Licht zwischen den Bäumen. Una Mannion

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Licht zwischen den Bäumen - Una Mannion


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Wie war Marie bloß darauf gekommen, Wilson einzuspannen, und wie hatte ich, nach allem, was passiert war, Ellen zu ihm ins Auto steigen lassen können? Im Bad wischte ich das Waschbecken und den Boden sauber, legte die Badematte an ihren Platz zurück und stopfte die benutzten Handtücher in die Waschmaschine.

      Es war fast zwei Uhr, später als sonst, als Mrs Boucher nach Hause kam. Schweigend fuhr sie mich bis zu unserer Straßenecke. Sie wirkte müde und abwesend, ließ beim Fahren das Fenster offen, damit sie rauchen konnte.

      »Hast du nächsten Freitag wieder Zeit?«, fragte sie, bevor ich ausstieg.

      »Ja, das wäre toll. Vielen Dank.«

      Die Hintertür war nicht abgeschlossen. Ich schlich die Treppen hinauf. Als ich in unser Zimmer kam, waren Marie und Ellen noch wach. Sage und Ellen waren ebenfalls an der Straßenecke aus Wilsons Auto gestiegen und zusammen bis zu unserem Haus gelaufen. An der Hintertür hatte Marie gewartet und Ellen in Empfang genommen, Sage war wieder zur Straßenecke gegangen, wo Wilson wartete, Marie hatte Ellen direkt nach oben ins Bett gebracht. Ich kroch auf meinen Teil des Ausziehbetts, und so lagen wir alle im Dunkeln da.

      »Weiß Mom, dass Ellen wieder da ist?«, fragte ich.

      »Sie muss uns wohl gehört haben, denn als wir das Licht ausgemacht hatten, vor zwanzig Minuten etwa, ist sie reingekommen. Sie hat sich an Ellens Bett gestellt, aber kein Wort gesagt.«

      »Sie hat mir die Bettdecke etwas höher gezogen«, sagte Ellen.

      Ich sah auf Ellens Bett herunter. Im Dunkeln konnte ich ihre Stirn leuchten sehen, den Umriss ihres Gesichts ausmachen, aber nicht erkennen, dass sie verletzt war. Ein paar Minuten schwiegen wir alle.

      »Was für ein gottverdammter Scheißkerl«, sagte Marie. »Kastrieren sollte man den. Hast du irgendwas vom Nummernschild gesehen, Ellen? War er aus Pennsylvania?«

      Schlafen konnten wir nicht. Ich spürte, wie wir alle wach im Dunkeln lagen, und etwa jede Stunde fragten Marie oder ich: »Bist du noch wach, El?« oder »Tut dir was weh?« Ich musste an das Kunstcamp denken, an den Brief, den Miss LeBlanc ihr geschrieben hatte.

      »Warum hast du Mom nichts von Miss LeBlancs Brief erzählt, Ellen? Ich glaube, sie weiß gar nicht, wie gut du bist.«

      »Das hätte doch nichts geändert. Sie hätte mich trotzdem nicht fahren lassen.«

      Im Königreich blühte um mich herum der Berglorbeer, die Blüten sahen aus wie breite Tassen, und ich pflückte eine aus ihrer Dolde am Zweig heraus. Die weißen Blütenblätter gingen leicht ins Rosige und hatten burgunderrote Sprenkel. Blüten und Pollen des Berglorbeer sind giftig, aber seine Blätter haben eine heilende Wirkung. Die Cherokee setzten die Blätter bei Verletzungen als Schmerzstiller ein und rieben sie auf die Haut, um Arthritis zu lindern.

      Ich hörte einen leisen Pfiff. Sage. Ihre silbernen Armreifen klimperten beim Gehen, und durch eine schmale Lücke oben an der Böschung sah ich sie den Weg entlangkommen. Am krummen Baum bog sie ab, und kurz darauf trat sie von hinten in unser Rund. Bevor sie sich setzte, zog sie einen Frischhaltebeutel mit zwei Zigaretten aus dem Rucksack. Sie schob sich eine davon zwischen die Lippen und zündete sie an, dann hielt sie mir den Beutel hin. Ich schüttelte den Kopf. Sage ließ den Rauch zuerst ihren Mund füllen und sog ihn dann tief ein, so rauchte sie immer. Charlotte machte es genauso.

      »Wie geht’s ihr?«

      »Marie meint, sie steht noch unter Schock, aber dass sie schon wieder wird.«

      Sage atmete aus. Ich holte Luft: Der Rauch war frisch und kühl. Jack Griffith hatte Sage und mir erzählt, Mentholzigaretten enthielten Glaswolle und seien das Schlimmste, was man rauchen könne. Vorletzten Sommer hatten Thomas und er uns erwischt, als wir hinter dem Haus rauchten. »Was für’n Streber«, hatte Sage gesagt, als die beiden wieder verschwunden waren. Sage war genauso alt wie die beiden Jungen, Jack ging in ihre Klasse. Sie fand ihn nervig. »So ein eingebildeter Tugendbolzen«, sagte sie immer.

