Licht zwischen den Bäumen. Una Mannion
Читать онлайн книгу.Ich schwieg. Ich wollte nicht zu viel fragen, weil Beatrice sich immer gleich aufregte, wenn wir sie nach diesen Besuchen ausquetschten. Marie meinte, es sei doch das Letzte, dass Mom einem Kind ein solches Geheimnis aufbürdete, ihr verbot, mit ihren Geschwistern darüber zu reden, und sie mitten in der Nacht zu jemandem schleppte, den sie gar nicht sehen wollte. Nach Dads Tod hatte Mom sich ein gutes halbes Jahr nicht mehr mit Bill getroffen. Er rief nicht mehr bei uns an, und sie schlich sich auch nicht mehr davon. Aber gleichzeitig war es, als gäbe es sie gar nicht mehr. Marie und Thomas kochten für uns, und Mom lag entweder im Bett oder war bei ihrer Schicht im Krankenhaus, monatelang tat sie nichts anderes als schlafen, arbeiten und wieder schlafen. Ihre Augen waren rot verschwollen. Trauer ist anstrengend, hatte Gwen gesagt, die Therapeutin, zu der wir dann doch nicht gegangen waren. Ich hätte sie gern verbessert. Sie sah das falsch. Unsere Mutter hatte sich von unserem Vater scheiden lassen. Sie hatte sich für jemand anderen entschieden, den sie vor uns geheim hielt. Auch wenn es ihr inzwischen besser ging und Bill ganz offensichtlich wieder aktuell war, schien es doch, als könnte sie uns, ihren vier älteren Kindern, nicht mehr in die Augen sehen.
Ich überlegte, ob wir irgendwelche Männer kannten, denen Teile der Finger fehlten. Wir vermuteten, dass Bill nicht am Berg wohnte, weil Beatrice erzählt hatte, sie würden meistens denselben Weg fahren, den wir nahmen, wenn wir mit Thomas zum Schwimmen gingen: vorbei am Restaurant Guernsey Cow, am Clogs- und am Dekoladen und dann weiter auf dieser Straße, vorbei an den Leuten mit dem Pferdewagen, sprich: die Route 30 entlang, durch die Pennsylvania-Dutch-Region, Richtung Wilmington im Bundesstaat Delaware.
»Vielleicht gehört Bill ja zu den Amischen«, witzelte Thomas, und Marie musste so lachen, dass ihr die Milch, die sie gerade trank, aus der Nase lief. Ich hatte immer noch die Befürchtung, Bill könnte ein Bekannter von uns sein, womöglich war ich sogar einmal nett zu ihm gewesen, weil ich nicht wusste, wer er war. Marie meinte, der einzig denkbare Grund, warum unsere Mutter ihn immer noch geheim hielt, sei, dass er verheiratet sein müsse.
»Weißt du, was mit seinen Fingern passiert ist?«, fragte ich Beatrice. Ich dachte mir, zu wissen, wie er sie verloren hatte, könnte vielleicht ein Hinweis auf seinen Beruf sein. Sie lag neben mir im Dunkeln, drehte sich Löckchen in die Haare und sah zur Zimmerdecke hinauf.
Ich musste wohl doch eingeschlafen sein, denn ich hörte sie nicht nach Hause kommen. Am nächsten Morgen war Mom bereits mit Thomas zum Schwimmen gefahren. Die anderen waren unten – Ellen mit Beatrice auf dem Sofa, sie lang ausgestreckt, die Füße fast an Beatrice, die im Schneidersitz dasaß und ein Buch von Judy Blume las. Wir hatten Beatrice erzählt, Ellen sei auf ihrem Heimweg in der Dunkelheit hingefallen, weil sie durch den Wald gegangen sei, um schneller nach Hause zu kommen. Wir hatten ihr auch erklärt, dass Mom nichts davon erfahren dürfe, sie würde sonst sauer werden, weil Ellen durch den Wald gelaufen war. Beatrice hatte Stillschweigen gelobt. Thomas hatten wir dieselbe Geschichte erzählt. Ellen trug ein langärmeliges Tweety-Nachthemd, das die meisten ihrer Verletzungen verdeckte, bis auf die im Gesicht. Unsere Mutter hatte sie bisher noch nicht gesehen, aber falls sie nach den Schürfwunden fragen sollte, war unsere Geschichte hieb- und stichfest. Marie lag auf dem Sitzsack und las. Ellen triezte Beatrice.
»Wie war’s denn gestern? Wart ihr bei Bill?« Ihr Gesicht war kreidebleich, die Platzwunde unter dem Auge hatte sich schwarz verfärbt.
Beatrice las einfach weiter.
»Wie sieht er denn aus? So wie du?« Ellen wollte absichtlich gemein sein.
»Nein. Er ist groß und breit«, sagte Beatrice.
