Pflanzenrevolution. Stefano Mancuso

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Pflanzenrevolution - Stefano Mancuso


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täten gut daran, dem Rechnung zu tragen, wenn wir uns Gedanken über unsere eigene Zukunft machen.

      1 GEDÄCHTNIS OHNE GEHIRN

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      Normalerweise bestimmen wir Pflanzen anhand ihrer oberirdischen Teile.

      Dabei macht der Wurzelstock mindestens die – noch dazu wohl interessantere –

      Hälfte der Pflanze aus.

      Gedächtnis: Fähigkeit des Gehirns, die die Speicherung von Lernstoff, Eindrücken, Erlebnissen und Erfahrungen und die Reproduktion derselben zu einem späteren Zeitpunkt möglich macht, Erinnerungsvermögen

      Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache – DWDS

      Die Klugheit ist die Ehefrau, die Fantasie die Geliebte und die Erinnerung die Dienstmagd.

      Victor Hugo, Post-scriptum de ma vie

      Wir besitzen ein gigantisches Gedächtnis, von dem wir aber nichts wissen.

      Denis Diderot

      Tiere und Pflanzen lernen

      durch Erfahrung

      Ich habe mich schon immer für die Intelligenz der Pflanzen interessiert und darum zwangsläufig auch für ihr Gedächtnis. Im ersten Moment klingt das vielleicht seltsam: ihr Gedächtnis. Aber schauen wir doch einmal genauer hin. Man kann sich ja durchaus vorstellen, dass Intelligenz nicht einem einzelnen Organ zuzuordnen ist, gehört sie doch zum Leben selbst. Wie die Pflanzen zeigen, ist das Großhirn lediglich ein evolutionärer «Zufall», der nur bei den Tieren, also einem winzigen Teil der Lebewesen, auftritt. Bei der überwiegenden Mehrheit, den Pflanzen, hat sich die Intelligenz ohne Gehirn entwickelt. Andererseits kann ich mir beim besten Willen keine Form von Intelligenz – und sei sie auch noch so speziell – vorstellen, die ohne Gedächtnis auskommt.

      Gedächtnis ist also nicht dasselbe wie Intelligenz. Ohne Gedächtnis können wir nichts lernen, und ohne Lernen ist Intelligenz unmöglich. Steht ein Lebewesen mehrfach vor demselben Problem, werden wir es nur dann als intelligent bezeichnen, wenn es auf das Problem mit der Zeit besser reagiert. Sicher haben wir alle manchmal das Gefühl, immer wieder dasselbe Verhalten zu zeigen, obwohl wir es eigentlich besser wissen müssten. Und jedem fallen wohl Freunde oder Verwandte ein, die in bestimmten Situationen immer gleich, also niemals auch nur einen Deut klüger reagieren. Doch das ist nur unser Eindruck. Von Ausnahmen oder Sonderfällen abgesehen, die oft mit kleineren pathologischen Störungen zusammenhängen, lernen alle Lebewesen durch Erfahrung. Und diese goldene Regel gilt auch für Pflanzen. Wenn sich Probleme wiederholen, reagieren sie immer angemessener. Und das wäre nicht möglich, wenn sie die Informationen zur Problemlösung nicht irgendwo abspeichern würden. Wenn sie also kein Gedächtnis besäßen.

      Aber glauben Sie bloß nicht, dass man deshalb schon offen von einem pflanzlichen Gedächtnis spricht. Weil die Pflanzen kein Gehirn besitzen, hat man sich zur Erklärung der zahlreichen Aktivitäten, für die Tiere analog das Gehirn benutzen, nämlich die verschiedensten Fachbegriffe ausgedacht: Akklimatisierung, Abhärtung, Priming, Konditionierung … Die Wissenschaft hat also linguistische Drahtseilakte vollführt, um in Bezug auf Pflanzen den alten, bequemen und einfachen Begriff «Gedächtnis» zu umgehen.

      Doch ebenso wie die Tiere lernen Pflanzen aus Erfahrung und müssen folglich ein Erinnerungsvermögen besitzen. Nehmen wir ein Beispiel: Ein Olivenbaum kann Stresssituationen wie trockene oder salzige Böden überleben, weil er Anatomie und Stoffwechsel entsprechend verändert. Das wäre an sich noch nichts Besonderes. Aber wenn wir dieselbe Pflanze nach einer gewissen Zeit derselben Stresssituation, vielleicht sogar noch in verstärkter Form, aussetzen, fällt ihre Reaktion scheinbar überraschend aus, nämlich besser. Sie hat ihre Lektion gelernt! Irgendwie hat sie die angewandte Lösung gespeichert, umgehend abgerufen und so diesmal effizienter und präziser reagiert. Um ihre Überlebenschancen zu erhöhen, hat sie aus Erfahrung gelernt und sich die optimale Reaktion gemerkt.

