Unentrinnbar. Hansjörg Anderegg

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Unentrinnbar - Hansjörg Anderegg


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Potentiometern, Kolonienzählern und Titrierautomaten ein mächtiger Erlenmeyerkolben auf einem Dreifuß über einem Bunsenbrenner stand. Darin köchelte eine giftig gelbe Flüssigkeit, in der ein paar zweifelhafte Teebeutel schwammen.

      Rohner drehte den Gashahn des Brenners zu. »Der Stift hat gerade frischen Lindenblütentee aufgesetzt«, erklärte er.

      Der Stift war der Lehrling, der sich irgendwo zwischen den Gestellen versteckte, und Lindenblütentee hatte Jonas in seinem Leben noch nie getrunken, noch nicht einmal daran gedacht. Warum auch? »Ist jemand krank?«, fragte er spöttisch und leicht schaudernd.

      Rohner nahm unbeirrt zwei Reaktionsgläser vom Regal, kippte die Stabmagnete auf den Tisch, die sich sonst in den Gläsern drehten, um die Chemikalien zu mischen, und goss die giftige Lösung ein, die er Tee nannte.

      »Ich glaube wir müssen reden«, sagte Jonas, nachdem er vorsichtig am Glas gerochen hatte.

      Allmählich störte ihn das Gefühl, zur Karikatur seiner selbst zu verkommen. Rohner, Helbling, die Brünette und wahrscheinlich sogar die adrette Empfangsdame wussten offenbar genau, weshalb er hier war, nur er selbst immer weniger. Hausers Nachfolger, Abteilungsleiter, ohne sich formell für die Stelle beworben zu haben? Die Familie ›Bernoulli‹ organisierte augenscheinlich von nun an sein Leben. Fände er bereits seinen Dienst-Mercedes in der Tiefgarage, es würde ihn nicht im Mindesten überraschen. Helbling hatte entschieden. Er war der neue Leiter der Forschungsabteilung für kardiovaskuläre Pharmazeutika. Spezialisiert auf Arzneimittel zur Vorbeugung, Linderung und hoffentlich eines Tages Heilung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Keine Frage, dass der noch jugendliche Doktor Herzog zusagen würde. Ob solcher Unverfrorenheit und arroganter Dreistigkeit vergaß Jonas beinahe, welch ausgesprochener Glückspilz er war. Wer unter allen geistig gesunden Achtundzwanzigjährigen dieses Planeten wagte auch nur von einem solchen Spitzenjob zu träumen bei einer der angesehensten Adressen der Pharmaindustrie? Eine zweifellos fürstlich honorierte Stelle, die ihm einfach in den Schoß fiel. Ein Idiot, wer da Nein sagte. Trotzdem überlegte er sich anfangs, der glücklichen Familie gleich wieder den Rücken zu kehren.

      Der widerliche Tee hielt ihn zurück. Seine Tante hatte Jonas als anständigen Menschen erzogen. Er konnte nicht das volle Glas stehen lassen. Wenigstens ein paar Mal musste er sich überwinden, am gelben Gift zu nippen, um seinen guten Willen zu zeigen. Das dauerte. So hörte er Rohner zu, wie er in seinem Appenzeller Singsang den Alltag der Basler Familie ›Bernoulli‹ schilderte. Mit der Zeit entwickelte sich Rohners Monolog zu einer angeregten Unterhaltung. Jonas fragte konkreter, erhielt präzisere Antworten. Ohne es zu wollen, empfand er mehr und mehr Sympathie für einige Hauptakteure in dieser Firma, Abneigung gegen andere, ohne sie je gesehen zu haben. Gerade so, wie einen die fiktiven Figuren eines guten Romans anzogen oder abstießen. Was er über Mitarbeiter, anstehende Projekte, die tadellose Einrichtung der Labors und das großzügige Budget erfuhr, beseitigte die letzten Zweifel.

      »Nur die Ratten sollten wir nach und nach durch Zebrafische ersetzen«, belehrte er Rohner im Versuchslabor.

      »Die Ratten werden sich bedanken«, brummte Rohner nervös. Den Umgang mit Versuchstieren überließ er offensichtlich lieber andern. »Fische hört man wenigstens nicht«, fügte er noch leise hinzu, als sie das Labor wieder verließen.

      Am Ende des Tages glaubte Jonas selbst, der richtige Mann für diesen Job zu sein. Zum Dank lud er Rohner auf ein Bier ein ohne die geringste Ahnung, wo die nächste ›Tankstelle‹ lag. So lernte er am ersten Tag schon den ›Braunen Mutz‹ und die bärbeißige Rosa kennen.

