Mit anderen Augen. Peter Brandt L.

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Mit anderen Augen - Peter Brandt L.


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manchmal auch mit seiner damaligen Frau Dorothea (die sich dauerhaft mit Rut anfreundete), Sohn Wolfgang und Tochter Marion. Ich werde nie vergessen, wie mich Egons Äußerung elektrisierte, nach Adolf Hitler hätte »der Separatist« Adenauer (nebst Ulbricht) am meisten zur Verhinderung der Wiedergeburt Deutschlands als eines einheitlichen souveränen Staates beigetragen. Vater, der dabei war, kommentierte diese Äußerung nicht, obwohl er meine Verwirrung bemerkt haben muss.

      Zum Freundeskreis der Familie Brandt gehörten auch nordeuropäische Diplomaten und Journalisten, Iris und Frank Holte, Hjørdis und Oddvar Ås, »Poppi« und Per Monsen aus Norwegen, Christina und Dieter Winter sowie Astrid und Bo Jærborg aus Schweden. Mit den nordischen Freunden sang mein Vater deutsche Volks- und Fahrtenlieder, darunter sein Lieblingslied aus der Jugendbewegung, das auch mein Lieblingslied werden sollte: »Wilde Gesellen«. Dazu spielte er damals noch auf seiner Mandoline.

       Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht, Fürsten in Lumpen und Loden, ziehn wir dahin, bis das Herze uns steht, ehrlos bis unter den Boden. Fidel Gewand in farbiger Pracht trefft keinen Zeisig ihr bunter, ob uns auch Speier und Spötter verlacht, uns geht die Sonne nicht unter.

       Ziehn wir dahin durch Braus und durch Brand, klopfen bei Veit und Velten. Huldiges Herze und helfende Hand sind ja so selten, so selten. Weiter uns wirbelnd auf staubiger Straß immer nur hurtig und munter. Ob uns der eigene Bruder vergaß, uns geht die Sonne nicht unter.

       Aber da draußen am Wegesrand, dort bei dem König der Dornen. Klingen die Fiedeln ins weite Land, klagen dem Herrn unser Carmen. Und der Gekrönte sendet im Tau tröstende Tränen herunter. Fort geht die Fahrt durch den wilden Verhau, uns geht die Sonne nicht unter.

       Bleibt auch dereinst das Herz uns stehn, niemand wird Tränen uns weinen. Leis wird der Sturmwind sein Klagelied wehn, trüber die Sonne wird scheinen. Aus ist ein Leben voll farbiger Pracht, zügellos drüber und drunter. Speier und Spötter, ihr habt uns verlacht, uns geht die Sonne nicht unter.

      Emotional und intellektuell wichtiger waren für Willy Brandt jedoch die Verbindungen zu politischen Freunden, früheren Genossen der linkssozialistischen SAP, der er ja von 1931 bis 1944 angehört hatte. Stefan und Erszi Szende, beide aus wohlhabenden ungarisch-jüdischen Familien stammend, die fast vollständig in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern ermordet wurden, gehörten dazu. Wie alle linksgerichteten Juden, die ich im Umfeld meines Vaters kennenlernte, so auch Valtr und Luci Taub, waren oder schienen sie areligiös zu sein und im Übrigen völlig frei von antideutschen Affekten. Das Leid, das ihnen vom »Dritten Reich« zugefügt worden war, führten sie – und das war ihnen äußerst wichtig – nicht auf »rassische«, sondern auf politische Verfolgung zurück.

      Der undogmatische Denker und Zeitdiagnostiker Fritz Sternberg, der 1963 verstarb, war ein sehr geschätzter politischer Gesprächspartner Willy Brandts, ebenso Irmgard und August Enderle, die mit Vater im Stockholmer Exil gewesen waren und mit ihm zusammen den Weg in die SPD fanden. Der schwäbische Facharbeiter und Gewerkschafter August Enderle gehörte gewissermaßen zum Adel der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung: Von der SPD und USPD ging er zum Spartakusbund und zur KPD, von der KPD zur KPD-Opposition, von dort zur SAP und zur SPD. Das war ein Lebensweg, für den Vater hohen Respekt hatte: seine Grundüberzeugungen nicht aufgeben, auch nicht einer pervertierten Parteidisziplin unterordnen, sondern einen glaubhaften Weg suchen, der sich an den Realitäten orientiert und neue Einsichten zulässt. Ein ganz anderer Typ war Boris Goldenberg. Sein Exilland hieß Kuba, wo er als Lehrer auch den Sohn des Diktators Batista unterrichtete. Er erlebte den Umsturz durch Fidel Castro und erzählte bei Besuchen zum Teil haarsträubende Begebenheiten aus der Zeit des alten Regimes und der Kubanischen Revolution. Der relativ reiche Inselstaat hätte völlig unter Kontrolle der USA und des Batista-Clans gestanden und sei eine Art Bordell für US-amerikanische Gangster gewesen. Castro hatte, so Goldenberg, mindestens 95 Prozent der Kubaner hinter sich, als er die Macht übernahm. »Ich wünsche Fidel alles Gute – es wird aber nicht funktionieren.« Den hingerissenen Brandt-Söhnen, die sich Fidel Castro als eine Mischung von Robin Hood und Florian Geyer vorstellten, beantwortete Goldenberg geduldig jede Frage.