      »Weiß eure Mutter es schon? Ich hoffe, sie fühlt sich richtig schlecht.«

      »O Gott, nein. Sie darf das nie erfahren. Sie würde Ellen allein schon dafür umbringen, dass sie getrampt ist. Wir haben alle ausgemacht, ihr kein Wort zu sagen.«

      Sage zitierte eine Zeile aus »Jumpin’ Jack Flash«, und ich gab einen Laut von mir, der kein Lachen war.

      Es gab Augenblicke, da hielt ich meine Mutter durchaus für eine alte Vettel aus der Hölle, aber ich konnte es nicht leiden, wenn andere so etwas sagten.

      Sage war besessen von Mick Jagger, und wir machten uns schon länger einen Spaß daraus, Textzeilen von den Stones zu zitieren, wenn sie gerade zur Lage passten. Im September sollten die Stones in Philadelphia spielen. Sage wollte hin.

      Sie zog eine Salbentube hervor. »Neosporin, für die Schrammen und die anderen Verletzungen. Das haben wir auch gestern Nacht schon verwendet.« Dann reichte sie mir noch ein kleines braunes Fläschchen mit Pillen. »Und das sind die Antibiotika, die ich wegen der Verbrennungen bekommen habe. Die zweite Dosis, die ich dann nicht mehr nehmen musste, aber ich weiß, dass sie gut für die Haut sind und gegen Entzündungen helfen.« Letzten Oktober hatte Sage mit ein paar anderen versucht, oben am Wasserturm ein kleines Lagerfeuer zu machen. Sie hatte Benzin auf den Holzstapel gegossen, und ein paar Spritzer waren auf ihrer Daunenjacke gelandet. Als sie dann ein Streichholz anzündete, war es ihr praktisch in der Hand explodiert. Die Flammen wurden sofort von irgendwem gelöscht, aber niemand hatte Hilfe geholt. Sage war mit verbrannten Händen und Armen zurück nach Hause gelaufen, und ihr Vater hatte sie ins Krankenhaus gefahren. An den Händen war alles bestens verheilt, nur an der weichen Unterseite der Arme, wo die Jacke mit der Haut verschmolzen war, hatte sie ein paar runzlige Narben zurückbehalten. Für Sage war das wie mit den schiefen Zähnen; sie sah die Narben nicht als Makel, sondern als in den Körper eingeschriebene Erfahrungen, Markierungen, die zu ihrer ganz persönlichen Geschichte beitrugen. Sie wollte keine Zahnspange, und sie mochte ihre Narben.

      »Valium konnte ich keins finden. Ich habe überall gesucht. Aber ich weiß auch gar nicht, ob ihr Ellen so was geben solltet. Und ich finde immer noch, wir sollten Grady davon erzählen. Er kann sie untersuchen.«

      »Nein, Sage. Bitte. Du darfst es keinem erzählen. Niemals.«

      »Herrgott, Libby – Ellen sieht aus wie neun. Dieser Typ, der sie mitgenommen hat. Wir müssen das irgendwem erzählen.«

      Aber ich wollte nicht, dass Grady Adams davon erfuhr. Er hatte ohnehin schon eine Abneigung gegen meine Mutter, und ich wollte nicht, dass er noch mehr mitbekam. Ich hatte Sages Vater wirklich gern. Er hörte klassische Musik, sammelte Jazz-Platten. Im Keller hatte er einen Hobbyraum mit einer Hausbar, und manchmal hatte ich durch den Türspalt beobachtet, wie er, zurückgelehnt in einem Drehsessel aus Leder, mit geschlossenen Augen der Musik lauschte. Er hatte einen weichen, gedehnten Südstaatenakzent und sprach immer mit mir, als würde es ihn wirklich interessieren, was ich zu sagen hatte. Außerdem schien er ein wenig über den Dingen zu schweben. Charlotte war ganz anders, nervös und elegant. Sie äußerte ihre Ansichten unverblümt, liebte gute Geschichten und scheute sich auch nicht vor Übertreibungen, um sie etwas farbiger zu gestalten. Sage meinte, sie habe einen Hang zur Dramatik. Meine Mutter meinte, Charlotte Adams könne auch als Fluglotsin anheuern, so wie sie beim Reden immer mit den Armen wedelte und die Hände bewegte.

      »Nein. Wir erzählen es keinem. Bitte, Sage. Versprich es mir.«

      Sage stand auf, streckte mir die Hand hin und zog mich auf die Füße. »Komm, wir sehen nach Ellen.«

      Wir gingen den Weg zurück, ringsum fiel Sonnenlicht durch das Blätterdach. Umgestürzte Bäume lagen übereinander, bei einigen war der Stamm komplett durchgebrochen und hatte wie klaffende Wunden schartige Stümpfe zurückgelassen. In meiner Faust hielt ich die Salbe und die Tabletten. Ich dachte an meine Mutter, die auf der Suche nach Ellen die menschenleeren Straßen abgefahren war. Ob sie wohl auch am Fenster ihres Zimmers gesessen und gewartet hatte? Ob sie vielleicht gesehen hatte, wie Sage Ellen nach Hause brachte? Ich dachte daran, wie sie versucht hatte, Ellen besser zuzudecken. Und obwohl ich immer noch böse auf sie war, tat es mir doch weh, so an sie zu


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