Die Tote von der Maiwoche. Alida Leimbach
Читать онлайн книгу.einer der Beamten der Norder Polizeiinspektion, mit denen sie zu tun gehabt hatte. Sie waren sich auf Anhieb sympathisch gewesen. Schnell hatten sie Gefühle füreinander entwickelt. Doch auf die wenigen Tage und Stunden, die sie miteinander verbracht hatten, war sogleich eine längere Trennung gefolgt.
»Ich möchte heute nicht darüber reden«, bat Birthe. »Bitte versteh das, Henning. Ich habe anstrengende Vernehmungen hinter mir und bin einfach durch. Mich beschäftigt der Tod der jungen Sängerin sehr. Ihre Eltern sind fix und fertig. Ihnen die Todesnachricht zu überbringen, hat mich unendlich viel Kraft gekostet.«
Mit einem weicheren Ausdruck sah er sie an. »Okay, ich verstehe das. Wir müssen nichts übers Knie brechen.«
Sie rückte zu ihm hin und schlang beide Arme um seinen Hals.
»Wir wollen nicht streiten, oder?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf und schmiegte sich in seine Halsbeuge. Er duftete nach seinem vertrauten Rasierwasser, nach seinem Duschgel, einfach nach Henning. Sie konnten später weiterreden, irgendwann, irgendwo. Aber nicht heute.
»Wollen wir nachher zur Maiwoche?«, fragte er. »Erst was Schönes kochen, dann ein bisschen kuscheln und danach ziehen wir los? Ich war noch nie dort. Du wolltest mir alles zeigen.«
Birthe nickte müde. »Mal sehen«, sagte sie. »Erst ein bisschen liebhaben.« Sie schloss die Augen und genoss seine sanfte Nackenmassage.
Später bereiteten sie gemeinsam das Essen zu, Spaghetti Bolognese mit buntem Salat und Wein, zum Nachtisch sollte es heiße Früchte auf Vanilleeis geben. Sobald sie mit Henning zusammen war, war alles gut. Sie genoss jeden Augenblick mit ihm, egal, ob sie etwas unternahmen oder zu Hause blieben, kochten und dabei redeten wie eben gerade und es sich vor dem Fernseher gemütlich machten – Arm in Arm auf dem Sofa unter einer weichen Decke eingekuschelt. Wenn nur nicht immer wieder die bevorstehende Trennung wie ein Damoklesschwert über ihnen hängen und sie vor einen Haufen Probleme stellen würde!
Nach dem Essen schliefen sie miteinander. Sie liebten es, die nackte, warme Haut des anderen zu spüren, den Duft des anderen einzuatmen, der vertrauten Stimme zu lauschen und sich in der Gegenwart des anderen zu verlieren. Lange lagen sie noch nebeneinander, vernahmen den Herzschlag des anderen und verloren jedes Gefühl für Raum und Zeit.
Kapitel 8
Sonntag, 07. Mai
Am Sonntagmorgen frühstückten sie lange in Birthes großem Zimmer. Birthe fühlte sich sehr wohl in dem Raum mit dem glänzenden Parkettboden, dem Stuck an der hohen Zimmerdecke, dem spanischen Kronleuchter aus der Jugendstilepoche und dem interessanten Sammelsurium, das sich im Laufe der Jahre dort angesammelt hatte. Es war ein inspirierender Mix aus Alt und Neu, aus modernen Möbeln, zum Teil von Ikea, und Fundstücken vom Flohmarkt oder Trödler. Einige Teile kamen sogar vom Sperrmüll, wie zum Beispiel die Eckbank in der Küche, darauf war sie besonders stolz. Vor Kurzem hatte jemand ein dunkelrotes ostfriesisches Teesofa an die Straße gestellt. Birthe hatte sich keinen Meter davon fortbewegt, nachdem sie es entdeckt hatte. Sie hatte ein Großraumtaxi bestellt und das gute Stück zwei Straßen weiter zu sich nach Hause transportieren lassen. Erstaunlicherweise passte es sogar gut zu ihrem pinkfarbenen Ohrensessel.
Nach dem Frühstück liebten sie sich erneut. »Bitte mach, dass es für immer so bleibt«, sagte sie danach, während ihr Kopf an seiner Schulter ruhte. »Die Vertrautheit, das Gefühl, bei dir aufgehoben zu sein – bleib doch einfach. Bitte! …« Sie sah ihn flehentlich an. Ausgerechnet in diesem Moment klingelte ihr Handy, doch sie ignorierte es.
