Unentrinnbar. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.Blicken abzuschirmen, forderten die Leute auf, den Saal zu verlassen. Endlich erwachte auch die Betriebsleitung, doch ihre Lautsprecherdurchsage ging im lauten Durcheinander unter wie das Piano der Cellistin vor wenigen Minuten. Der Notarzt und seine Helfer trafen ein. Das gedämpfte Geheul von Polizeisirenen drang durch die offenen Türen in den Saal. Als hätten sie auf dieses Signal gewartet, eilten alle Zuschauer gleichzeitig zu den Ausgängen.
Fast alle. Er ließ sich unauffällig in den Hintergrund schieben, blieb länger im Saal, beobachtete die Arbeit des Notarztes, bis er Gewissheit hatte. Der Plan verlangte, dass Margot Winter an diesem Abend sterben musste. Nun war sie tot. Gut. Er müsste zufrieden sein, doch er fühlte nichts. In seinem Innern herrschte dieselbe Leere wie zuvor. Nur leicht erstaunt war er, wie einfach es war, einen Menschen umzubringen. Die verheerende Wirkung des Gifts an der präparierten Rose war nun auch in der Praxis erwiesen. Unbeachtet lag die tödliche Blume am Boden, zertreten von einem Dutzend schweren Schuhen und spitzen Absätzen. Er schüttelte nachdenklich den Kopf. Gut war das falsche Wort. Gut war gar nichts an diesem Plan, aber er funktionierte. Der Plan erfüllte seinen Zweck. Er konnte jetzt umgesetzt werden. Um zu tun, was getan werden musste.
Die Aufregung auf dem Barfüßerplatz vor den Fenstern des ›Braunen Mutz‹ wollte nicht abebben. Trauben festlich gekleideter Menschen standen aufgeregt diskutierend auf dem Platz vor dem Stadtcasino. Davor blinkten die nervösen Blaulichter des Notarztwagens und der Polizeifahrzeuge. Jonas wandte sich ab, sah noch in den Augenwinkeln den Leichenwagen vorfahren, während ihm der erste köstliche Schluck des eiskalten Weißbiers die Kehle hinunter rann.
»Schwer was los heute«, kommentierte er das Offensichtliche.
Rosa, die betagte Serviertochter, die zum ›Braunen Mutz‹ gehörte seit Basel zur Eidgenossenschaft gestoßen war, antwortete nicht. Sie stand nur mit krummem Rücken und offenem Mund am Fenster und stellte sich taub.
Jonas angelte sich eine Salzbrezel vom Ständer, biss hungrig hinein und wartete kauend auf ihren Beitrag zum unerhörten Geschehen vor dem ehrwürdigen Haus.
»Hab ich mal in einem Film gesehen«, murmelte sie schließlich. »Da gab es am Schluss massenhaft Leichen, aber das war erst der Anfang.«
»Wie soll das gehen?«
Rosa drehte sich zu ihm um und herrschte ihn an: »Hörst du nicht zu?«
»Doch, eben – aber wie kann der Schluss erst der Anfang sein?«
»Quatsch, du verstehst das nicht, wenn du den Film nicht gesehen hast. Du gehst ja nie ins Kino, hab ich recht? Hockst lieber mutterseelenallein in deiner Giftküche, kochst die ganze Nacht Klistiere gegen Krankheiten, die erst erfunden werden müssen.«
»Elixiere.«
»Was?«
»Elixiere meinst du wahrscheinlich, nicht Klistiere. Die kocht man normalerweise nicht.«
»Klugscheißer, akademischer.«
Damit wandte sie sich ab und stampfte zum Stammtisch hinüber, wo die Gäste schon unruhig wurden.
»Was ist überhaupt los da draußen?«, rief er ihr nach.
»Siehst du doch selbst, hast ja Augen im Kopf.«
Die rüde Antwort provozierte lautstarke Heiterkeit am Stammtisch. Auch Jonas freute sich über die kalte Dusche, denn diese Art Unterhaltung war einer der Gründe, warum es ihn immer wieder in den Mutz zu Rosa zog. Jedes Mal wenn er nach Basel zurückkehrte, in die Stadt, wo alles so vielversprechend begonnen hatte. Er griff zum Bierglas, nippte nur daran, setzte es wieder ab. Der zweite Schluck schmeckte bitter, war nicht zu vergleichen mit dem ersten. Mit melancholischem Blick beobachtete er Rosa bei der Arbeit. Sein Gesicht passte nicht mehr in die fröhliche Wirtsstube. Er hockte so mitleiderregend in seiner Ecke, die angebissene Brezel wie ein ausgesetzter Schosshund neben dem fast vollen Glas, dass Rosa sich seiner erbarmte. Sie setzte sich zu ihm und fragte leise wie eine besorgte Mutter:
»Was ist los mit dir, Jonas?«
Er blickte sie lange an, unschlüssig, ob er reden wollte. Endlich machte er den Mund auf und sagte etwas ganz anderes, als er im Kopf hatte: »Früher war es gemütlicher hier.«
»Du meinst vor der Renovation?«
»Ja, irgendwie – menschlicher. Das abgewetzte Holz hatte Charakter. Es erzählte Geschichten. Man konnte sich mit ihm unterhalten. Die neuen Möbel …«
Rosa nickte beifällig. »Stimmt, die Tische und Stühle leben noch nicht, sie atmen nicht. Das schöne Zeug passt sowieso nicht zu einer alten Fregatte wie mir.« Sie brach ein Stück seiner Brezel ab, steckte es in den Mund und wartete lauernd auf seine Antwort.
Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Greif ruhig zu, bist eingeladen«, murmelte er. In seinen Gedanken war er an einem andern Ort in einer andern Zeit.
»Wie großzügig von Ihnen, Herr Doktor«, spottete die Serviererin.
Sie erhob sich ächzend, um eine Gruppe neuer Gäste zu bedienen. Das angeknabberte Gebäck blieb verloren mitten auf dem Tisch liegen. Ein Symbol für sein verlorenes Leben? Verloren war ein harter Ausdruck. Verpfuscht kam der Wahrheit näher, oder weniger poetisch: beschissen. Man brauchte kein Studierter zu sein wie Jonas, um zu erkennen, dass einzig und allein er selbst sich in diese Lage manövriert hatte. Auch kein Trost, aber immerhin wusste er, bei wem er sich beklagen musste, wenn er sich denn beklagen wollte. Dennoch benutzte er lieber das neutrale Wort Schicksal in den häufigen stillen Selbstgesprächen. Das Schicksal wollte es, dass sein Lebensweg in Mäandern nach unten führte, statt steil bergauf, wie das seiner ehemaligen Studienkollegen, die um diese Zeit den wohlverdienten Feierabend mit der neuen Freundin genossen, während die Gattin in der neuen Villa im Grünen die zwei neuen Kinder hütete. Das Schicksal führte ihn nach Jahren wieder in diese schöne Stadt, ausgerechnet an dem Abend, wo vor dem ›Braunen Mutz‹ publikumswirksam gestorben wurde. Dabei hatte er geradezu vor Zuversicht getrieft bei seinem ersten ernsthaften Bewerbungsgespräch nach dem Studium ganz in der Nähe, nur zwanzig Minuten weiter unten am Rhein. Alles war möglich, damals vor vier Jahren.
Basel, Damals
An einem wolkenlosen, eiskalten Frühlingstag betrat Jonas zum ersten Mal das monströse Atrium des Stahl- und Glaskolosses beim Park am Rhein in Basels ›Santihans‹. So nannten die Einheimischen ihr Quartier, das eigentlich St. Johann hieß. Der Hauptsitz des Pharmariesen ›Bernoulli-Graf Chemische Laboratorien AG‹, den alle seit jeher nur ›Bernoulli‹ nannten, sah aus, als hätte der Architekt versucht, möglichst viele Häuser so ineinander zu schachteln, dass das Gebilde gerade nicht auseinanderfiel. Diese zeitgenössische Skulptur bildete nicht nur den weithin sichtbaren Kontrapunkt zur städtischen Müllverbrennung in der Nähe, sondern sollte wohl andeuten, wie zukunftsgerichtet der traditionsreiche Arzneimittelhersteller war. ›Bernoulli‹ zählte sich seit Langem zur Elite der ›Big Pharma‹-Unternehmen, und zumindest in den Teppichetagen war man stolz darauf, wie Jonas schnell feststellte.
Die ältere Dame am Empfang grüßte ihn mit routinierter Höflichkeit. Man sah ihrer elegant unaufdringlichen Kleidung und dem Seidenschal als Farbtupfer die Stilberaterin an. Zweifellos von der Firma bezahlt. Er gab ihr seine Visitenkarte und stellte sich zackig vor, wie es sich in dieser vornehmen Umgebung gehörte:
»Dr. Jonas Herzog. Ich habe einen Termin bei Professor Helbling.«
Ihr Gesicht wurde augenblicklich ernst. Beinahe ehrfürchtig sah sie ihn an. Hatte man einen Termin beim verehrten Professor, gehörte man zum Adel in diesen Kreisen. Durfte man, wie er, gar von Angesicht zu Angesicht mit dem Göttlichen sprechen, musste man selbst eine Art Heiliger sein. Das jedenfalls las er aus ihrem kurzen Blick. Sie beeilte sich, den Kalender des unangefochtenen Königs der Basler Pharmaforschung zu konsultieren.
»Ah ja«, sagte sie gedehnt, als sie Jonas’ Namen auf dem Bildschirm entdeckte. Mit einnehmendem Lächeln versicherte sie: »Ich werde Sie anmelden, Dr. Herzog. Es wird sie gleich jemand abholen.«
Wichtig kam er sich vor, enorm bedeutend. Privilegiert, gleich zuoberst einzusteigen. Das hier war das wahre Leben,