Strohöl. Hansjörg Anderegg

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Strohöl - Hansjörg Anderegg


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jedenfalls keine Drogen oder Chemikalien, die man zur Herstellung von Crystal Meth oder Ähnlichem benutzen könnte. Beim Alkohol handelte es sich um Industriesprit. Er war mit Pyridin versetzt und völlig ungenießbar – und alle Flaschen waren noch da. Was wollte der Kerl? Sie hatte einen Mann gesehen, dessen war sie sich ziemlich sicher: kräftige Statur, kein Teenager im Hoodie. Der Gedanke, die Polizei zu rufen, streifte sie nur kurz. Sie hatte den Einbrecher rechtzeitig in die Flucht geschlagen, und für eine Fahndung würden ihre Angaben sowieso nicht reichen. Sie wollte sich und dem Staat das Anlegen einer weiteren sinnlosen Akte ersparen. Dennoch prüfte sie genau, ob der nächtliche Besucher auch Spuren im Haus hinterlassen hatte. Die Schlösser waren alle intakt. Kein Wunder, denn sie ließ die Türen stets unverschlossen, während sie allein im Labor arbeitete. Es war eine Vorsichtsmaßnahme. Falls ihr wider Erwarten etwas zustieß bei der Arbeit, sollten Feuerwehr und Rettung ungehinderten Zugang haben. Das galt natürlich auch für ungebetene nächtliche Besucher. War der Kerl im Haus gewesen? Hatte er sie heimlich beobachtet?

      Fröstelnd setzte sie sich wieder an den Computer. Der virtuelle Wasserhahn tropfte jetzt beinahe ohne Unterlass.

      »Was ist los? Schläfst du? Wach auf! Ist alles in Ordnung? Soll ich vorbeikommen? WZTWD?«

      Emmas Texte füllten den ganzen Bildschirm. Sie beantwortete die letzte Frage – wo zum Teufel warst du? – nicht, schrieb nur:

      »AKLA« – »Alles klar.«

      Der Timer am Bioreaktor piepste. Sie stieß eine Verwünschung aus, sprang auf und entnahm mit zittriger Hand eine Probe zur Untersuchung. Hoffnungslos, dachte sie ärgerlich, als sie ein paar Tropfen der gelblichen Flüssigkeit aus dem Reaktor auf den Objektträger des Chromatografen träufelte. Durch das Intermezzo mit dem Einbrecher hatte sie vergessen, den pH-Wert rechtzeitig zu korrigieren. Nur um auch diesen Versuch sauber abzuschließen, schaltete sie das Gerät ein. Das Resultat interessierte sie kaum. Sie wandte sich wieder dem Chat zu, bis ein leises Klingeln das Ende der Analyse ankündigte. Sie drückte automatisch auf die Taste, um die Grafik auszudrucken, die der Chromatograf berechnet hatte. Sie warf einen flüchtigen Blick darauf, und ihr Herz blieb stehen. Dann begann es zu pochen, als stünde sie zwei Einbrechern mit Krummsäbeln gegenüber. Was sie sah, war unmöglich. Es musste ein Irrtum sein.

      Hastig überprüfte sie die Versuchsanordnung, kontrollierte Zusammensetzung, Temperatur, chemische und physikalische Eigenschaften des Gemischs aus Nährstoffen, Enzymen und Mikroben im Tank. Sie las die Messwerte ein zweites und drittes Mal ab und fand keinen Fehler außer dem falschen pH-Wert. Es musste am Chromatografen liegen. Sie nahm sich die Zeit, das empfindliche Gerät vollständig neu zu kalibrieren. Die Grafik, die es danach produzierte, war identisch mit der ersten Analyse. Der Gedanke, keinen Fehler zu finden, schmerzte wie ihr Ellenbogen. Vielleicht sollte sie eine Nacht darüber schlafen und das Ganze morgen in Ruhe wiederholen – aber wer wollte schlafen bei diesem Output? Die banale Zeichnung aus farbigen Kurven, die nur Fachleute verstanden, war es wert, einst auf ihrem Grabstein verewigt zu werden wie Diracs Gleichung der Quantenmechanik in der Westminster Abbey. Die Kurven behaupteten nichts Geringeres, als dass ihre programmierten Bakterien das Stroh vom Mariafeld zu 85 Prozent in Bernsteinsäure umgewandelt hatten, also praktisch vollständig. Dieser Wirkungsgrad entsprach dem Doppelten aller bisherigen Versuche – und war zwanzigmal besser als alles, was die Konkurrenz je zustande gebracht hatte.

      Obwohl der digitale Hahn des Chats zu tropfen aufgehört hatte, begann sie wie besessen auf die Tastatur zu hämmern. Sie fühlte sich leicht und frei wie nie, befreit, als wäre sie am Ende eines langen Tunnels angelangt, träte zum ersten Mal nach jahrelanger Suche in der Finsternis wieder ins grelle Tageslicht und atmete frische Luft. Die Suche war zu Ende, nichts weniger behauptete das Blatt Papier aus dem Chromatografen. Sie versuchte, die Bedeutung der Entdeckung in Worte zu fassen, die ihre Geliebte verstehen konnte, und war froh, sie nicht am Telefon zu haben. Schreibend konnte sie sich besser konzentrieren, drückte sich präziser aus. Die Erzeugung der wichtigen Grundchemikalie Bernsteinsäure aus nachwachsenden Rohstoffen war nun nicht nur möglich, sondern auch wesentlich kostengünstiger als die klassische Herstellung in der chemischen Industrie. Kunststoffe, Farben und Baumaterialien aus Stroh, unabhängig von Erdöl, Erdgas und Fracking – der Abschied von der Petrochemie begann in dieser Nacht in ihrem Labor.

      Kaum war sie fertig mit dem Tippen ihrer Erfolgsgeschichte, fiel der nächste Tropfen.

      »Was willst du mir eigentlich sagen?«

      »Ach Emma«, seufzte sie, »es gäbe noch so viel zu sagen.«

      Lächelnd sandte sie einen letzten Text übers Wasser ins Paradies:

      »Schlaf gut, Liebes.«

      

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