Mit anderen Augen. Peter Brandt L.

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Mit anderen Augen - Peter Brandt L.


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war, wie man sieht, noch nicht entdeckt …

      Als Kind muss ich den Vater, so wird berichtet, bei allen sich bietenden Gelegenheiten mit Fragen aller Wissensbereiche gelöchert haben. Zugleich wollte ich ihm stets mitteilen, was mich bewegte. Auf Spaziergängen um den Schlachtensee, ein solcher dauerte etwas über eine Stunde, erzählte ich ihm gern die Handlung der soeben zu Ende gelesenen Romane, etwa Jules Vernes »Kurier des Zaren« oder Felix Dahns »Kampf um Rom«. Mit großer Geduld und, wie mir schien, sogar mit Freude hörte er sich diese Schilderungen an.

      Zweifellos profitierte ich davon, dass unsere Wohnung, hauptsächlich das väterliche Arbeitszimmer, immer voller Bücher war: Nachschlagewerke, Belletristik, darunter preiswerte Klassikerausgaben verschiedener Ursprungsgebiete und Sprachen, Sachbücher, nicht nur politische und historische, sozialistische Broschüren und Hefte aus vergangenen Jahrzehnten, doch auch Schriftgut ganz anderer ideologischer Ausrichtung, nicht zuletzt aus der NS-Zeit. Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater mich jemals gebremst oder angeleitet hätte, wenn ich in seinen Schätzen stöberte und schmökerte. Nur Zurückstellen sollte man das Entnommene. Die Vorstellung, dass man durch »falsche« Lektüre infiziert werden könnte wie von einem Bazillus, war ihm fremd. Zumindest bei den Söhnen vertraute er auf die letztendliche Kraft der Vernunft.

      Wenn Vater da war und sich Zeit für die Familie, die Söhne oder einen von ihnen nahm, dann war er auch präsent. Ich erinnere mich an Brett- oder Kartenspiele, an Fahrten mit dem Ruderboot auf dem Schlachtensee, an Museums- und Theater-, seltener an Kinobesuche. Auch an Ausflüge in dörfliche Ortsteile und zu den um Berlin reichlich vorhandenen Wäldern und Seen. Gelegentlich ging es in den Ostsektor. Die sowjetisch besetzten Stadtbezirke konnten bis August 1961 problemlos besucht werden. So fuhren wir 1960 zum berühmten Pergamonaltar. Diese privaten Besuche in Ost-Berlin hatten wohl auch etwas Demonstratives. Der Westberliner Senat beanspruchte (wie ursprünglich der Ostberliner Magistrat), die legale und legitime Regierung ganz Berlins zu sein. Und der Viermächtestatus beinhaltete bis zum Mauerbau nach allgemeiner Auffassung eben auch die Freizügigkeit in der ganzen Stadt.

      1959 wurde ein Fernsehapparat angeschafft. Zur Premiere durften auch die Söhne nach der Tagesschau, die schon damals um 20 Uhr gesendet wurde, einen Film anschauen (was sonst nicht geduldet wurde). Der TV-Konsum blieb nach heutigen Maßstäben bescheiden. Es gab zu dieser Zeit auch nur »West-« und »Ostsender«. Vater fand ohnehin höchstens am späteren Abend Zeit, den Kasten einzuschalten. Er benutzte ihn mehr und mehr als Mittel der Entspannung, sofern man bei einem Thriller wie »Lohn der Angst« mit Yves Montand von Entspannung sprechen kann. Während der Ausstrahlung dieses Films im ARD-Programm soll er ein Weinglas zerdrückt und sich dabei verletzt haben.

      Das andere Wohlstandssymbol, das Auto, gab es da schon. 1957 hatte meine Mutter den Führerschein gemacht und erwarb die erste Familienkutsche, einen VW-Käfer. Vaters Rolle war die des Beifahrers, Kartenlesers und Wegweisers. Nach wenig überzeugenden Versuchen in den späten vierziger Jahren (so die Meinung der Mutter) hatte er davon Abstand genommen, das Autofahren zu erlernen. Das war in seiner Generation und auf seinem Einkommensniveau schon damals eher die Ausnahme, hatte aber noch nichts Exotisches an sich. Erleichtert wurde diese Abstinenz dadurch, dass er, wie damals nicht ungewöhnlich, schon als Vertreter des SPD-Vorstands in Berlin, dann als Präsident des Abgeordnetenhauses und Regierender Bürgermeister einen Dienstwagen gestellt bekam – mit Chauffeur. In der Bürgermeisterzeit war das Georg Maria Holly, der schon Ernst Reuter gefahren hatte. Für die Söhne Brandt war er nur der heißgeliebte »Onkel Holly«, der in den langen Wartezeiten und sogar außerhalb des Dienstes sich tatsächlich wie ein Onkel um uns kümmerte (er hatte selbst wohl keine Kinder). Einmal bastelte er mit uns und unseren Freunden sogar stabile Holzschwerter, Schilde aus Sperrholz, die wir bemalten, und Helme aus dicker Pappe, sodass wir Ritterspiele mit einer zünftigen Ausrüstung abhalten konnten.

