzt, ist im ethischen Sinn ein reiner Egoist. Und wer sein eigenes Wohl gänzlich für andere opfert, ist ein reiner Altruist. Beide Extreme – obgleich sie vorkommen – sind eher selten. Der Buddha sagte:

      »Sich selber schützend, schützt man die anderen; die anderen schützend, schützt man sich selbst.« (SN 47.19){19}

      Die Begriffe Egoismus und Altruismus werden zu ethischen Extremen, wenn man diese Formel in seinem Handeln nicht berücksichtigt.

      Um diesen Unterschied im ethischen Sinn besser zu verstehen, ist zu klären, ob man die Differenz zwischen »eigen« und »fremd« auf Motive, Handlungen oder Handlungsresultate bezieht. Wer aus reinem Selbstinteresse andere einbezieht, mag zwar im Resultat auch das Gemeinwohl fördern. Seine Motivation bleibt gleichwohl egoistisch. Billigt man nur dem Motiv einen ethisch relevanten Charakter zu, so wäre solch eine Handlung moralisch gleichwohl abzulehnen. Blickt man dagegen auf das Handlungsergebnis, so kann eine in diesem Sinn egoistische Handlung gleichwohl ethisch positiv bewertet werden. Es war in der europäischen Moraltheorie eine Revolution des Denkens, als die Motivation (die Tugenden) in der Beurteilung durch den Blick auf Handlungsresultate ersetzt wurde. Eingeleitet wurde dies durch Bernard Mandeville, der in seiner Schrift The Fable of The Bees: or, Private Vices Publick Benefits (1714) zu zeigen versuchte, dass sogar moralisch verwerfliches Handeln dem Gemeinwohl nützen kann: Die Verschwendungssucht der Fürsten z.B. förderte die Produktion, das Handwerk usw., brachte damit wirtschaftlichen Fortschritt hervor und machte viele Menschen reicher. Adam Smith hat diesen Gedanken Mandevilles von seinem provokativen Charakter weitgehend befreit und sich in der Beurteilung der Wirtschaft auf das Ergebnis, nicht die moralische Bewertung der Motivation konzentriert. Das Motiv kann und soll sogar rein egoistisch bleiben, meinte Smith. Berühmt ist der Satz aus seinem ökonomischen Hauptwerk The Wealth of Nations (1776):

      »Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil. Niemand möchte weitgehend vom Wohlwollen seiner Mitmenschen abhängen.«{20}

      In der ethischen Diskussion hat gerade der Blick auf die Wirtschaft zum einen zum Utilitarismus geführt, der jede Handlung nur nach Kosten und Ertrag moralisch bewertet, zum anderen aber auch zu Kants Begriff der Pflicht, worin man auch ohne persönlich-emotionale Überzeugung eine Handlung einfach deshalb ausführt, weil es vernünftig ist. Beide Positionen werde ich noch genauer darstellen (vgl. Kapitel 2.4 und 2.5). Dass man die Auffassung von Smith nicht mehr als Urteil über die Funktionsweise einer Geldökonomie, des Kapitalismus, naiv übernehmen kann, erwähne ich hier nur am Rande: Interessen werden durch Werbung und PR manipuliert; Märkte, die bei Smith nur dem Interessenausgleich dienen, sind vielfach von großen Banken und Konzernen im durchaus egoistischen Interesse beherrscht. Und dies – wie Wirtschafts- und Schuldenkrisen belegen – gegen die Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung. Smiths dialektischer Gedanke, dass gerade der Egoismus in der Wirtschaft das Gemeinwohl fördere, hat sich empirisch als unhaltbar erwiesen: Das Wirtschaftswachstum wird zwar nachdrücklich vom ökonomischen Egoismus gefördert, zieht aber zugleich eine breite Spur des Hungers, der sozialen und ökologischen Verwüstung hinter sich her. Der Versuch wiederum, den Egoismus durch Anreize und staatliche Institutionen »einzusperren« und so zu lenken, hat sich gleichfalls als Illusion erwiesen.{21} Die Moral lässt sich nicht durch nicht-moralische Mittel verwirklichen. Der Funke des Egoismus ist schon lange auf Unternehmen, von dort auf ganze Staaten übergesprungen und führt im Kampf um Rohstoffe und Absatzmärkte zu politischen Gegensätzen, die nur allzu oft auch in Kriegen eskalieren.