      Pflanzen mit langem Gedächtnis

      Vieles in der Pflanzenwelt, das analog zur Tierwelt abläuft, ist mittlerweile zufriedenstellend erforscht: Intelligenz, Kommunikation, Verteidigungsstrategien oder Verhalten. Nur zum Gedächtnis hat man erst kürzlich Vergleichstests durchgeführt. Das ist umso erstaunlicher, als der Vorreiter auf diesem Gebiet einer der berühmtesten Naturwissenschaftler war: Lamarck (1744–1829), oder besser Jean-Baptiste Pierre Antoine de Monet, Chevalier de Lamarck – weil seine wissenschaftliche Leistung damit würdig zum Ausdruck kommt. Wie andere Naturforscher seiner Zeit interessierte sich der Vater der Biologie – der Begriff geht auf ihn zurück – besonders für die schnellen Bewegungen der sogenannten Sinnpflanzen, Pflanzen also, die umgehend und offensichtlich auf bestimmte Reize reagieren. Lamarck hat sich vor allem lange mit der Frage beschäftigt, wie und warum die Mimose ihre Blättchen plötzlich schließt. Und um es gleich vorwegzunehmen, so genau wissen wir es bis heute nicht.

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      Mimosa pudica in voller Blüte. Die zahlreichen rosafarbenen Staubblätter lassen die Blüten fedrig aussehen.

      Ich nehme an, Sie kennen Mimosen. Man kann sie ja heute im Supermarkt kaufen. Aber falls jemand noch keine gesehen hat: Es handelt sich um eine kleine, anmutige Pflanze, die ihre Blättchen bei äußeren Reizen wie Berührungen schamhaft schließt und darum auch Mimosa pudica, «Schamhafte Sinnpflanze» genannt wird. Sie stammt ursprünglich aus den amerikanischen Tropen, stieß aber durch ihre unmittelbare, bei Pflanzen seltene Reaktion in Europa schnell auf großes Interesse. So haben sich mit ihr etwa der Brite Robert Hooke (1635–1703) beschäftigt, der erstmals eine Zelle unter dem Mikroskop betrachtete und beschrieb, oder auch der Vater der Zellbiologie, Henri Dutrochet (1776–1847). Kurz und gut: Eine Zeit lang war die Mimose ein echter Star.

      Auch Chevalier de Lamarck konnte sich ihrer Faszination nicht entziehen. Er führte zahllose Versuche durch, um ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen, und erforschte ihr Verhalten in, gelinde gesagt, ausgefallenen Situationen. Vor allem verwunderte ihn, dass die Pflanze irgendwann nicht mehr reagierte, wenn man sie wiederholt demselben Reiz aussetzte. Sie ignorierte ihn einfach. Lamarck vermutete ganz richtig, die Pflanze sei «müde». Wenn sich die Blättchen wiederholt schließen und öffnen, fehlt ihnen irgendwann einfach die Kraft. Anscheinend, so nahm er an, galt für die Mimose also Ähnliches wie für die Muskeln von Tieren, die auch nur so lange arbeiten können, wie die Energie reicht. Doch seltsamerweise stimmte das nicht in jedem Fall.

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      Die sogenannte Schamhafte Sinnpflanze, Mimosa pudica, die ursprünglich aus Lateinamerika und der Karibik stammt, ist heute in vielen Ländern des Tropengürtels verbreitet.

      So fiel Lamarck auf, dass manche Pflanzen die Blättchen nicht mehr schlossen, obwohl sie noch längst nicht erschöpft waren. Erstaunt fragte er sich nach dem Grund und stieß eines Tages auf einen originellen Versuch, der seine Frage zu beantworten schien. Für den Versuch hatte der Botaniker René Desfontaines (1750–1833) einen Studenten mit jeder Menge Mimosentöpfen auf eine Kutschfahrt durch Paris geschickt und ihm aufgetragen, die Pflanzen genauestens zu beobachten. Vor allem sei darauf zu achten, wann sich die Blättchen schließen. Wir kennen den Namen des Studenten nicht, aber er war von seinem Professor offenbar Seltsames gewöhnt und fragte nicht lange nach. Er verteilte die Mimosentöpfe auf den Sitzen und befahl dem Kutscher, in gleichmäßigem Trab und möglichst ohne anzuhalten die Sehenswürdigkeiten der Stadt abzuklappern.

      Der Student hatte wohl kaum Gelegenheit, die Spazierfahrt zu genießen, denn schon beim ersten Rütteln und Schütteln der Kutsche auf dem Pariser Kopfsteinpflaster schlossen sich die Blättchen, und er war vollauf damit beschäftigt, alle Beobachtungen


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