Pflanzenrevolution. Stefano Mancuso

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Pflanzenrevolution - Stefano Mancuso


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Wozu das denn?» Fassen wir noch mal zusammen: Pflanzen sind mehrzellige, eukaryotische Organismen, die Fotosynthese betreiben und, von wenigen Ausnahmen abgesehen, aus einem oberirdischen Teil und einem Wurzelapparat bestehen. Weil sie ortsgebunden sind und sich notgedrungen an die wechselhaften Umweltbedingungen vor Ort anpassen müssen, haben sie die Fähigkeit entwickelt, sich wachsend in eine geeignete Richtung zu bewegen, sind also außergewöhnlich flexibel.

      Bekanntlich fasst man die pflanzlichen Bewegungen unter dem Begriff Tropismus zusammen: Das deutliche Richtungswachstum der pflanzlichen Organe, insbesondere der Wurzeln, ist eine Reaktion auf Umweltreize wie Licht (Fototropismus), Schwerkraft (Gravitropismus), Berührung (Thigmotropismus), Feuchtigkeitsdifferenzen (Hydrotropismus), Sauerstoff (Aerotropismus) oder elektrische Felder (Elektrotropismus).

      Neben diesen allgemein bekannten Tropismen kennen wir dank der Forschung an meinem Institut seit Kurzem auch den Phonotropismus, das von einer Lautquelle gesteuerte Pflanzenwachstum. Die Pflanze kann mithilfe der verschiedenen Tropismen in einer feindlichen Umgebung überleben und mit ihren Wurzeln, die für Nahrung und Stabilität sorgen, den Boden besiedeln. Häufig übertrifft der Wurzelstock hinsichtlich Masse und Länge sogar die Baumkrone, und manchmal erreicht er geradezu unvorstellbare Ausmaße.

      Und um die Absorptionsfläche der Wurzeln noch erheblich zu erhöhen, bedient sich die Pflanze desselben Tricks wie Dido, die mythische Gründerin von Karthago. Wie die Sage zu berichten weiß, versprach der Numidierherrscher Iarbas der Königin nach ihrer Flucht aus Tyros so viel Land, wie sie mit einer Kuhhaut bedecken konnte. Offenbar wollte er sie hereinlegen. Doch Dido wusste sich zu helfen: Sie schnitt die Kuhhaut in sehr schmale Streifen, legte diese aneinander und steckte so den Hügel ab, auf dem dann Karthago entstehen sollte. Analog dazu kommt eine Weizenpflanze durch die Gesamtlänge ihrer Wurzelhaare auf ein Längenwachstum von über 20 Kilometer – obwohl sämtliche Wurzelhaare in ein einziges Würfelchen von 1,5 Zentimeter Kantenlänge passen würden.

      Doch die Wurzelspitzen besitzen noch eine andere grundlegende Eigenschaft: Sie können sich durch extrem festes Material bohren. Obwohl sie so zart und zerbrechlich wirken, entfalten sie außergewöhnliche Druckkräfte und bringen durch Zellteilung und Zellvergrößerung selbst hartes Gestein zum Bersten. Die Wurzel kann nämlich nur wachsen, wenn Poren oder Risse im Boden größer sind als die Wurzelspitze. Ihre Kraft verdankt die Wurzelspitze dem Wasser, das ihre Zellen von innen her anschwellen lässt: Weil durch das osmotische Potenzial der Wurzel eine Potenzialdifferenz entsteht, dringt Wasser in die Zellen ein. Die Zellen schwellen an, und die Zellmembran drückt gegen die feste Zellwand. Je nach Pflanzenart können dabei Druckkräfte von einem bis drei Megapascal entstehen. Und so können sich Wurzeln selbst durch hartes Material wie Asphalt, Beton oder sogar Granit bohren.

      Die Individualität der Pflanzen

      Es gibt noch eine weitere wenig bekannte Eigenschaft der Pflanzen, von der sich die Roboterentwicklung inspirieren lassen könnte: Pflanzen sind modular und repetitiv aufgebaut. So besteht ein Baum aus sich wiederholenden Modulen, aus denen sich erst seine Gesamtarchitektur und Physiologie ergeben. Das ist etwas völlig anderes als im Tierreich. Eigentlich kann man bei Pflanzen nämlich noch nicht einmal von Individuen sprechen. Das mag seltsam klingen, aber schauen wir einmal genauer hin. Den Begriff «Individuum» kann man mindestens auf zweierlei Weise definieren:

      Etymologisch:

      Ein Individuum ist eine biologische Einheit, die sich nicht weiter teilen lässt, ohne dass dadurch mindestens ein Teil stirbt.

      Genetisch:

      Ein Individuum ist eine biologische Einheit mit einem räumlich und zeitlich stabilen Genom. Räumlich, weil das Genom in allen Zellen identisch ist, und zeitlich, weil es über die gesamte Lebensdauer beständig bleibt.