      Die von Adam Smith versuchte Auflösung des Gegensatzes von Egoismus und Gemeinwohl führte Max Weber noch zu einer anderen Differenzierung. Er hat zwischen »Verantwortungsethik« und »Tugendethik« unterschieden. Die Verantwortungsethik orientiert sich nur an den Resultaten des Handelns, die Gesinnungsethik nur an der Motivation. Weber sagt,

      »es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt (…) oder unter der verantwortungsethischen: dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.«{22}

      Nun kann man jede Handlung durch drei Elemente charakterisieren: (1) Handlungsziel, (2) Handlungsdurchführung und (3) Handlungsergebnis. Viele Irrwege in der Begründung einer Ethik kommen dadurch zustande, dass man diese drei Begriffe nur abstrakt nebeneinander stellt und dabei stillschweigend voraussetzt, dass moralisches Handeln das unabhängige Tun eines Individuums ist. Die Moral kommt, so die Vorstellung, immer erst nachträglich zum individuellen Tun hinzu. Doch keines der drei genannten Elemente des Handelns ist rein individuell zurechenbar und somit auch nicht exklusiv einer moralischen Beurteilung fähig. Deshalb ist die von Max Weber eingeführte, vielfach zustimmend rezipierte Trennung von Gesinnungsethik – die rein auf individuelle Motive abzielt – und Verantwortungsethik – die Handlungskonsequenzen heranzieht – nicht haltbar. Es liegt hier gar kein Gegensatz vor. Auch der gesinnungsethische Egoist bleibt von anderen Menschen und der Natur völlig abhängig; und der gesinnungsethische Altruist muss, um seine Ziele für andere zu erreichen, erstens sich selbst erhalten und zweitens in seinem Streben für das Wohl anderer durchaus auch selbstbezogen sein und sich oft gegen Konventionen durchsetzen. Um gesinnungsethisch ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen, bedarf es der Kooperation mit anderen, damit auch einer zugehörigen, an der Gemeinschaft orientierten Motivation, die man in der Gegenwart mit den Begriffen »Fairness« oder »Teamgeist« bezeichnet.

      Ich werde deshalb die Weber’sche Unterscheidung, trotz ihrer Popularität, nicht mehr benutzen. Wenn ich nachfolgend den Begriff »Egoismus« verwende, dann ist damit stets das rein selbstsüchtige Verhalten auf Kosten anderer, auf Kosten der Gemeinschaft oder der Natur gemeint. In diesem Sinn ist die Ethik immer eine Kritik des Egoismus. Eine egoistische Moral, die nur für einen einsamen Robinson gelten würde, wäre unsinnig. Der reine Egoismus richtet sich aus Selbstinteresse immer auch gegen die Interessen anderer und ist insofern schlicht unmoralisch – sieht man davon ab, dass er gar nicht vollständig denkbar, durchführbar oder universalisierbar ist. Auch der reine Egoist ist auf die Hilfe anderer angewiesen; auch nackte Gewalt braucht willige Helfer, die ein rein egoistischer Herrscher immerhin versorgen und motivieren, damit seinen Egoismus einschränken muss. Andererseits führt auch der Begriff »Altruismus« zu vielen Missverständnissen. Ich werde ihn deshalb systematisch im dritten Teil durch »Mitgefühl« ersetzen und das auch ausführlich begründen.

      2 SYSTEME ABENDLÄNDISCHER MORALBEGRÜNDUNG

      2.1 EINLEITUNG

      Die hier zu behandelnden Fragen setzen die Antwort auf eine ganz andere Frage voraus: Ist eine säkulare Ethik überhaupt möglich? Obgleich es gerade die Philosophie der Aufklärung – nicht zuletzt der englisch-schottischen – war, die die Morallehre aus der religiösen Umklammerung zu lösen versucht hat, finden sich nach wie vor Stimmen, die das für unmöglich halten. Der US-amerikanische Philosoph William K. Frankena hat die Auffassung vertreten, dass alle moralischen Werte letztlich einen religiösen, sogar theologisch zu bezeichnenden Ursprung haben:

      »Ethische Urteile können nur durch logische Ableitung aus theologischen begründet werden; das bedeutet, sie hängen logisch ab von religiösen Glaubensvorstellungen für ihre Rechtfertigung.«{23}

      Auch Hans Küng steht dieser Auffassung nahe. In seiner Besprechung von Küngs Buch Projekt Weltethos sagt Robert Spaemann:

      »Die Frage, ob Moralbegründung ohne Religion möglich sei, ist seit dem 18. Jahrhundert immer wieder erörtert worden. Küngs Antwort lautet: Unreligiöse Menschen sind oft hochmoralisch. Allerdings kann nur die Religion diese Moralität begründen, vor allem die Unbedingtheit sittlicher Verpflichtungen in Fällen, wo sittliches Handeln mit schweren Nachteilen für den Handelnden verbunden ist. Diese These scheint mir richtig, aber sie stellt die Frage nicht, wie wichtig Begründungen für ein Ethos sind.«{24}

      Spaemanns Einwand ist wohl zutreffend: Gleichgültig, ob man die Frage nach der Möglichkeit


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