»Und was fährt er für ein Auto? Fahrt ihr manchmal mit seinem Auto irgendwohin?«
»Das habe ich dir schon hundert Mal erzählt. Er hat einen Pickup.«
»Trägt er einen Anzug, so wie Mr Walker, wenn er zur Arbeit geht, oder zieht er sich an wie der Klempner?«
»Er trägt Hemden mit ganz vielen Vierecken.«
»Kariert? So wie ein Cowboy?«, wollte Ellen wissen.
Beatrice zuckte die Achseln.
»Und wo wart ihr gestern Abend?«
»Du weißt doch, ich soll euch nicht erzählen, dass ich ihn gesehen habe. Wir haben in einem Lokal gesessen und was gegessen, und danach waren wir noch draußen auf dem Parkplatz.« Sie zog die Beine enger an den Körper.
»Herrgott, Ellen, lass sie in Ruhe«, sagte ich. »Solltest du dich nicht lieber ausruhen?« Ellen sah aus, als würde sie gleich losheulen.
Marie blickte von ihrem Buch auf. »Geh nach oben, Ellen. Nimm zwei von den Baby-Aspirin aus dem Medizinschrank. Aus dem Fläschchen mit dem rosa Deckel.«
Ellen stand auf und schleppte sich langsam die Treppe hoch; sie nahm immer nur eine Stufe auf einmal und hielt sich am Geländer fest.
Ich blieb im Wohnzimmer bei Beatrice und Marie sitzen, die beide in ihre Bücher vertieft waren. Die Bäume draußen spiegelten sich in dem cremeweißen Kachelboden, sodass es aussah, als wäre er ständig in Bewegung, die schaukelnden Zweige sorgten für einen raschen Wechsel von Licht und Schatten. Als das Telefon klingelte, zuckte ich zusammen.
»Ich geh schon«, sagte ich, obwohl sich sonst niemand gerührt hatte. Es war Sage.
»Charlotte fährt mich in ein paar Minuten zur Arbeit, aber vorher muss ich dir noch was erzählen.«
Ich ging mit dem Telefon in die Waschküche, damit die anderen mich nicht hören konnten. »Was denn?«
»Gestern Abend, oben am Turm, hat Abbey erzählt, Wilson wäre da gewesen, um ein paar Jungs zusammenzutrommeln – sie sollten ihm versprechen, irgendeinen Perversen mit ihm zu vermöbeln. Und dieser Typ, den sie sich vorknöpfen wollen, soll ein kleines Mädchen vom Berg angegriffen haben.«
Ich ließ mich auf den Stapel Schmutzwäsche sinken, der vor der Waschmaschine auf dem Boden lag.
»Großer Gott!«
»Du sagst es.«
»Hat er erzählt, dass wir es sind? Wusste Abbey, dass es um Ellen geht?«
»Ich glaube nicht. Das hätte sie mir gesagt.«
»Und haben sie’s gemacht?«
»Nein. Also, zumindest nicht gestern. Wilson meinte, er sei noch auf der Suche nach dem Typen. Aber er wollte schon mal wissen, ob sie ihm helfen. Dafür hat er ihnen ein paar Tütchen Gras gegeben und für danach einen Kasten Bier versprochen.«
»Warum macht er das?«
»Keine Ahnung. Aber er wird den Kerl sicher eh nicht finden.«
Mein Mund war so trocken, dass die Worte darin hängen blieben. »Wieso kann er uns nicht einfach in Ruhe lassen?«
»Erzählt es eurer Mutter, Libby.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.«
Als ich mich hochrappelte, um den Hörer wieder aufzulegen, sah ich, dass ich auf Ellens schmutziger Schuluniform gesessen hatte, die voller Schlamm, Blut und Rollsplitt war. Sie hatte sie einfach dorthin geworfen. Die ganze Sache lief aus dem Ruder. Ich warf die Kleider in die Waschmaschine, stellte den Vollwaschgang ein und ging zurück ins Wohnzimmer. Dort lasen die anderen immer noch und ahnten nichts von dem Unheil, das uns drohte.
Ich nahm mir vor, Marie später davon zu erzählen, damit sie Wilson zurückpfiff und er uns endlich wieder in Ruhe ließ. Jetzt rollte ich mich neben Beatrice auf dem Sofa zusammen und zog die Knie an die Brust. Ich lag da, spürte den Drillichbezug an der Wange, betrachtete die Muster auf dem Fußboden. Versuchte, ruhiger zu atmen. Als Dad schon nicht mehr bei uns wohnte, hatte er einmal fast eine Woche auf diesem Sofa verbracht, weil er sehr krank war. Es ließ sich ausziehen, und wir hatten ihm mit Laken und Decken ein Bett zurechtgemacht. Mom hatte einen Arzt gerufen. In diesen Tagen fühlte sich alles plötzlich wieder richtig an, Mom, die auf dem Rand des Bettsofas saß, ihm das Fieberthermometer unter die Zunge schob und ihm kühle Kompressen auf die Stirn legte, wir alle, die wir uns um ihn kümmerten. Auch wenn ich wusste, dass es