      Horst Lison war ein jüngerer Freund meiner Eltern und gewissermaßen mein »großer Bruder«. Er hatte mal einem Schul- und Spielfreund von mir Privatunterricht gegeben. Ich durfte einige dieser Nachhilfestunden mitmachen, sie bereiteten mir einen Riesenspaß. Doch mit dem Erlernen des Lateinischen als erster Fremdsprache wehte irgendwann auch bei mir der Wind schulischen Lernens schärfer. Die meisten Mitschüler erhielten von ihren Eltern Unterstützung. Bei mir ging das nicht, wegen beruflicher Überbeanspruchung einerseits und Fehlens höherer Schulbildung andererseits. Da wurde Horst Lison zu einem Helfer in der mehr oder weniger großen Not. Nicht nur für mich, sondern auch für Lars. Aus Gründen, die mir heute nicht mehr erklärlich sind, ging ich ab der Sexta nicht gern zur Schule. Meine Leistungen waren in der Summe so etwas wie guter Durchschnitt. Allerdings wurde damals strenger benotet als heute, und eine gar nicht so kleine Zahl von Jugendlichen wiederholte am Gymnasium mindestens eine Klasse. Meinem väterlich-brüderlichen Freund sei Dank, geriet ich nie in diese Gefahrenzone. Doch die wichtigste Spätfolge seines Einsatzes war, dass er mir das konzentrierte geistige Arbeiten beibrachte.

      Horst, der sein Diplom in Psychologie um ein Medizinstudium ergänzte, wurde von meinen Eltern häufig gebeten, nach dem Unterricht noch zu bleiben. Daraus ergaben sich, vor allem mit Vater, oft lange Gespräche über Politik. Bei einigen dieser Unterredungen war ich dabei, und ich erinnere mich, wie Horst von autoritären Tendenzen in der Bundesrepublik sprach. In seinem Freundes- und Kommilitonenkreis habe man vereinbart, im Falle des Falles nicht zuzuwarten, bis ein diktatorisches Regime sich gefestigt hätte, sondern umgehend Widerstandszellen zu bilden. Horst war ein Mann der Tat. Als die innerstädtische Demarkationslinie in Berlin mit den Absperrungsmaßnahmen des 13. August 1961 zur beinahe unüberwindbaren Grenze wurde, organisierte er – wie so viele – nichtkommerzielle Fluchthilfe. Sein Zirkel kümmerte sich speziell darum, an der Freien Universität studierende Ostberliner, die keine Chance hatten, ihr Studium an der Humboldt-­Universität oder einer andern Hochschule der DDR fortzusetzen, mithilfe gefälschter Pässe nach West-Berlin zu schaffen. Das ging eine Zeitlang gut. Aber in einer der Gruppen, die herübergeschleust wurden, befand sich ein Spitzel. Horst wurde verhaftet, endlos verhört, auch über Willy Brandt. Er gab sich naiv und räumte nur ein, was schon bekannt war. Nach mehrmonatiger Haft im Stasigefängnis in Hohenschönhausen wurde er zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt.

      Mein Vater bemühte sich intensiv um seine Freilassung, und nach knapp zwei Jahren gelang dies im Rahmen eines Gefangenenaustauschs und mit der Hilfe der Anwälte Stange (West-­Berlin) und Vogel (Ost-Berlin), die sich seit 1962 um humanitäre Dinge kümmerten. Horst Lison wurde später Leiter von kinderpsychiatrischen Kliniken. Nach seiner Freilassung traf er meinen Vater just an dem Tag wieder, als John F. Kennedy in Berlin war, also am 26. Juni 1963. Trotz des hohen Gastes nahm Willy Brandt sich Zeit, den frisch aus der Haft Entlassenen im Rathaus Schöneberg zu empfangen. Niemals, so erzählte Horst später, hätte er Willy wieder so fröhlich erlebt, nie mehr sei Willy in seiner Gegenwart so aus sich herausgegangen. Der Bürgermeister umarmte den Ankömmling heftig und schüttelte lange seine Hand. Bis heute hat diese Freundschaft Bestand.

      Immer wieder ist zu lesen, dass nach der »Wahlniederlage« von 1965 zwischen den Eheleuten Brandt ernsthaft diskutiert worden sei, sich nach Norwegen zurückzuziehen. Tatsächlich war mein Vater aufgrund des SPD-Wahlergebnisses von 39,3 Prozent tief deprimiert und hatte öffentlich seinen Verzicht auf eine weitere Kandidatur erklärt. Im Familienkreis hatte er den Gleichstand von CDU/CSU und SPD, wenigstens den Sprung über die 40-Prozent-Marke prognostiziert. Die Söhne bekamen von dem, was zwischen den Eltern beredet wurde, nichts mit. Allerdings schüttete Mutter mir ihr mitleidendes Herz aus, weinte und sprach


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