Wohltöter. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.Vielleicht können Sie mehr Druck aufsetzen.«
»Ausgerechnet ich als blutiger Neuling?«
»Unterschätzen Sie sich nicht. Sie haben das Ohr des DCI, da bin ich mir ganz sicher. Er erkennt Kompetenz sofort, auch wenn er nichts vom Fach versteht.«
Sie schaute ihn misstrauisch an. Nahm er sie auf den Arm? Als sie seinen ernsten, gespannten Ausdruck sah, errötete sie leicht. »Ich kann’s versuchen«, meinte sie unsicher. »Aber das hilft mir in unserm Fall nicht weiter. Sie erwähnten externe Labors. Meinten Sie ein Bestimmtes?«
Er entspannte sich. »Aber sicher«, lächelte er. »Meine Tochter arbeitet als Assistentin im Chemielabor des Imperial College.«
»Zufälle gibt’s. Und ihr Massenspektrometer funktioniert?«
Er brach in schallendes Gelächter aus. »Davon können wir wohl ausgehen«, rief er, »ebenso wie alle andern Geräte, von denen wir hier nur träumen können.«
Beim Blick auf die Uhr erschrak sie. Höchste Zeit, sich zu verabschieden. Der DCI und die rote Zora erwarteten sie in der Pathologie.
»Na, ausgeschlafen?«, brummte DCI Rutherford mürrisch, als sie den Obduktionssaal betrat.
Einer seiner Kaktussprüche, nahm sie an und ignorierte die Bemerkung. Stattdessen grüsste sie ihn und die Pathologin freundlich.
»Treten Sie näher, meine Süße«, lockte Dr. Barclay mit ihrer rauchigen Stimme.
Der Tote vom Hampton Pier lag unter einer Decke auf dem Chromstahltisch. Einen Augenblick lang bildete Chris sich ein, selbst unter dem Tuch zu liegen. Dr. Barclay war eine attraktive Frau. Ihre forschenden und zugleich sinnlichen Blicke schnitten wie scharfe Skalpelle in ihre Seele. Das beklemmende Gefühl, ihr ausgeliefert zu sein, löste sich erst, als der DCI sich ungeduldig räusperte:
»Können wir loslassen? Wir haben nicht ewig Zeit.«
Die Pathologin schlug das Tuch soweit zurück, dass sie Kopf und Brust des Toten sehen konnten. »Männliche Leiche, 25 bis 30 Jahre alt«, begann sie. »Höchstwahrscheinlich Pakistaner aus dem Nordosten des Landes, Kaschmir vielleicht. Schürfungen am rechten Ellenbogen, beiden Unterarmen und am linken Schienbein.« Sie ergriff die rechte Hand des Toten und hielt sie Chris unter die Nase. »Abgebrochener Fingernagel am rechten Pollex und Index. Die Schürfungen hat er sich kurz vor seinem Tod zugezogen. Sonst keine äußeren Wunden.«
»An den kaputten Fingernägeln ist er wohl nicht gestorben«, brummte Rutherford.
»Sind wir schlecht gelaunt, Chief Inspector?«
»Keine Ahnung, wie du dich fühlst. Ich weiß nur, dass ich so schnell wie möglich wieder hier raus will. Also, woran ist er gestorben?«
Dr. Barclay neigte ihren Kopf, dass sie fast Chris‘ Wange berührte, und flüsterte ihr ins Ohr: »Was sagen Sie dazu, der DCI hat Angst vor Toten.« Laut antwortete sie: »Der Mann ist auf See ertrunken, und zwar eindeutig im Bereich der Themsemündung. Es muss schnell gegangen sein. Er hat sich nicht lange über Wasser halten können.«
»War er geschwächt, krank?«, fragte Chris.
Die Pathologin schenkte ihr ein warmes Lächeln, als sie antwortete: »Kann man wohl sagen. Wäre er nicht ertrunken, hätte ihn die fortgeschrittene Pneumonie getötet.«
Der Befund erstaunte Chris. »Tod durch Lungenentzündung? Ungewöhnlich bei einem so jungen Menschen.«
»Sie haben völlig recht, meine Teure. Aber dies ist kein gewöhnlicher junger Mann. Sein Immunsystem war erheblich geschwächt.«
»Drogen, HIV?«
»Nein, Medikamente. Immunsuppressoren.«
»Todkrank ertrunken, mal was Neues«, meinte der DCI kopfschüttelnd. Anzeichen, dass er ins Wasser gestoßen wurde?«
Dr. Barclay schüttelte ihren roten Pferdeschwanz. »Keine Hämatome, die darauf hindeuten. Er hat zwar alte Druckstellen an beiden Hand- und Fußgelenken, als hätte man ihn eine Weile gefesselt oder irgendwo festgebunden, aber die haben nichts mit seinem Tod zu tun.«
Rutherford rümpfte die Nase. »Also doch ein Unfall.«
»Oder eine Panikreaktion?«, vermutete Chris. Die abgebrochenen Nägel und Schürfungen deuteten für sie eher auf eine Flucht. »Vielleicht wollte er sich in letzter Minute festhalten und ist dann ins Wasser gestürzt.«
»Das wiederum kann ich mir sehr gut vorstellen«, pflichtete die Pathologin bei.
