Säkulare Ethik. Karl-Heinz Brodbeck

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Säkulare Ethik - Karl-Heinz Brodbeck


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wären demnach schon fast verdammt.

      Die Begründung der Moral in theistischen Systemen gehorcht einer einfachen Logik: Weil Gott in seiner Offenbarung diese oder jene Regel als gültig verkündet hat, muss sie jeder Gläubige auch befolgen. Nichtbefolgung wird bestraft, wie ein Verstoß gegen eine Rechtsregel. Dies allerdings gewöhnlich noch nicht im Diesseits, in der Welt (»Mein Reich ist nicht von dieser Welt«), sondern im Leben danach, nach dem Tod, im Jenseits. Dort finden sich dann Lohn und Strafe für die Taten, gemessen an den offenbarten Moralregeln. Da Gott der Schöpfer aller Dinge ist, gibt es auch eine gottgemäße Gesellschaftsordnung. Die Regeln für das menschliche Zusammenleben sind letztlich aus den Offenbarungsschriften zu entnehmen. Hier unterscheiden sich allerdings die theistischen Systeme deutlich: Im Hinduismus wird die Kastenordnung (eine Klasseneinteilung der Gesellschaft) mit vielen Regeln recht genau vorgeschrieben. Der Buddha hat das, wie bereits gesagt, nachdrücklich kritisiert. Auch im Islam gibt es aus dem Koran oder der späteren Tradition genaue Vorschriften, wie die Gesellschaft zu gestalten ist (vgl. Scharia-Gerichtsbarkeit). Im Judentum und Christentum sind eher nur einzelne Regeln zu finden, die zudem einer Interpretation bedürfen. Beispiel »Zinsverbot«: In der Thora, im Alten Testament, ist nur das Zinsnehmen vom jüdischen Bruder verboten; von Nichtjuden darf Zins genommen werden. Dieses Gebot wurde im Christentum – mit erheblichem theologischen Interpretationsaufwand – verallgemeinert, was sich in den Wucher-Gesetzen auch rechtlich normiert niederschlug. Später hat man durch andere theologische Deutungen (Calvin im Protestantismus im 16. Jahrhundert, Oswald von Nell-Breuning für den Katholizismus im 20. Jahrhundert) dieses Verbot wieder »aufgehoben«. Da die Vorschriften im Koran eindeutiger sind, gilt das Zinsverbot im Prinzip im Islam immer noch (in der Praxis aber mit vielen Ausnahmen durch finanztechnische Tricks). Eine genau formulierte Sozialethik gibt es in allen Offenbarungsreligionen nur in Ansätzen, die jeweils einer Interpretation bedürfen.

      Die meisten Moralregeln, die aus den »heiligen Schriften« entnommen werden, haben einen tugendethischen Charakter – im Sinn der griechischen Definition. Das heißt, sie zielen zuerst auf die je individuelle Vollkommenheit. Diese Vollkommenheit des Lebenswandels kann im Christentum eigentlich nur durch eine Trennung von der säkularen Welt endgültig erreicht werden – in Klöstern oder im Priesteramt. Dieser Gedanke ist durchaus der frühbuddhistischen Vorstellung verwandt, dass eine wirkliche Befreiung nur in der »Hauslosigkeit«, also der Trennung vom alltäglichen Leben der Menschen gefunden werden kann: in der »Waldeinsamkeit« (wie es in den Pali-Schriften heißt) oder im Kloster. Die Regeln für die Alltagswelt sind in diesem Verständnis immer nur vorläufig oder unvollkommen. Durchbrochen wird dieser Gedanke in dem Zugeständnis, dass auch gewöhnliche Menschen ohne Trennung vom weltlichen Leben den Stand der Heiligkeit erlangen können, wenn auch eher selten. Die Regeln für das menschliche Zusammenleben haben stets den Charakter des Vorläufigen, der nur der erste Schritt hin zur vollständigen Abkehr vom säkularen Leben ist. Dies ist ein ursprüngliches Dilemma aller religiösen Moralbegründungen. Der Islam macht hier eine gewisse Ausnahme. Er fordert in seiner fundamentalistischen Form keine Abkehr vom weltlichen, säkularen Leben, sondern dessen völlige Verwandlung gemäß der überlieferten religiösen Moral (Scharia). Es ist keine Moral für das säkulare Leben, sondern dessen völlige religiöse Überformung, weshalb Bewegungen wie der Wahabismus oder der Salafismus eine fast rein politische Form annehmen. Daneben dürfen im Islam die Ansätze zu einer säkularen Modernisierung gerade nicht übersehen werden.

      Nun befindet sich eine theistische Moralbegründung allerdings noch in einem weiteren, sehr spezifischen Dilemma. Es gibt ja mehrere »Offenbarungen« Gottes. Teils beziehen sie sich aufeinander (wie Neues und Altes Testament), teils sind sie nur äußerlich beeinflusst (wie der Islam durch Judentum und Christentum), teils sind es ganz eigene Traditionen (Zoroastrismus, Brahmanismus). Trotz einiger wichtiger Übereinstimmungen in moralischen Fragen gibt es hierbei auch große Unterschiede, die durchaus praktische Konsequenzen haben. Einige Traditionen fordern, Ehebrecher zu steinigen – wie die Thora bzw. die Bibel (Lev 20,10; Dtn 22,22), auch der Steinigungsvers im Hadith, der vermutlich ursprünglich zum Koran gehörte (Sure 33). Dies widerspricht durchaus diametral der Botschaft von Liebe und Mitgefühl im Neuen Testament (Joh 8,1-8,11). Und das ist nur ein Beispiel. Hier unterscheiden sich die theistischen Systeme teils gravierend. Nicht nur hat der jeweilige Schöpfergott einen anderen Namen (Isvara, Jehova, Vater, Allah), er äußert sich auch in seiner Offenbarung sehr unterschiedlich. Der Begriff »Schöpfergott« bringt nur den gemeinsamen Gedanken zum Ausdruck, dass die Welt die Tat eines von ihr getrennten personalen Wesens ist, das von der Welt auch getrennt bleibt. Setzt man »Gott« und »Schöpfung« gleich (wie Baruch Spinoza), so wird dies als Pantheismus von den traditionell-theistischen Systemen allgemein abgelehnt.

