Das letzte Steak. Hansjörg Anderegg

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Das letzte Steak - Hansjörg Anderegg


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aus ihm heraus. Er verstand die Reaktion des Jungen auf den Schock und die unerträgliche Ungewissheit. Trotzdem verwünschte er ihn manchmal, wenn er nicht mehr ein noch aus wusste.

      Bedrückt kehrte er ins Haus zurück. Schmutziges Geschirr stapelte sich im Spültrog. Die Luft roch abgestanden trotz des offenen Fensters. Die Vorräte im Kühlschrank gingen zur Neige. Die zuletzt gewaschene Wäsche lag immer noch im Korb in Felicitys Arbeitszimmer. Die Lage wurde mit jeder Stunde unübersichtlicher. Er wusste nicht, wo er hinsehen sollte, ohne ein neues Problem zu entdecken. Als wäre dies nicht genug, plärrte oben in Scottys verschlossenem Zimmer von morgens früh bis spät in die Nacht aggressive Musik. Heavy Metal, Lärm, mit dem er seit jeher auf Kriegsfuß stand.

      Einmal mehr stieg er die Treppe hoch und klopfte an die Tür des Jungen.

      »Scotty, dreh die Musik leiser! Lass uns reden.«

      Nichts geschah. Die Musik hämmerte weiter. Der Junge widersprach ihm nicht einmal mehr. Es war unmöglich, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Er schwänzte die Schule, blieb dem Fußballtraining fern, und sein Vater stand im eigenen Haus vor verschlossener Tür wie ein Aussätziger, den alle mieden. Er gab auf und ging zurück ins Wohnzimmer. Ich muss ihm mehr Zeit lassen, redete er sich ein, bloß glaubte er selbst nicht daran, dass Zeit die Wunden heilte. Je länger die Ungewissheit dauerte, desto erdrückender wurde das Gefühl, dass Felicity etwas Unaussprechliches zugestoßen sein musste. Nein, Zeit heilte keine Wunden. Zeit war die reinste Folter. Niemand in der Nachbarschaft oder in der Fabrik, wo Felicity seit Jahren als Vorarbeiterin angestellt war, hatte etwas bemerkt, was ihr Verschwinden erklären könnte. Die Polizei fand keine Spur, obwohl sie die Gegend mit Hunden durchkämmt hatte. Die Küstenwache suchte immer noch nach ihr. Alles umsonst. Was von ihr blieb, waren nur Erinnerungen und die Unordnung im Haus, für jedermann sichtbares Zeugnis ihres Fehlens.

      Er fand ein paar alte Teebeutel im Küchenschrank. Er brühte Wasser auf, spülte die benutzte Tasse auf der Anrichte kurz aus, hängte einen Beutel hinein und goss das siedende Wasser darüber. Er wartete, bis das Wasser die richtige Farbe annahm, rührte abwesend, dann schüttete er den Inhalt der Tasse in den Ausguss und verließ das Haus.

      Das Transportunternehmen, bei dem er als Magaziner arbeitete, lag an der Einfahrt zur A14, ein Fußweg von zehn Minuten. Es begann wieder zu regnen. Er stülpte die Kapuze über den Kopf. Wasser rann ihm übers Gesicht. Die Hosenbeine waren nach kurzer Zeit nass bis über die Knie, als watete er durch die Trimley Marshes. Er bemerkte es kaum. In Gedanken stellte er sich immer wieder dieselben Fragen: Was war geschehen? Warum? Wo ist sie? Die wichtigste Frage wagte er nicht einmal zu denken, so unerträglich war die Vorstellung, Felicity könnte nicht mehr am Leben sein. Er versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was er als Nächstes unternehmen musste. Offensichtlich brauchte er eine ordnende Hand zu Hause und jemanden, der einen Zugang zu Scotty finden würde. Diese Person gab es, doch er hasste den Gedanken, seine Schwester um Hilfe zu bitten. Je mehr Gründe er suchte, es nicht zu tun, desto deutlicher erkannte er, dass es keine bessere Lösung gab.

      Die Menschentraube vor den Lagerhallen unterbrach seinen Gedankengang. Etwas stimmte nicht. Warum versammelten sich die Kollegen draußen vor dem Tor im strömenden Regen? Als er nähertrat, sah er, dass das Haupttor verschlossen war. Magaziner, Fahrer und die Angestellten aus dem Büro sprachen und riefen aufgeregt durcheinander. Am Tor standen Polizisten und über dem Schloss klebte ein leuchtend gelbes Siegel. Bei diesem Anblick wich das Blut aus seinem Gesicht.

      »Felicity?«, schrie er heiser und drängte sich nach vorn.

      Walt aus der Buchhaltung fing ihn ab.

