Das letzte Steak. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.um Hilfe bitten musste. Das Gespräch war noch nicht zu Ende, als er Scotty in irrem Tempo aufs Haus zu rasen sah. Er warf das Rad hin und stürmte in die Stube.
»Dad!«, keuchte er völlig aufgelöst.
Dabei hielt er ein blau-weiß gestreiftes Tuch hoch, bei dessen Anblick Thomas der Atem stockte. Wortlos legte er den Hörer auf und griff nach dem Tuch. Es war nass und verschmutzt, doch es gab keinen Zweifel: Felicity hatte diesen Schal am Dienstag getragen.
Scotty blickte ihn angstvoll an.
»Er hat sich im Gebüsch verfangen«, flüsterte er. »Dad, sie liegt irgendwo da draußen.«
»Red keinen Unsinn!«, wies er ihn zurecht, obwohl er genau dasselbe dachte.
Vor ihm stand nicht mehr der selbstbewusste Teenager, der den Rest der Welt mit schriller Musik und Unordnung provozierte. Scotty war wieder der kleine Junge, der den starken Arm des Vaters brauchte.
»Wo hast du ihn gefunden?«
»Ich bin hinter der Fabrik weiter gegen die Marshes gefahren, dort …«
»Die Sümpfe«, wiederholte Thomas nachdenklich.
Die Polizei hatte die Suche dort wegen der Überschwemmung abbrechen müssen. Er drückte das Tuch, als müsste er Felicity festhalten. Es fühlte sich weich und zart an wie sie.
»Wir müssen die Polizei rufen«, drängte Scotty.
»Ich weiß.«
Eine Stunde später stampfte er mit seinem Sohn an der Spitze des Suchtrupps durch das nasse Gras auf die Fundstelle zu. Die Männer schwärmten aus und begannen Gebüsch und Marschland zu durchkämmen. Sie konnten keine Hunde einsetzen. Das Wasser stand zu hoch. Scotty reichte es bisweilen an die Hüfte, doch er ließ sich durch nichts davon abbringen, bei der Suche nach seiner Mutter zu helfen. Thomas benötigte seine ganze Aufmerksamkeit, um den Jungen im Auge zu behalten. So bemerkte er erst, dass ein Constable die Hand hochhielt, als der Rest der Truppe auf ihn zu watete.
»Bleiben Sie, wo Sie sind«, wies ihn der Sergeant an, der den Einsatz leitete.
Er dachte nicht daran. Scotty erst recht nicht. Hals über Kopf stolperten sie zur Stelle, wo sich alle im Halbkreis versammelten.
»Felicity? Habt ihr sie gefunden?«, rief Thomas verzweifelt.
Der Sergeant versuchte, ihn aufzuhalten.
»Sie sollten sich das nicht ansehen«, sagte er hastig.
Die Beamten versuchten, Scotty zurückzuhalten, aber der Junge war schneller. Er drängte sich zwischen ihnen hindurch, und sein Vater tat es ihm gleich.
»Mom! Nein!«, brüllte der Junge.
Er sank auf die Knie, ergriff die Schuhe, deren Spitzen ihm entgegen ragten, versuchte, den Leichnam seiner Mutter aus dem Wasser zu ziehen. Zwei Polizisten waren damit beschäftigt, ihn zurückzuhalten und zu beruhigen, während Thomas nur noch das wächserne Gesicht im schmutzigen Tümpel sah. Die toten Augen lasen direkt in seinen Gedanken.
»Felic …«
Seine Stimme versagte. Da lag die Frau, ohne die er sich kein Leben vorstellen konnte, vor ihm im Dreck. Als hätte sie sich nur kurz ausgestreckt und wäre vom Regen überrascht worden – und vom Messerstich in ihr Herz. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, konnte er den Blick nicht von ihr wenden, als müsste sie jeden Moment erwachen. Er nahm nichts anderes wahr, als diesen geschundenen Körper, den seine Felicity für immer verlassen hatte. Reglos stand er da und reagierte auf nichts, was um ihn herum vorging, doch plötzlich brach es aus ihm heraus. Er schloss seinen Jungen in die Arme, drückte ihn fest an sich, und beide begannen, hemmungslos zu schluchzen.
Allein in den Trümmern seiner Träume, nahm er die Befehle des Sergeants, die aufgeregten Funksprüche, die Blaumänner der Spurensicherung, das Eintreffen des Gerichtsmediziners nur am Rande wahr. Willenlos ließ er sich mit dem Jungen wegführen. Er kehrte erst im Rettungswagen in die Gegenwart zurück, wo eine Sanitäterin unablässig in beruhigendem Ton auf ihn einredete.
