Licht zwischen den Bäumen. Una Mannion
Читать онлайн книгу.schreiben, was wahrscheinlich auch so war.
Für Libby, die immer unter Bäumen ist. Frohe Weihnachten! Alles Liebe, Dad
Ich kann gar nicht sagen, ob ich so viel Zeit mit Bäumen verbracht habe, weil ich sie liebte, oder weil es ihn so freute, dass ich sie liebte, das kann ich nicht voneinander trennen. Als ich vielleicht sechs war, und er noch hin und wieder bei uns wohnte, kam ich nach einem Tag im Wald abends immer barfuß und verdreckt nach Hause. Einmal setzte er mich auf die Waschmaschine, drehte den Wasserhahn am Becken daneben auf und wusch mir die Füße. Er schäumte sie mit Seife ein, schrubbte sie und bearbeitete meine Fersen, wo sich der Schmutz tief in die Hornhaut gegraben hatte, mit der Nagelbürste.
»Im Wald gibt’s Mokassinschlangen, Libby – du musst dir Turnschuhe anziehen. Du kannst nicht immer barfuß herumlaufen.« Meine Schienbeine waren mit rissigem Schorf verziert, weil ich auf Bäume geklettert und im Dickicht aus Lorbeer- und Rhododendronbüschen herumgekrochen war.
Er nahm meine Hand und führte meinen Zeigefinger über eine besonders dicke Kruste.
»Fühl mal! Du wirst schon ein richtiger Baum. Deine Beine entwickeln Rinde.«
Der furchige Schorf war dunkel und erhaben. Ich ertastete seine Form und Beschaffenheit, ließ die Hände an beiden Schienbeinen hinaufwandern, strich über die Krusten.
»Stimmt«, sagte ich und sah glücklich zu ihm auf, und er lachte und trocknete mir sorgsam Beine und Füße ab, auch zwischen den Zehen. Dann zog er mir Strümpfe über die sauberen Füße.
»Jetzt kannst du rauf zu Ihrer Ladyschaft, ohne Ärger zu kriegen. Und halt gefälligst deine Füße sauber!« Aber ich wusste, er liebte meine dreckigen Füße.
An seinem letzten Weihnachten hatte er für uns alle ein Buch ausgesucht. Noch heute stelle ich ihn mir vor, wie er dort in dem New Yorker Buchladen steht und die Bücher aussucht, die uns gefallen könnten, die Karten auswählt und das Geschenkpapier, und wie er die Geschenke dann schließlich einpackt: das Papier faltet, den Tesafilm abreißt und Schleifen bindet, mit seinen dicken Fingern, die sich eher dafür eignen, Maschinen zu bedienen und Betonblöcke zu schleppen. Für Marie hatte er den zweiten Band von Rock On! gekauft, einem illustrierten Lexikon der Rockmusik. Ich brachte Stunden damit zu, mir die Bilder darin anzusehen. Es deckte die Jahre 1964-1978 ab und damit praktisch alle meine Lieblingsbands. Thomas bekam Sterne und Planeten: Die Geheimnisse des Nachthimmels, das er auch weiterhin im Geschenkpapier eingeschlagen ließ – keine von uns durfte es auch nur berühren. Ellens Buch handelte von Kunstgeschichte und war mit einem Aquarellkasten und Pinseln versehen; für Beatrice hatte er ein Buch über die verschiedenen Hunderassen mit Aufklebern besorgt. Mir schoss auf einmal die Frage durch den Kopf, ob er an der Kasse wohl erzählt hatte, dass die Bücher für seine Kinder waren. Ich stellte mir vor, wie er mit seiner Tüte voller Geschenke in der U-Bahn zurück in die Bronx saß, zwischen all den anderen Weihnachtseinkäufern, und plötzlich war mir dort im Auto, als bekäme ich keine Luft mehr. Wenn ich ihm bloß erzählen könnte, dass jedes dieser Bücher inzwischen für uns stand, dass wir das Bild, das er jeweils von uns hatte, nicht mehr abstreifen konnten, nicht aufhören konnten, ihm zu entsprechen.
Neben mir saß Ellen immer noch vorgebeugt, die Knubbel ihres knochigen Rückgrats zeichneten sich unter dem Oberteil ihrer Schuluniform ab. »Was für ein spilleriges Dingelchen«, hatte Tante Rosie über sie gesagt, als sie zur Beisetzung unseres Vaters aus Irland gekommen war. Sie schickte uns Lebensmittelpakete und zu Weihnachten eine Flasche Sherry, um Ellens Appetit anzuregen; sie »gedeihe« nicht gut, meinte sie, ein Ausdruck, über den wir alle lachen mussten, weil es klang, als spräche sie über ein Stück Vieh auf dem Bauernhof. Aber sie hatte natürlich recht, Ellen war schmächtig. Mit ihren zwölf Jahren maß sie gerade einmal einen Meter zwanzig und wog keine dreißig Kilo. Sie sah so schmal und unglücklich aus, und ich wollte ihr den Rücken tätscheln.