      »Nein, es hat nichts mit Felicity zu tun. Es geht um die Firma. Verdammt, Thomas, wir sind pleite.«

      Ungläubig starrte er ihn an und fragte albern:

      »Was heißt das?«

      Zwei andere antworteten gleichzeitig außer sich, sodass er den Zusammenhang erraten musste. Es war die Geschichte, die er in letzter Zeit immer häufiger in der Zeitung gelesen hatte, nur betraf es diesmal ihn selbst und seine Kollegen. Die Firma schrieb seit Langem Verluste, musste stets teurere Kredite aufnehmen, bis die Bank den Schlussstrich zog. Über Nacht war der Laden, in dem er das halbe Leben verbracht hatte, insolvent. Was für ein harmloses Wort für die beschlagnahmten Lkws, die gepfändeten Lager und die Arbeiter im Regen ohne Aussicht auf einen weiteren Penny.

      »Wo ist Ben?«, fragte er Walt nach einer Weile.

      Ben war der Juniorchef, der das Familienunternehmen erst vor drei Jahren vom Vater übernommen und seine Sache gar nicht so übel gemacht hatte, seiner Meinung nach.

      »Spital, Nervenzusammenbruch.«

      Das gelbe Siegel am Tor markierte nicht nur das Ende der Firma. Es war auch das Ende der Straße für die versammelte Belegschaft. Manche unter ihnen hatten das Verfalldatum überschritten, er eingeschlossen. Sie würden kaum neue Jobs finden. Ihr Leben ging gerade mit dem verfluchten Regen den Bach runter. Das verstand er zwar, doch berührte es ihn kaum. Sein Leben hatte er schon vorher verloren. In Gedanken versunken machte er sich auf den Heimweg.

      Die Musik dröhnte noch lauter aus Scottys Zimmer. So ging es nicht weiter. Oben an der Treppe stutzte er. Die Zimmertür stand halb offen.

      »Scotty?«

      Er stieß die Tür vorsichtig auf. Sein Junge war ausgeflogen. Die Laufschuhe standen nicht mehr unter dem Bett. Scotty war draußen im Regen am Joggen, wie früher, als kein Hudelwetter ihn davon abhalten konnte. Erleichtert schaltete er das Radio ab. Ein Lächeln huschte über sein zerfurchtes Gesicht. Der Junge war dabei, sich wieder aufzufangen, Gott sei Dank. Ein Rascheln hinter seinem Rücken erschreckte ihn. Ein Papierknäuel rollte auf ihn zu. Der schwarze Kater stand breitbeinig in der Tür. Er blickte ihn vorwurfsvoll an und krächzte ein paar Mal laut zur Begrüßung.

      »Cromwell!«

      Der Kater strich ihm um die Beine, dann schüttelte er sich und protestierte mit der heiseren Stimme des fortgeschrittenen Alters. Thomas kraulte ihm beruhigend den Hals.

      »Um dich kümmert sich auch niemand mehr, tut mir leid.«

      In der Küche fand er noch eine Büchse mit Katzenfutter. Er schob Cromwell den Teller hin, doch der Kater sah ihn nur an und stieß sein lang gezogenes, weinerliches Krächzen aus, mit dem er sonst die Krähen erschreckte.

      »Ich glaube, ich weiß, was du meinst«, murmelte er. »Warte hier, ich bin gleich zurück.«

      Er klingelte bei der Nachbarin und bat sie um ein Ei. Cromwell war süchtig nach Eigelb, und er hatte etwas Gutes verdient.

      »Gibt es Nachrichten von Felicity?«, fragte die Frau nach kurzem Zögern.

      Er schüttelte den Kopf. »Sie mussten die Suche einstellen – bei diesem Wetter.«

      »Es tut mir so leid, Thomas. Ich bete jeden Tag für sie.«

      Das hatte er aufgegeben. Wenn es einen Herrgott gäbe, müsste er ein Sadist sein. Trotzdem bedankte er sich artig und fragte:

      »Hast du zufällig Scotty gesehen?«

      »Ja, der arme Junge. Er ist vor zwanzig Minuten weggefahren.«

      »Gefahren?«

      »Mit unserm Fahrrad. Du weißt, er kann es nehmen, wann er will. Wir brauchen es nicht mehr.«

      Die Nachricht alarmierte ihn. »Hatte er etwas dabei? Hast du gesehen, wohin er gefahren ist?«

      Sie blickte ihn entsetzt an. »Du meinst, er ist abgehauen? Nein – auf keinen Fall – nicht Scotty! Ich sah ihn aus dem Haus rennen. Er schnappte sich das Rad und brauste in Richtung Fabrik davon. Mach dir keine Sorgen. Der Junge kommt bald wieder.«

      Cromwell schnurrte lauter als sonst, als Thomas das Eigelb verrührte, denn er spürte, dass sein menschlicher Butler nicht bei der Sache war. Die Nachbarin hatte gut reden. Natürlich machte er sich Sorgen um Scotty. Er machte sich nur noch Sorgen in letzter Zeit, die Sorge um den Arbeitsplatz noch nicht mitgezählt. Der Kater gab endlich Ruhe und verschlang seinen Eidotter.

      Schweren


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