      Sein Vorgänger Hauser hinterließ große Fußstapfen, wie der blutjunge Abteilungsleiter bald einmal feststellen musste. Die älteren Semester unter den Pharmakologen, Chemikern und Biologinnen begegneten dem Fremdling skeptisch bis ablehnend, wenn Helbling nicht in der Nähe war. Es dauerte ein gutes Jahr, bis sie Jonas, dank seiner unbestrittenen fachlichen Kompetenz und Rohners tatkräftigem Lobbying, endgültig in den Schoß der Familie aufnahmen. Endlich konnte er ungestört von politischen Störfeuern arbeiten. Unter Helblings wachsamen Augen begann er, seinen aggressiven Plan umzusetzen. ›Bernoulli‹ sollte binnen zwei Jahren den Rückstand auf dem zukunftsträchtigen Gebiet der personalisierten Medikamente aufholen und zu den fünf führenden Pharmakonzernen an die Weltspitze vorstoßen. Der große Hauser hatte diese Entwicklung sträflich verschlafen. Zugegeben, Pharmacogenomics, wie die Wissenschaft der auf bestimmte genetische Voraussetzungen spezialisierten Arzneimittel in der Fachsprache hieß, war ein neuer Zweig der Pharmakologie. Für den Leiter einer Forschungsabteilung ein wichtiger Grund mehr, sich eingehend damit zu beschäftigen.

      Schon um 1900 hatte ein britischer Arzt Abhängigkeiten zwischen Genen, dem Erbmaterial, und Proteinen, den lebenswichtigen Eiweißstoffen, postuliert. Schon damals vermutete man, dass biochemische Prozesse im Menschen abhängig sein könnten von seinen individuellen Genen. Viel später allerdings entdeckte man, dass Menschen mit genetischen Variationen verschieden reagierten auf gewisse Medikamente. Und erst die neuste Forschung erlaubte Medizinern und Pharmakologen, Medikamente gezielt für bestimmte Genotypen zu testen und zu produzieren. Jonas war ein Experte in einer Technik, die den Einfluss winziger Änderungen des Genmaterials auf die Wirkung von Medikamenten zur Senkung des Herzinfarktrisikos untersuchte. Seine Tätigkeit im Labor und die seiner Mitarbeiter glichen daher eher der Arbeit der Gentechniker als derjenigen der Chemiker wie bei früheren Generationen von Pharmakologen. Helbling und das Topmanagement der Familie sahen das ungeheure Potential dieser Entwicklung sofort, mit der man große Bevölkerungsgruppen mit spezialisierten und wirksameren Medikamenten versorgen konnte und gleichzeitig das Risiko von Nebenwirkungen senkte. Jonas’ Abteilung brauchte sich wahrlich nicht um die Finanzierung ihrer Forschung zu sorgen. Andere Bereiche der Familie konnten nur neidisch zusehen, wie das Geld dem jungen Schnösel nachgeworfen wurde.

      Der Erfolg schweißte zusammen, erzeugte aber auch zunehmenden Druck. Erste feine Risse im Druckbehälter am Rheinknie erkannte Jonas bei einer läppischen Episode im Versuchslabor der Zebrafische. Die stummen kleinen Helfer hatten Ratten und Mäuse weitgehend aus seinem Labor vertrieben. Die Fische eigneten sich wesentlich besser für Untersuchungen und Testreihen, bei denen gezielt Gensequenzen ein- und ausgeschaltet werden mussten. Das funktionierte allerdings nur einwandfrei, wenn sie auch ihre Diät genau einhielten, wie es die Versuchsanordnung vorschrieb. Dafür war der Lehrling zuständig, der eines Morgens blass und verängstigt in einer Ecke neben den Aquarien hockte, stumm wie seine Fische. Es war der letzte Tag der aufwendigen, monatelangen Testreihe, die über die Zukunft des vielversprechenden Blutfettsenkers mit dem Codenamen ›BSX10‹ entscheiden sollte. Die ganze Abteilung wartete beinahe atemlos auf die Untersuchungsergebnisse aus dem Labor.

      »Sind die Messungen ausgewertet?«, fragte Jonas Rohner.

      Der stand ratlos neben seinem Stift, die Knopfaugen größer als sonst, das Gesicht leuchtend rot wie eine Wärmelampe. Er rang um Worte, bis er endlich heiser keuchte: »Potz Heidenblitz.«

      »Was ist mit euch beiden los? Hat euch ein Fisch gebissen?«

      »Potz Heidenblitz«, wiederholte Rohner kopfschüttelnd. »Wir sind tot.«

      Jonas versuchte es weiter mit Humor: »Bei unserm Stift sieht es ganz danach aus.«

      Der Lehrling rührte sich nicht. Zusammengekauert schielte er auf seine Chefs, als erwarte er nächstens eine Tracht Prügel oder Schlimmeres. Rohner hielt Jonas das Versuchsprotokoll hin mit der Bemerkung: »Drei Monate im Arsch, tut mir leid.«

      Es war eine der Situationen, die man nur schadlos überlebt, wenn die Zeit für eine Weile stillsteht. Jonas begriff auf den ersten Blick, was Rohner meinte. Der unglückliche Lehrling hatte den Diätplan der Fische verwechselt. Über Monate war der Versuch unter falschen Voraussetzungen durchgeführt worden, und Rohner, der alte Hase, hatte nichts gemerkt.

      Bevor Jonas’ Raumzeit wieder zu ticken begann, stürmte Helbling ins Labor. »Nun meine Herren, was sage ich dem Verwaltungsrat?«, rief er in jovialem Ton und so laut, dass die Fische erschrocken zurückwichen.

      Selbst Rohner, dem Helbling als einzigem Nicht-Akademiker seit jeher vertraute, verfiel in Schockstarre. Der Lehrling schrumpfte zum winzigen Igel, war kaum noch zu sehen. Was für den Professor keinen Unterschied ausmachte:


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