»Verstehen Sie mich? Wir bringen Sie und den Jungen nach Hause. Ich habe Ihnen etwas zur Beruhigung gegeben.«
»Beruhigung«, lallte er verständnislos.
»Sie stehen unter Schock. Es ist wichtig, dass Sie sich jetzt ausruhen. Die Nachbarin wird sich um Sie beide kümmern. Können wir jemanden aus Ihrer Familie anrufen, um Sie zu unterstützen?«
Familie – was bedeutete das Wort noch? Er starrte durch sie hindurch auf der Suche nach einer Antwort.
»Wo ist sie?«, fragte er unvermittelt.
»Man bringt sie in die Gerichtsmedizin.«
Er setzte sich auf und machte Anstalten, von der Trage zu steigen. »Ich muss zu ihr.«
Scotty saß mit versteinertem Gesicht auf der Bank an der Wand.
»Wir müssen zu ihr«, ergänzte er rasch.
»Das geht jetzt leider nicht, Mr. Stuart. Die Gerichtsmedizin muss Ihre Frau zuerst untersuchen, um festzustellen, was genau geschehen ist. Das möchten Sie doch auch wissen, nicht wahr?«
»Sie dürfen Mom nicht aufschneiden!«, rief Scotty entrüstet.
Danach verfiel sein Sohn wieder in teilnahmsloses Schweigen. Es war die letzte Äußerung, die Thomas für lange Zeit aus seinem Mund hören sollte. Auch ihm stand der Sinn nicht nach Reden. Die Nachbarin, die Freunde aus dem Quartier, Arbeitskollegen, die nach und nach in seinem Haus eintrafen, brachten kaum ein Wort aus ihm heraus. Selbst die Schwester, die am frühen Nachmittag einzog, schwieg er beharrlich an. Scotty hatte sich wieder in sein Zimmer eingeschlossen, diesmal ohne Musik. Es kam ihm vor, als bewohnten Fremde das Haus, als wären sie beide nur ungebetene Gäste. Der leere Magen rettete ihn schließlich aus der Depression. Die Schwester stellte ihm eine Komposition aus Eiern, Würstchen und gegrillten Tomaten hin, deren Duft er nicht widerstehen konnte. Es war das erste anständige Essen seit Tagen. Der frische Tee beschleunigte den Heilungsprozess, sodass er allmählich wieder vernünftige Sätze formulieren und Fragen stellen konnte.
»Wie ist es geschehen?«, wollte er von der Polizeipsychologin wissen, die neuerdings auch in seinem Haus wohnte und gerade unverrichteter Dinge vom oberen Stock herunterkam.
»Die Untersuchungen sind noch im Gange. Fest steht, dass das Opfer an einem Stich ins Herz gestorben ist.«
»Das Opfer heißt Felicity«, brummte er.
»Ja natürlich, Entschuldigung.«
»Hat sie gelitten?«
Die Psychologin schüttelte den Kopf. »Der Gerichtsmediziner meint, der Tod sei augenblicklich eingetreten.«
»Wie können Sie da so sicher sein?«
»Felicity hat nicht leiden müssen, glauben Sie mir.«
»Wer tut so etwas Schreckliches?«, fragte die Schwester. »Alle haben Felicity geachtet und geliebt. Ich verstehe es nicht.«
»Niemand kann so etwas verstehen«, stimmte die Psychologin ihr zu, »aber wir werden alles unternehmen, um diese Tat aufzuklären.«
»Das bringt sie uns auch nicht zurück«, brummte er.
»Nein, da haben Sie natürlich recht. Trotzdem wird die Aufklärung Ihnen helfen, den Verlust mit der Zeit zu akzeptieren.«
Er sah sie ratlos an. Was meinte sie mit akzeptieren? Wie würde er diesen Wahnsinn je verstehen können? Die Psychologin las ihm die Zweifel vom Gesicht ab. Sie sagte, was sie wohl schon manchen Betroffenen geraten hatte:
»Es ist jetzt ganz wichtig, dass Sie sich nicht zurückziehen. Reden Sie mit Bekannten und Freunden, mit Ihrem Sohn. Versuchen Sie, zu Ihrem gewohnten Tagesablauf zurückzufinden. Das gibt Ihnen Halt und die Kraft, für Ihren Sohn da zu sein. Er braucht Sie jetzt mehr als zuvor.«
Schöne Worte, dachte er bitter. Was wusste sie schon über ihn. Von einem gewohnten