»Lass mich«, knurrte sie, versuchte, mich abzuwehren und ruckelte dabei wieder am Fahrersitz.
Mom machte einen Schlenker Richtung Böschung und fuhr dann wieder zurück auf die Fahrbahn, bauschte die Heftigkeit von Ellens Geruckel an ihrer Rückenlehne künstlich auf. »Damit bringst du uns noch alle um! Ist dir das klar? Es reicht jetzt wirklich. Wenn wir zu Hause sind, kannst du erstmal unten staubsaugen und die Wäsche zusammenlegen.«
»Nein, mach ich nicht«, gab Ellen zurück. »Beatrice kann zur Abwechslung auch mal was tun.«
»Halt Beatrice da raus.« Ich sah Moms dicken Haarknoten, ein Auge im Rückspiegel, mit dem sie Ellen musterte.
»Schon gut. Klar kann ich das machen.« Beatrice beugte sich von ganz hinten vor, voller Sorge, sie könnte irgendwie schuld an dem sein, was da gerade passierte.
»Danke, Beatrice. Wenn Ellen nur auch mal so nett zu anderen wäre.«
»Du hasst uns doch sowieso alle, nur sie hast du lieb. Und deinen fetten Freund.« Ellen überspannte den Bogen. Ich stieß sie in die Seite, damit sie den Mund hielt.
»Noch ein Wort, und du kannst zu Fuß gehen.«
»Ist doch wahr. Du hasst uns!« Ellen brüllte jetzt. »Dad hast du auch gehasst, und ich hasse dich!«
Bei der Erwähnung unseres Vaters blieb uns allen die Luft weg. Vor unserer Mutter sprachen wir nie über ihn. Das Auto kam schlitternd auf dem Seitenstreifen zum Stehen, genau an der Stelle, wo die 252 über den Turnpike führt.
»Raus. Steig aus.« Mom sagte es mit ihrer leisen Stimme, woran wir merkten, dass sie es ernst meinte. Ellen griff über Thomas hinweg, öffnete die Autotür und kletterte hinaus.
»Du kannst sie hier doch nicht einfach raussetzen«, sagte Marie. »Es wird schon dunkel. Ich gehe mit.« Sie griff nach ihrer Schultasche, die vorne im Fußraum stand.
»Das wirst du schön bleiben lassen.«
»Warte mal«, sagte Thomas. Er sah erschrocken aus, machte sich Vorwürfe wegen seiner Sticheleien. Ellen stand auf dem Kiesstreifen am Rand der Überführung, in Schulkleid, Polohemd und Kniestrümpfen. Marie hatte die Beifahrertür schon halb offen, aber unsere Mutter legte den Gang ein und trat aufs Gas.
Ich schaute zurück. Ellen stand von uns abgewandt, sie blickte über das Brückengeländer nach unten, wo die Autoschlangen auf den Turnpike drängten.
»Mom, mach das nicht. Bitte!«, sagte Thomas, aber sie reagierte nicht. Wir sausten die 252 entlang bis zum Nationalpark und bogen dann nach links ab, Richtung Valley Forge Mountain, wo wir wohnten. Vor uns war die Sonne hinter den Feldern verschwunden.
»Du kannst sie nicht einfach da stehen lassen. Es ist dunkel«, sagte Marie.
Wir waren noch mindestens acht oder neun Kilometer von zu Hause weg. Ich hatte nichts gesagt, um unsere Mutter aufzuhalten. Wir rasten die Straße entlang, über die Brücke mit dem Dach hinweg, vorbei an Äckern und Zäunen. Meine Mutter fuhr weiter und neben uns flossen die Schatten der Hartriegelbüsche im Dunkeln ineinander, jeder Strauch umgeben von einem weißen Heiligenschein aus herabgefallenen Hochblättern.
2
Valley Forge war vor allem dafür bekannt, dass George Washington, zusammen mit den zwölftausend Soldaten seiner Kontinentalarmee, einen Winter hier verbracht und in improvisierten Holzhütten ums nackte Überleben gekämpft hatte. Die Soldaten waren unterernährt, zerlumpt und barfuß gewesen. Mehr als zweitausend starben an Unterkühlung, an Krankheiten oder Verletzungen, weitere dreitausend wurden dienstuntauglich. In der neunten Klasse hatte unsere Geschichtslehrerin, Miss Esposito, uns erklärt, Valley Forge sei der Wendepunkt des Unabhängigkeitskriegs gewesen, ein Symbol für den revolutionären Geist und das amerikanische Selbstverständnis. Ich war die Einzige in der Klasse, die tatsächlich dort lebte. Wenn ich durch die Wälder am Berg streifte, dachte ich an die halb erforenen Männer, die hier heraufgekommen waren, um ganze Stämme oder abgebrochene Äste hinunter ins Lager zu schleifen, an die Männer, die sich als Deserteure zwischen die Bäume geflüchtet hatten, oder an die, die vielleicht gerade noch hierher gekrochen waren, um sich zum Sterben hinzulegen. Einige waren