Tödlicher Spätsommer. Ursula Dettlaff
Читать онлайн книгу.ersten im dänischen Ferienhaus, führte sie ihr Weg natürlich ebenfalls an den Strand. Sie ahnte nicht, dass dies das letzte Mal sein würde. Der Besuch kam völlig überraschend.
Juttas erste Nacht in den Ferien war kurz. Sie konnte sich wie immer nicht satt sehen an diesem unglaublichen Naturschauspiel: ein Sonnenuntergang am Meer.
Als Postkarte würde ich meinen, die Farben seien nachbearbeitet und kitschig, staunte sie und blieb, wie viele andere Urlauber, bis zum frühen Morgen am Strand. Sie fühlte sich ein wenig wie ein kleines Kind, dem es schwerfiel, ein Geheimnis für sich zu behalten.
Doch der Plan, ihrem Leben eine ganz andere Ausrichtung zu geben, konnte nur gelingen, wenn er so lange wie möglich geheim blieb. – Falls nötig mit einer frechen Lüge. Es ging schließlich um ihre Zukunft.
Sie hörte quasi schon das Getratsche der Nachbarn und Kunden, wenn alles zu früh bekannt würde.
Auf welchem Weg könnte ein Mieter für das Geschenkelädchen gefunden werden? Wenn sie so den neuen Hausbesitzer unterstützen könnte, bliebe für die Meisten alles beim Alten.
Sie wurde durch das lauter werdende Klopfen an der Küchentür geweckt. Sie öffnete lediglich den oberen Teil der Tür, weil sie damit die vage Hoffnung verband, das Pyjamaoberteil könne als Bluse angesehen werden.
„Oh, habe ich dich geweckt? Das wollte ich nicht“, lautete die Begrüßung.
Jutta war völlig sprachlos. Sie versuchte, die Situation zu überbrücken, indem sie Müdigkeit vortäuschte. Sie gähnte und streckte die Arme nach oben.
Sie bedauerte den Streit der vergangenen Wochen und wusste noch keinen Ausweg.
„Ich habe frische Brötchen mitgebracht“, plapperte der Gast unbeschwert als habe es diesen Disput nie gegeben und streckte ihr die Tüte entgegen.
„Du bist mir nicht mehr böse?“, fragte Jutta und fiel dem Gast um den Hals, nachdem sie die Tür geöffnet hatte. „Wie kommst du hierher? Was machst du hier?“, sprudelte es aus ihr heraus. Sie war viel zu aufgeregt, um Antworten abzuwarten.
Die Beiden beschlossen, den Tag im nahe gelegenen Ringköbing zu verbringen. Während der Gast die Küche aufräumte, sprang Jutta rasch unter die Dusche.
Sie nahmen den Bus. Das war einfacher, als in einer fremden Stadt auf Parkplatzsuche zu gehen. Schon während der Fahrt lachten sie ausgelassen wie Teenager. Arm in Arm schlenderten sie durch die alten Gassen.
Am Hafen bestaunten sie die Fischerboote und sahen einem alten Mann zu, der ein Netz reparierte. Jutta befand sich in Shopping-Stimmung. Sie probierte T-Shirts und Blusen, taxierte sich mit bunten Schals und riesigen Sonnenhüten im Spiegel.
„Wir wären wohl doch besser mit dem Auto gefahren“, überlegten sie lachend, als Stunde um Stunde verging und die Taschen schwerer wurden.
„Wo ist eigentlich dein Wagen?“, fragte sie. „In Flensburg konnte ich mit zwei Kollegen eine Fahrgemeinschaft bilden“, erklärte der Gast. Erschöpft ließen sie sich auf eine Bank am Marktplatz fallen.
So spontan, fröhlich und unbefangen wie Jutta war Helene nie.
Helene war ernster. Sie reagierte lieber auf die Aktivitäten der Anderen, als selbst aktiv zu werden. Diese Haltung musste sie nach dem Tod ihrer Schwester ändern.
Den anstehenden Besuch schob Helene lange vor sich her. Sie wollte die Rolle der Arbeitgeberin – in gewisser Weise als Kontrolleurin – nicht annehmen. Der Gegensatz zwischen Juttas Wohnung und dem Geschenkelädchen hätte größer kaum sein können.
Helene wusste nicht, was ihr unangenehmer war: das erneute Eintauchen in Juttas Welt oder die Enge der winzigen Verkaufsfläche. Buchstäblich jeder Zentimeter schien ausgefüllt mit Wohnaccessoires, wenigen Schnitt- und Topfblumen, Aufstrich, Marmeladen, hübschem Porzellan, diversen Kristallglasartikeln.
