Alles beginnt und endet im Kentucky Club. Benjamin Alire Saenz

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Alles beginnt und endet im Kentucky Club - Benjamin Alire Saenz


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frieren«, sagte er.

      »Ich hab meine Jacke vergessen.«

      »Wir können wieder reingehen.«

      »Nein«, sagte ich. Wir taxierten einander. Meine Augen waren heller als seine. Rostbraun. »Ich wohne in der Nähe.«

      Er überlegte.

      »Ich will hier niemanden abschleppen.« Schon als mir diese Worte über die Lippen kamen, merkte ich, wie beleidigend sie klangen. Es tat mir leid, dass ich überhaupt etwas gesagt hatte.

      »Nein«, erwiderte er, »zu einem Mann wie Ihnen passt das nicht.« Er lächelte. »Ich heiße Javier.«

      »Javier«, sagte ich, »und ich bin – «

      »Jeder weiß, wer Sie sind.«

      »Niemand weiß das.«

      Er lachte, dieser Javier, der seinen Kaffee schwarz trank.

      »Also los. Ich möchte hören, wie Sie Ihren Namen sagen.«

      »Juan Carlos.«

      »Juan Carlos«, wiederholte er. »Und wo wohnen Sie?«

      »Sunset Heights.«

      Er tippte leicht an seinen Pappbecher. »Interessante Gegend.«

      3

      »Es ist schön hier«, sagte er. Und musterte eines meiner Bilder.

      »Ein altes Haus, um 1900 gebaut.«

      »Zehn Jahre vor der Revolution.«

      »Vor mehr als hundert Jahren.«

      »Da wären wir nun. Ein richtiger Mexikaner und ein Mexikaner, der Amerikaner ist.«

      »Mein Großvater wurde hier geboren«, sagte ich.

      »Mein Großvater wurde in Israel geboren.«

      »Also bin ich mehr Mexikaner als Sie.«

      »Das würde ich so nicht sagen.« Ich musste lachen.

      Er betrachtete noch immer das Gemälde. »Was bekümmert diesen Mann?«

      »Er ist den Krieg leid.«

      »Ich bin den Krieg auch leid.«

      »Israel«, sagte ich. »Israel und Mexiko. Ein echtes Kriegskind.«

      »Ja. Vielleicht geht es bei der Beschneidung nur darum.« Wieder musste ich lachen.

      »Sie auch«, sagte er. »Ich glaube, Sie sind auch beschnitten.«

      »Was für eine Tragödie«, erwiderte ich, »die Vorhaut zu verlieren. Nicht dass ich Jude bin. Das macht Ihnen doch nichts aus – dass ich kein Jude bin?«

      »Ich habe nicht gesagt, dass ich Jude bin.«

      »Aber dass Ihr Großvater in Israel geboren wurde.«

      »Er war Iraker, kam in Israel zur Welt. Floh nach Mexiko. Heiratete meine Großmutter in Chihuahua. Und wurde in einer Bar umgebracht. Er prügelte sich gern.«

      »Ein Kriegskind«, wiederholte ich.

      Er lachte. »Warum sind Sie beschnitten?«

      »Keine Ahnung. Eines Tages wachte ich auf, und es war, wie es war.«

      »Richtige Mexikaner sind nicht beschnitten.«

      »Dann wäre das geklärt. Ich bin kein richtiger Mexikaner.« Er merkte, dass mir das Gespräch unangenehm wurde.

      »Sie reden nicht gern über Beschneidung?«

      »Es war bislang nie Thema in meinen Gesprächen.«

      »Und Sie prügeln sich nicht gern?«

      »Nein. Ich schlage mich nicht gern.«

      »Sie sind wirklich kein Mexikaner«, sagte er.

      Ich nahm ihm den Pappbecher aus der Hand und reichte ihm dafür eine frische Tasse Kaffee. Meine Lieblingstasse, die mit van Gogh darauf.

      »Es war also nicht gelogen.«

      »Was?«

      »Dass Ihr Kaffee auf Sie wartet.«

      »Ich mache immer welchen, bevor ich meine Zeitung hole.«

      »Was gefällt Ihnen an Zeitungen?«

      »Die Welt ist groß.«

      »Um das zu wissen, brauchen Sie eine Zeitung?«

      »Ja, ich glaube schon.«

      »Wirklich?«

      »Sie liefert mir die Details.«

      »Die Welt, in der Sie leben, liefert Ihnen alle Details, die Sie brauchen.«

      »Nein.«

      »Doch.«

      Schon waren wir in Streit geraten.

      »Ich brauche Fakten.«

      »Wofür?«

      »Als Hilfe, damit ich mir eine Meinung bilden kann.«

      »Wissen Sie denn nicht, was Sie denken?«

      »Ich habe nicht immer recht.«

      Er lachte. »Sie beobachten mich.«

      »Beobachten?«

      »Wenn Sie ins Café kommen, beobachten Sie mich.«

      »Sie wirken immer so selbstvergessen.«

      »Interessantes Wort. Höre ich zum ersten Mal.«

      »Ich meine, Sie scheinen nichts wahrzunehmen, abgesehen von dem Buch, das Sie gerade lesen.«

      »Carlos, ich nehme durchaus einiges wahr.« Er machte ein nachdenkliches Gesicht.

      »Das heißt, Sie beobachten mich auch.«

      »Ja.«

      »Und warum?«

      »Warum nicht?«

      »Javier, Sie sind ein schöner Mann. Und ich? Nicht besonders schön. Ihr Englisch ist perfekt.«

      »Perfekt, aber mit einem Akzent.«

      »Was es sogar noch perfekter macht.«

      »Sie sind etwas Besseres als schön«, sagte er.

      »Was kann schon besser sein als schön?«

      »Interessant. Interessant ist viel besser als schön.« Er streckte die Hand aus und strich mit dem Finger über meine Wange. Seine Hände waren rau. Seine Finger schwielig.

      Vielleicht spielte er ja Gitarre.

      Ich hätte gern seine Finger geküsst.

      »Sie sind still«, sagte er.

      »Wenn ich nichts sage, bleibe ich interessant.«

      Er fuhr mit den Fingern durch mein grau meliertes Haar.

      »Ich bin älter als du«, sagte ich. Er küsste mich.

      Ich erwiderte den Kuss.

      4

      Wir saßen auf dem Balkon, tranken unseren Kaffee – und lauschten dem Regen.

      »Ich weiß nichts von dir«, sagte ich.

      »Was willst du wissen?«

      Also erzählte er. Wie er sich um seinen Onkel kümmerte, der Lungenkrebs hatte und bald sterben würde, wie er geholfen hatte, seine gelähmte Tante zu betreuen. Dass er jedes Wochenende aus Juárez herkam – von Freitagabend bis Sonntagabend – und zwischendurch,


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