Licht zwischen den Bäumen. Una Mannion
Читать онлайн книгу.Sage an, außer Marie und Thomas der einzige Mensch auf dieser Welt, der mich sofort verstehen würde.
»Hallo, ich bin’s.«
»Warum flüsterst du?«
»Weiß ich auch nicht. Ich bin bei den Bouchers. Mom hat vorhin, als es schon dunkel war, Ellen aus dem Auto geworfen. Auf der Brücke über den Turnpike. Sie muss zu Fuß nach Hause laufen, aber ich glaube, sie ist noch nicht wieder da.«
»Am Turnpike? Arme Ellen. Diese Straße ist so einsam.«
»Ja. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
»Ich schicke Charlotte mit dem Wagen los«, sagte Sage. »Das macht sie bestimmt.«
»Nein. Bitte nicht. Dann wird alles nur noch schlimmer. Mom kriegt vielleicht Ärger.«
»Und wenn schon.«
»Sag deiner Mutter bitte nichts. Ich melde mich, sobald ich weiß, dass sie zu Hause ist.« Ich setzte mich wieder auf das Sofa und versuchte, fernzusehen, konnte mich aber nicht konzentrieren. Wenn ich bloß etwas zu Mrs Boucher gesagt hätte, vielleicht hätten wir Ellen dann schon gefunden und alles wäre längst vorbei. Um halb elf klingelte das Telefon.
Marie war dran. »Sie ist immer noch nicht da.«
»O Gott. Mir ist ganz schlecht.«
»Auf der Straße ist sie nicht. Sie muss wohl durch den Wald gegangen sein.«
»Woher weißt du das?«
»Wilson McVay ist die ganze Strecke mit dem Motorrad abgefahren und hat sie nicht gesehen.«
»Du hast Wilson McVay angerufen?«
»Ja. Wen denn sonst?«
»Jeden, bloß nicht ihn. Der ist verrückt, Marie.«
»Die Leute, die so was sagen, kennen ihn nicht.«
»Die Leute haben Gründe, so was zu sagen. Er hat ziemlich verrücktes Zeug gemacht.«
»Er hat uns geholfen, Libby. Werd erwachsen.«
Mir fiel mehr als genug ein, was mit Wilson McVay nicht stimmte. Unser toter Kater Mr Franklin zum Beispiel. (So hatte ihn Thomas genannt, nach Benjamin Franklin, der sich der Legende zufolge einmal nachts am Berg verirrt haben soll. Unser Mr Franklin war uns als junges Kätzchen im Wald zugelaufen.) Wir waren überzeugt, dass Wilson ihn getötet hatte. Die Leute erzählten sich, er knalle die Haustiere der Nachbarn mit seinem Luftgewehr ab, und als wir Mr Franklin tot im Wald fanden, hatte er kreisrunde Wunden in der Flanke. Ich hatte selbst schon erlebt, wie verrückt Wilson sein konnte, und Marie war auch dabei gewesen. Vor Jahren, ich war vielleicht elf oder zwölf, saßen wir einmal auf den Schaukeln am Sun Bowl, und Wilson kam mit seiner Motocross-Maschine angefahren, kurvte herum und versuchte, den Felshang am anderen Ende des Geländes raufzukommen. Er machte ein paar Anläufe, dann fuhr er zu den Schaukeln und ließ die Maschine aufheulen, wirbelte direkt vor uns Staub auf. Eine Gruppe älterer Jungs war aufgetaucht und stand auf dem Basketballfeld herum. Sie waren mir mindestens genauso suspekt. Als Wilson mit dem Motorrad an ihnen vorbeifuhr, rief ihm einer, ein Typ mit freiem Oberkörper, so etwas wie »Psycho!« nach. Wilson wendete wieder. Als er erneut vorbeifuhr, kommentierte derselbe Typ: »Sogar die Spinner sind heute zum Spielen draußen«, und die anderen lachten. Wilson wendete erneut und fuhr direkt auf ihn zu. Er zögerte keine Sekunde, wich auch nicht aus und verfehlte den halbnackten Typen nur, weil der zur Seite sprang. Der Typ rappelte sich auf und schrie: »Ein Tag Freigang von der Klapse, was, Arschloch?« Wilson ließ das Motorrad liegen, rannte auf den Typen zu, sprang hoch und rammte ihm den Kopf gegen die Stirn. Der Typ stand einen Moment wie benommen da, dann sackte er einfach in sich zusammen. »Er hat ihn k.o. geschlagen«, rief jemand. Wilson war noch einmal an den Schaukeln vorbeigekommen, und ich hatte sein Gesicht gesehen.