Im Nebenraum, der dem Vorbesitzer als Personalraum gedient hatte, duftete es nach Kaffee- und Teespezialitäten sowie feinen Schokoladen und Pralinen. Eine riesige hölzerne Getreidemühle bot die Gelegenheit, den Kunden frisch gemahlenes Mehl anzubieten. Ihr Stil passte absolut nicht zu dem hochmodernen teuren Kaffeeautomaten, der neben ihr auf der Anrichte stand.
An der Wand mit Blick auf die Straße bzw. auf die Kasse stand der winzige schmiedeeiserne Tisch mit seinen beiden furchtbar unbequemen Stühlen. Die Gruppe war eher zum Betrachten als zum Benutzen gedacht, mokierte Helene sich regelmäßig.
Für eine Schwingtür war kein Platz. Die Schiebetür, die sich über die gesamte Breite des Ladens erstreckte – Juttas Idee übrigens – erwies sich in mehrfacher Hinsicht als kluge Geschäftsidee. Zum einen boten die beiden Stufen vor dem Laden gewissermaßen weitere Stellflächenebenen, zum anderen ging fast niemand am Laden vorbei, ohne einen Blick auf das Sortiment zu werfen.
„Schön, dass du mal wieder reinschaust“, begrüßte Helga ihre neue Arbeitgeberin. „Setz´ dich. Bis eben kam eine Kundin nach der anderen. Da bin ich froh, ein bisschen verschnaufen zu können. Trinkst du einen Kaffee mit?“ Helga machte sich an dem Monstrum zu schaffen. So eine Geldverschwendung, dachte Helene, eine ganz normale Kaffeemaschine hätte es auch getan.
„Nun zieh nicht so ein Gesicht“, lachte ihr Gegenüber. „Erstens ist die längst abgeschrieben und zweitens braucht man heute so ´n Ding um mithalten zu können.“
Ein wenig unsicher reagierte sie auf Helenes Bemerkung, ein Geschäft wie dieses gebe es im weiten Umkreis kein zweites Mal.
Auf Helga konnte sie sich verlassen. Sie war von Anfang an dabei, seit Jutta vor mehr als 30 Jahren den Laden eröffnet hatte. Bis vor einem Jahr arbeitete sie nur etwa 12 Stunden pro Woche, jeweils als Juttas Vertretung. Zum Glück konnte Helga nach Juttas Tod ihre Stundenzahl aufstocken.
Beide, Jutta und Helga, verband das Interesse an Mode und Zeitgeist, was dazu führte, dass das Geschenkelädchen neben der alten Stammkundschaft auch von jungen Kundinnen und Kunden frequentiert wurde.
„Wir brauchen wieder Visitenkärtchen und Aufkleber“, sagte Helga. „Druckst du uns welche?“, fügte sie hinzu.
Ein kleines Mädchen von vielleicht acht oder zehn Jahren hatte schon eine Weile unsicher vor dem Geschäft gestanden. „Ich möchte diesen Tischläufer“, sagte sie jetzt mit entschlossener Stimme und ihre Augen strahlten dabei. „Meine Mama hat nämlich morgen Geburtstag“, erklärte sie weiter.
„Oh, damit machst du ihr bestimmt eine Riesenfreude“, lächelte Helga, die schon begann, das Geschenk fächerartig in durchsichtige Folie einzuwickeln und das Ganze mit einer hübschen Schleife zu versehen.
Die Kleine zählte umständlich ihr Geld auf den Münzteller. Am Ende fehlten zehn Cent, mochte sie auch noch so gründlich die Fächer ihrer Geldbörse durchsuchen. „Schon gut“, half Helga dem Kind aus der Verlegenheit. „Hast du eine Tasche dabei?“ Das Mädchen hatte an alles gedacht. Sichtlich stolz verließ sie das Geschäft.
Helga holte eine Zehn Cent Münze aus ihrem Portmonee und legte sie in die Kasse. „Der Laden läuft gut“, sagte sie unvermittelt.
„Die Nachricht von Juttas Verschwinden breitete sich scheinbar wie ein Lauffeuer aus, fast verkaufsfördernd nach der Sommerpause. Als sie dann gefunden wurde, wollten wohl alle die aktuellen Neuigkeiten erfahren und später stellten sie fest, dass das Geschäft von den Angestellten weitergeführt wurde“, erläuterte Helga.
„Es ist keine Goldgrube, aber mit mir als Vollzeitkraft und der Teilzeitbeschäftigten wirft es immerhin so viel ab, dass du den Job in der Buchhandlung eigentlich an den Nagel hängen könntest“.
Helga legte den Arm um Helene. „Ich weiß doch, wie schwer es dir fällt, dass sie nicht mehr da ist“, tröstete sie, schnäuzte mit lautem Trompeten in ein ziemlich benutztes Taschentuch und fügte mit belegter Stimme hinzu: „Sie fehlt uns allen sehr.“
Helene spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. „Ich muss jetzt gehen“, schluchzte sie und wandte sich ab. Helgas Frage: „Und was soll jetzt werden?“