Rutherford schnaubte verächtlich. »Großartig. Halten wir uns doch an die Tatsachen: Es gibt offenbar keine Anzeichen von Gewalteinwirkung. Der Junge ist einfach ertrunken, wie du versicherst, Doctor. Damit ist der Fall wohl fürs Morddezernat erledigt.«
Dr. Barclay warf ihm einen eisigen Blick zu und wetterte: »Ich bin noch lange nicht fertig, Chief Inspector. Oder interessieren wir uns heute nicht für die Innereien?«
»Nicht wirklich. Mach es kurz.«
Sie schlug die Decke noch weiter zurück, legte den Unterleib des Toten frei. »Hier habe ich etwas Interessantes festgestellt, sehen Sie?«
Chris bemerkte zwei lange Narben zu beiden Seiten auf Taillenhöhe. »Operationsnarben«, rief sie überrascht. »Die linke sieht noch ziemlich frisch aus.«
Die Pathologin strahlte. »Dein süßer Sergeant hat eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe«, verriet sie dem DCI. »Vielleicht wissen wir auch, was man hier operiert hat?«
»Soll das ein Scheiß Quiz werden?«, gab Rutherford unwirsch zurück.
Dr. Barclay wartete schmunzelnd auf Chris’ Antwort. Sie tat ihr den Gefallen und sprach aus, was sie sofort vermutet hatte: »Nierentransplantation?«
»Bingo!«, freute sich die Ärztin.
»Man hat beide Nieren ersetzt?«
»Das nicht, sehen Sie selbst.«
Die Pathologin fasste ohne Vorwarnung in den Bauchhöhlenschnitt, zog das Gewebe auseinander, sodass sie das Innere der rechten Seite sehen konnten. Der DCI wandte sich angewidert ab, während Chris sich keine Blöße geben wollte. Sie brauchte keine medizinische Ausbildung, um festzustellen, dass die Niere auf dieser Seite fehlte. Wo das Organ liegen sollte, klaffte eine Lücke. Die Gefäße waren sauber verschlossen, die Wunden vernarbt. Man hatte diese Niere chirurgisch entfernt.
»Der junge Mann hat seine rechte Niere gespendet«, bestätigte Dr. Barclay. »Freiwillig oder unfreiwillig, das müssen Sie entscheiden.«
Sie schloss die Bauchdecke wieder und holte eine Nierenschale vom Arbeitstisch. »Das ist die andere Niere«, erklärte sie. »Und dieses Organ hat es in sich«, bemerkte sie dazu, während sie den Deckel entfernte.
Rutherford schaute nicht hin, und Chris konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Kein Wunder, hatte sie doch noch keine Niere gesehen, abgesehen von geschnetzelter Kalbsniere an Sahnesauce. Auch das nur einmal.
»Fällt Ihnen nichts auf?« Sie beantwortete die rhetorische Frage gleich selbst: »Das ist keine menschliche Niere.«
Rutherford fuhr herum, als wäre eine Bombe detoniert. »Was?«, rief er verblüfft.
»Du hast schon richtig gehört, Chief Inspector. Das hier ist keine menschliche Niere.«
»Was zum Teufel ist es dann?«
»Ich vermute, sie gehörte einem Sus domestica, bevor man sie dem Mann eingepflanzt hat.«
»Rede Klartext, verdammt.«
»Es ist wahrscheinlich die Niere eines gemeinen Hausschweins. Die Untersuchung steht noch aus.«
Chris starrte den blaugrauen Klumpen in der Schale an wie ein Wesen aus einer andern Welt. Ihr wurde übel beim Gedanken daran, einst etwas ganz Ähnliches gegessen zu haben. »Xenotransplantation«, murmelte sie bestürzt. »Das ist doch …«
»Verboten,