Mir war klar, warum der Typ ihn als Verrückten bezeichnete – das taten alle. Etwa ein halbes Jahr vorher hatte die Polizei kommen müssen, weil Wilson bei den Nachbarn die Fenster eingeschlagen hatte. Bei drei Häusern hintereinander. Eine Scheibe nach der anderen hatte er mit bloßen Fäusten eingeschlagen, brüllend, mitten in der Nacht. Als es vorbei war, kam Mr Pascall, der gleich nebenan wohnte, nach draußen. Er fand Wilson splitternackt auf der Straße vor, heulend, Hände und Arme voller Blut. Wilson hatte zu ihm hochgeschaut und gesagt: »Sie rufen jetzt wohl besser die Bullen.« Kurz nach der Sache am Sun Bowl hörten wir, er sei in einen missglückten Raubüberfall verwickelt gewesen, bei dem auch ein Tankstellenmitarbeiter gefesselt worden sei. Manche behaupteten, Wilson hätte den Fluchtwagen gefahren. Irgendwas musste er jedenfalls gemacht haben, denn danach verschwand er für ein paar Jahre, und kein Mensch wusste, wohin. Seit er wieder da war, tauchte er häufig auf Partys auf, suchte die Gesellschaft von Jugendlichen, die kaum älter waren als ich, war dabei, aber hielt sich am Rand.
»Vielleicht hat sich Ellen ja versteckt, als sie das Motorrad gehört hat, weil sie Angst vor Wilson hatte.«
»Du kennst ihn doch gar nicht. Ich ruf dich an, wenn sie hier ist.«
Ich sah weiter fern, den Ton auf leise gestellt. Gerade fing Fantasy Island an. Es kam mir alles so lächerlich vor, der kleine Mann, der »Das Flugzeug! Das Flugzeug!« ruft, der Typ im Smoking, der angeblich gottähnliche Fähigkeiten hat und seinen Angestellten einschärft, für die reichen Gäste auch schön zu lächeln. Ich schaltete um zu Detektiv Rockford – Anruf genügt. Ich konnte einfach nicht stillsitzen. Es war gleich elf, mehr als drei Stunden her, seit Ellen aus dem Auto gestiegen war.
Mrs Boucher hatte verschiedene Zeitschriften und Zeitungen abonniert, Bücherregale pflasterten die Wände. Auf dem Couchtisch lagen der Philadelphia Inquirer und die New York Times. Beide Titelseiten machten immer noch mit den Kindermorden von Atlanta auf. Ich versuchte die Artikel zu lesen, konnte mich aber auch darauf nicht konzentrieren. Am Morgen, auf der Fahrt zur Schule, hatte ich in den Radionachrichten davon gehört. Sämtliche Brücken von Atlanta wurden von der Polizei observiert, und letzte Woche hatten sie mitbekommen, wie auf einer der Überführungen über den Chattahoochee River ein Wagen hielt und kurz darauf ein Platschen im Wasser zu hören war. Der Fahrer war festgenommen worden, und zwei Tage später wurde flussabwärts eine Leiche angeschwemmt. Jetzt glaubten sie, den Mörder endlich zu haben. Ich betete, dass er es auch wirklich war. Mehr als zwanzig schwarze Kinder waren tot oder wurden noch vermisst. Ich hatte Angst, so allein im Haus der Bouchers. Es bestand fast nur aus Glas und war an den Hang gebaut, der hinter dem Haus steil abfiel, sodass ich hier im Wohnzimmer wirklich das Gefühl hatte, inmitten von Baumwipfeln zu schweben. Mir war klar, warum Mrs Boucher immer von ihrem Baumhaus sprach. Es gab überall Fenster und keine Vorhänge.
Ich beschloss, noch einmal bei Sage anzurufen, damit sie ihre Eltern doch um Hilfe bat, selbst wenn das hieß, dass sie die Polizei einschalten würden. Auf dem Weg zum Telefon in der Küche huschte vor einem der vorderen Fenster ein Schatten vorbei. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich etwas Weißes. Ich blieb stehen, hielt den Atem an. Ein Rascheln war zu hören. Dann ein Klopfen an der Scheibe. Ich blickte an mir herunter, auf mein weißes T-Shirt, überlegte, ob ich vielleicht nur mein eigenes Spiegelbild gesehen hatte. Es klopfte wieder. Da war eindeutig jemand am Fenster. Ganz lässig, als hätte ich keine Angst, ging ich zur Haustür, versteckte mich dahinter und wartete. Ich schaltete die Außenbeleuchtung ein, warf einen Blick nach draußen und schrie auf. Dann riss ich die Tür auf, und Ellen stolperte über die Schwelle.
»Mein Gott, Ellen!«
Ihr Gesicht war mit Blut und Erde verschmiert. Unter dem rechten Auge hatte sie eine offene Platzwunde. Der rechte Arm und das rechte Bein waren voller Schrammen, ihre ganze Seite gespickt mit Rollsplitt von der Straße. Ihr weißes Polohemd war mit Blut und Schlamm bespritzt.
»Ich bin aus einem Auto gesprungen.«
»Was? Was meinst du damit?« Ich schloss die Haustür, spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss, in meinen Ohren rauschte es wie ein Ozean. »Geht’s dir gut? Bist du irgendwo verletzt?« Meine Stimme klang viel zu laut.
»Glaub nicht. Weiß nicht. Ich bin hierhergelaufen. Nach Hause konnte ich so nicht.«
Ich muss