Er küsste ihr Haar und streichelte ihren Nacken. »Willst du nicht drangehen?«, murmelte er schlaftrunken. »Vielleicht ist es wichtig?«
»Was kann schon wichtiger sein als das hier? Ich mag nicht. Im Augenblick nicht. Ich will mich noch nicht von dir trennen«, sagte sie leise. »Es tut mir richtig körperlich weh, wenn einer von uns weg muss nach einem so schönen Wochenende, auch wenn das jetzt kitschig klingt. Aber es ist die Wahrheit. Ich fühle mich furchtbar. Wie zerrissen. Ohne dich ist alles wie abgeschnitten, leer und irgendwie kalt.«
Wieder küsste er ihr Haar. »Ach komm, geh dran, Schatz. Ich bleibe ja noch ein bisschen. Eigentlich sollten wir längst aus den Federn sein.« Er reckte sich und gähnte.
Seufzend angelte sie ihr Diensthandy vom Nachttisch und war schon nach wenigen Sekunden hellwach. Die Staatsanwältin Maria Koswalla war dran, um ihr mitzuteilen, was die Arbeit der Spurensicherung bislang ergeben hatte. Besonders auffällig seien frische Schuhabdrücke im Hausflur und in der Wohnung des Opfers gewesen, die nicht von Jessica Wagner stammten.
»Andere Schuhgröße, nehme ich an?«, mutmaßte Birthe.
»Nicht einmal das«, gab Koswalla zurück. »Jessica Wagner hatte für ihre geringe Körpergröße erstaunlich große Füße. Es ist die Breite des Schuhs und vor allem das Profil, was den Unterschied ausmacht. Schuhe dieser Art wurden nicht in Wagners Wohnung gefunden. Gerade im leicht staubigen Treppenhaus konnten die Leute von der KTU die Abdrücke des Profils gut sichern und von anderen, etwas älteren Abdrücken unterscheiden. Es handelt sich um breite Arbeitsschuhe Größe 41 oder Boots, vom Profil her möglicherweise Doc Martens. Jessica Wagner hat zwar Schuhe in gleicher Größe besessen – auch eine Nummer kleiner –, aber elegantere, femininere Modelle.«
»Okay«, sagte Birthe und erinnerte sich an Wagners Erscheinungsbild. Am Abend ihres letzten Auftritts hatte sie silberfarbene Riemchensandaletten getragen. »Was ist mit Genspuren?«
»Es ist schwierig. Da sind so viele. Das Opfer hat vermutlich in den Tagen vor seinem Tod Besuch von mehreren Personen gehabt. Keine der Spuren ist in unserer Datenbank erfasst. Ach, und da ist noch etwas.« Die Staatsanwältin machte eine kurze Pause. »Die dunklen Haare, die die Kollegen vom KTU in der Küche und im Wohnzimmer des Opfers sichergestellt haben, sind gefärbt. Es sind die Haare einer Frau.«
Birthe musste die Information kurz sacken lassen. »Können wir einen männlichen Täter ausschließen?«
»Leider nicht. Es wurden auch graue Haare mit einer männlichen DNA gefunden. Im Schlaf- und Wohnzimmer des Opfers fand sich weitere männliche DNA, die in der Täterkartei nicht erfasst ist. Was haben Sie inzwischen herausgefunden? Was haben die Zeugenaussagen ergeben?«
Birthe unterrichtete sie über die ersten Befragungen im Umfeld des Opfers.
Maria Koswalla schien sich damit zufriedenzugeben, denn sie hatte keine Fragen.
»Die kennt auch kein Wochenende, keinen Feierabend und keinen Feiertag«, sagte Birthe, nachdem sie aufgelegt hatte. »Ein Job wie der lässt sich nur machen, wenn man keine Familie hat, wenn man völlig ungebunden ist. Wann sehen wir uns wieder?«
Er lächelte schief. »Ich hoffe, in zwei Wochen. Versprechen kann ich leider nichts.«
»Ich hasse diese Ungewissheit.«
»Ich auch, Schatz. Es muss nicht so bleiben. Aber du willst es ja nicht anders.«
»Fang nicht wieder damit an.«
»Okay«, sagte er und reckte sich. »Dann lass uns jetzt zur Maiwoche fahren, wenn wir beide nicht mehr damit anfangen wollen.«
»Ich hoffe, du bist mir nicht böse, aber ich muss Privates mit Dienstlichem verbinden. Wir müssen zu Currywurstbuden.«
»Currywurst? Ich würde gerne mal Asiatisch essen.«
»Das Opfer, Jessica Wagner, hat als letzte Mahlzeit eine Currywurst gegessen. Wir müssen wissen, wo sie sie gekauft hat und ob sie dabei mit jemandem zusammen gesehen worden ist. Obwohl ich mir da ehrlich gesagt wenig Chancen ausrechne, bei dem Getümmel auf dem Markt.«
»Hast du ein Bild von ihr?«
»Ja, die Eltern haben mir ein paar Fotos zugemailt. Hübsch war sie, hellblonde Haare, blaue Augen, ein richtiges Puppengesicht.«
Schweigend zogen sie sich an. Das benutzte Geschirr stellten sie in die Spüle. Birthe fand es viel zu schade, die kostbare Zeit mit Henning für Alltagskram zu verschwenden.