      Ich weiß nicht, wie zu dieser Zeit die Regeln für den Gebrauch von Dienstwagen beschaffen waren. Jedenfalls wurde die Grenze zwischen dienstlichen und privaten Aktivitäten wohl weniger streng gezogen als heute. Damit will ich nicht nur ansprechen, dass die Grenze in manchen Berufen, wie dem des Politikers, tatsächlich fließender ist als sonst. Bei der Hin- und Rückfahrt zu Urlauben trat Georg Holly oft dann in Aktion, wenn diese mit offiziellen oder offiziösen Besuchen des Berliner Stadtoberhaupts bei Amtskollegen kombiniert waren, zumindest innerhalb Deutschlands, und das kam gar nicht selten vor. Solche Termine waren nicht an den Haaren herbeigezogen. Sie ergaben sich aus der Notwendigkeit, vor allem während der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre, also der Zeit der zweiten Berlinkrise, überall und stets für die Solidarität mit der Westberliner Halbstadt zu werben. Sicherheitsbeamte gab es damals noch nicht. Übrigens war eine Autofahrt aus Berlin nach »Westdeutschland« seinerzeit auch für den Regierenden Bürgermeister eine langwierige Angelegenheit: Vor dem Berlin-Abkommen und den deutsch-deutschen Transit- und Verkehrsverträgen von 1971/72 gab es keinen Anspruch auf zügige Abfertigung und Durchfahrt. Jedes Auto wurde mehr oder weniger gründlich inspiziert, und zu Beginn der großen Schulferien staute sich der Verkehr bei der Einreise in »die Zone« viele Stunden auf, auch für den »Regierenden«.

      Im Urlaub wirkte Vater gelöst und wie befreit und konnte die Sorgen der Berliner Amtsgeschäfte zwischendurch ganz vergessen, auch wenn er immer irgendwelche Papiere dabei hatte und brieflich oder telefonisch Kontakt mit dem Rathaus Schöneberg halten musste (was in der norwegischen Einsamkeit nicht ganz einfach war). In Erinnerung sind mir Besichtigungen der üblichen touristischen Attraktionen, etwa der Zugspitze oder der altfränkischen Kleinodien Rothenburg ob der Tauber und Dinkelsbühl, lange Spaziergänge bei jedem Wetter und abendliches Vorlesen altertümlicher Sagen. Beim Norwegenurlaub 1958 in einer einfachen Hütte las Vater allabendlich vor dem Kamin in der nur leicht modernisierten Originalsprache aus »Snorre« vor, den im Mittelalter aufgeschriebenen klassischen Königs- und Heldensagen der Wikingerzeit. So etwas vergisst man nicht, zumal ich damals mehr in der Welt der Sagen und Rittergeschichten lebte als in der Gegenwart.

      Mag sein, dass mein Vater seit den siebziger Jahren keine Lust mehr hatte zu angeln. In der Zeit, die ich in seiner Nähe lebte, war er ein passionierter Angler, sachkundig assistiert von Lars, der die Freizeitbeschäftigung, obwohl ein Kind, ebenfalls mit Ernst und Ausdauer betrieb. Mir war das Angeln meistens zu langweilig. Vater suchte in dieser Beschäftigung vermutlich frische Luft und meditative Einsamkeit. Dieses Bedürfnis muss stark gewesen sein. Bei sommerlichen Familienurlauben, sei es in Fischbachau in Oberbayern 1959, wo er stundenlang in fließenden Gewässern nach Forellen fischte, oder in Gjendesheim im norwegischen Hochgebirge 1962 war er überwiegend mit dem Angeln beschäftigt. In Gjendesheim war der ohnehin nicht besonders warme Sommer im Jahr 1962 so spät gekommen, dass der an sich fischreiche Gebirgssee schlechterdings nichts hergab. Das hinderte meinen Vater aber nicht daran, jeden Vormittag erneut hinaus zu rudern und sein Glück zu versuchen, oftmals in Begleitung von Lars. Dass die Laune dabei nicht besser wurde, ist verständlich.

      Die Unterkunft während dieses norwegischen Gebirgsurlaubs war eine Holzhütte, die der Osloer Regierung gehörte, mit offenem Kamin als Heizung (eine Heizung war auch im Sommer dringend erforderlich) und Außenklo. Ich erhielt den Titel »Dr. W. C.«, weil ich mich, um anderer Hausarbeit zu entgehen, bereit erklärte, jeweils den Eimer mit den Fäkalien zu entsorgen. Da diese Art Hütten niedrig gebaut sind, stieß sich mein Vater beim Gang von einem Raum in den anderen fast regelmäßig den Kopf. Dabei fluchte er wahlweise auf Deutsch »Scheiße!« oder »Mist!« oder auf Norwegisch »Fan!«, was soviel wie »Teufel« bedeutet und ein ziemlich drastischer Fluch ist.

      1963 war ich nur noch zur Hälfte dabei. Die ersten drei Wochen der Ferien fuhr ich mit den »Falken« in das jährliche große Sommerlager, diesmal im Allgäu, in der Nähe von Füssen, wo ich ein Zelt mit gleichaltrigen Insassen zu leiten hatte. Das war keine leichte Aufgabe für einen Vierzehnjährigen. Anschließend stieß ich zu den Eltern und Geschwistern, die in Alpbach in Tirol Urlaub machten. Dort pflegte sich auch der Schriftsteller Arthur Koestler mit seiner südafrikanischen Frau zu erholen. Koestler, der sich bei Vater später schriftlich für die »eigenhändig« gefangenen Fische bedankte, kam mir reichlich überspannt vor. Als bekehrter Exkommunist entgegnete er heftig auf meine sicher etwas grobschlächtige Kritik am »freien Westen«. Mit blitzenden Augen hielt er mir vor, es seien »junge Burschen« wie ich gewesen, die beim Ungarn-­Aufstand im Herbst 1956 auf die sowjetischen


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