      Welcher Offenbarung soll man also folgen? Solange Völker völlig isoliert lebten, war dies eine Scheinfrage: Es gab in einer Region eben nur eine Offenbarung. Doch gerade das säkulare Leben, besonders der Fernhandel, brachte die Menschen bereits früh in Kontakt zueinander und führte damit für die Moralbegründung zu einer zentralen Frage: Welcher Offenbarung soll man vertrauen? Da die Religionen den Anhängern einer je anderen teilweise die ewige Verdammnis oder Mord und Totschlag androhen, wird die Wahl der Religion zum Glückspiel. Die Gläubigen einer anderen Religion sind für die Anhänger der eigenen eben Ungläubige; deshalb drohen sich diese Religionen wechselseitig auch offene Gewalt dafür an, dass andere an eine andere Offenbarung glauben.{37}

      Das ist für eine säkulare Ethik ein fundamentales Hindernis, wenn man auf die Toleranz der religiösen Systeme setzt. Da mit den göttlichen Strafen zugleich die abstoßendsten Vorstellungen verbunden sind, liegt hier das Haupthemmnis für eine interreligiöse Verständigung. Es gibt hier – neben unschönen aktuellen Beispielen aus vielen Ländern – eine durchaus vielfältige unheilvolle Tradition. Das christliche Abendland hat keinen Grund, mit dem Finger auf andere Religionen zu zeigen, auch nicht das reformierte Christentum des Protestantismus: Bekannt sind Luthers Drohungen gegen die Juden und seine Forderung nach einem »Kriege wider die Türken« (d.h. den Islam). Es lassen sich viele Stellen der katholischen und protestantischen Theologie anführen, die sogar das Mitgefühl der Erlösten mit den Verdammten ausdrücklich verbieten.{38} Auch wenn viele kritische Theologen aus allen religiösen Systemen ihre Tradition nicht mehr in diesem Geist auslegen, so liegt hier doch ein prinzipielles Hemmnis für eine säkulare Moralbegründung vor: Wenn die Moral nur aus einer Offenbarung abgeleitet wird, wenn ferner die Entscheidung, welcher Offenbarung man vertraut, nicht seinerseits begründet wird, dann befindet sich eine Moralbegründung aus dem Glauben in einer säkularen Welt in der Sackgasse: Es gibt da innerhalb der theistischen Systeme keinen Ausweg.

      Eine auf den ersten Blick raffinierte Begründung, weshalb man dennoch der Offenbarung vertrauen soll, hat Blaise Pascal entwickelt. Als Philosoph und Mathematiker war er mit dem Glücksspiel vertraut. So versuchte er, die Entscheidung für den Glauben an die Offenbarung durch ein Glückskalkül, die berühmte Pascal’sche Wette, zu begründen. Der Gedanke ist einfach zu skizzieren: Pascal betrachtet die Entscheidung, zu glauben oder nicht zu glauben, als eine Entscheidung unter Unsicherheit. Sich für oder gegen den Glauben zu entscheiden ist aber kein Abwägen von gleichartigen Gütern, meint er.{39} Die Kosten, der Aufwand, den die Moral von uns verlangt, sind relativ niedrig. Aber der zu erwartende Lohn, die ewige Seligkeit, ist ein unendlicher Gewinn. Wenn es nun auch nur – das wird auch ein Skeptiker zugeben – eine winzige Chance gibt, dass die Offenbarung wahr ist, dass die versprochene Seligkeit als Lohn für moralisches Handeln unendlich ist, dann ist der erwartete Gewinn immer noch unendlich. Denn: Eine noch so kleine Wahrscheinlichkeit mit einer unendlichen Größe multipliziert, ergibt immer noch eine unendliche Größe. Die Waagschale schlägt also eindeutig zugunsten des Glaubens aus. Selbst wenn man nicht überzeugt ist – Pascal vertritt eine Morallehre, die nur auf das faktische Handeln, nicht die innere Überzeugung blickt –, so ist der Lohn überragend. Ist das Gegenteil der Fall, trifft also das offenbarte Versprechen der ewigen Seligkeit nicht zu, so hat man kaum etwas verloren. Im Gegenteil. In diesem Argument liegt Pascals säkular-ethische Konsequenz aus seiner Wette. Er sagt zu einem Gesprächspartner, dem er seine Wette schmackhaft machen will: Falls Sie die Wette verlieren (es gibt keine ewige Seligkeit), dann besteht immer noch ein positiver Nutzen.

      »Sie werden treu, ehrbar, demütig, dankbar, wohltätig, ein aufrichtiger und wahrhafter Freund sein. In Wahrheit: Sie werden sich nicht mehr


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