      Wie sich schnell zeigt, treffen beide Definitionen auf die meisten Pflanzen eigentlich nicht zu. Betrachten wir zunächst die etymologische Definition: Wenn man eine Pflanze teilt, dann vermehrt sie sich. So schrieb schon der französische Naturwissenschaftler Jean-Henri Fabre (1823–1915): «Bei Tieren bedeutet Teilen in den meisten Fällen töten, bei den Pflanzen aber vermehren.» Das leuchtet nicht nur jedem Biologen sofort ein, sondern wohl auch jedem Hobbygärtner, denn die Vermehrung durch Stecklinge oder Pfropfung macht sich genau das zunutze.

      Aber auch die genetische Stabilität der zweiten Definition scheint für die Pflanzen kein Muss. Obwohl das Genom selbst bei den winzigsten Tieren in allen Zellen und lebenslang stabil bleibt, gilt das für die Pflanzen offenbar nicht. Wer sich schon einmal mit der Knospenmutation von Obstbäumen beschäftigt hat, weiß das. In der langen Geschichte des Obstanbaus wurden nämlich immer wieder «mutierte» Äste mit interessanten Früchten entdeckt. Das zeigt sich unter anderem an den Obstsorten, die daraus entstanden sind: So verdanken wir die Nektarinen wohl der Knospenmutation eines Pfirsichbaums und die Pinot-Grigio-Traube der Knospenmutation einer Pinot-Nero-Traube.

      Zudem zeugen die faszinierenden Schimären davon, dass ein und dieselbe Pflanze unterschiedliche Genome besitzen kann. Pflanzen, die durch Pfropfung entstehen, setzen sich – wie die Schimären der griechischen Mythologie – aus unterschiedlichen Teilen zusammen. Auch bei den zahlreichen «bizarren» Sorten, beispielsweise von Apfelsine oder Traube, wird diese pflanzliche Eigenheit augenfällig. Hier darf die berühmte Citrus x aurantium bizzarria nicht unerwähnt bleiben, eine äußerst seltene Zitruspflanze, deren Früchte unregelmäßig verteilte Merkmale von Bitterorange und Zitronatzitrone aufweisen. Sie wurde erstmals 1674 von Pietro Nati, dem damaligen Direktor des Botanischen Gartens von Pisa, beschrieben und war lange Zeit das Paradestück der Medici-Sammlungen. Aber dann galt sie als ausgestorben und wurde erst in den 1960er-Jahren «wiederentdeckt». Über solche Kuriositäten hinaus finden sich ähnliche genetische Abweichungen bei allen alten Bäumen.

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      Die berühmte Citrus x aurantium bizzarria gehört zu den zahlreichen Zitrusfrucht-Schimären. Heute kann man sie in der Villa Medici in Castello oder im Boboli-Garten in Florenz bewundern.

      Kurzum, eine Pflanze kann man eigentlich nicht als «Individuum» bezeichnen. Schon am Ende des 18. Jahrhunderts tauchte daher die Vorstellung auf, Pflanzen seien eher wie Kolonien, die aus identischen, sich wiederholenden Elementen bestehen. So schrieb Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832), der nicht nur ein großer Dichter, sondern auch ein genialer Botaniker war, im Jahr 1790: «Die Seitenzweige also welche aus den Knoten der Pflanzen entspringen, lassen sich als besondere Pflänzchen, welche eben so auf dem Mutterkörper stehen wie dieser an der Erde befestigt ist, betrachten.» Goethes Gedanke wurde dann 1800 von Erasmus Darwin (1731–1802), dem Großvater des berühmten englischen Naturwissenschaftlers Charles Darwin (1809 – 1882), aufgegriffen: «Die Knospe eines Baums ist eine eigene Pflanze; ein Baum ist darum eine Familie, die aus mehreren Pflanzen besteht.» Schließlich ergänzte sein Enkel Charles 1839: «So überraschend die Verbindung separater Individuen in einem gemeinsamen Strunk stets erscheint, zeigt doch jeder Baum das gleiche Faktum, denn Knospen müssen als individuelle Pflanzen betrachtet werden. (…) Wir können die Polypen bei einem Zoophyten oder die Knospen an einem Baum als Fälle betrachten, bei denen die Teilung des Individuums nicht vollständig durchgeführt worden ist.» Und der Botaniker Alexander Braun (1805–1877) schrieb 1855: «Schon das bloße Naturgefühl erweckt bei der Betrachtung des meist verzweigten Pflanzenstocks, namentlich eines Baums (…), die Ahnung, dass dies nicht ein Einzelwesen und Einzelleben sei, dem Individuum des Thiers oder des Menschen gleichzusetzen, sondern vielmehr eine Welt vereinter Individuen.»

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      Jeder Baum lässt sich als eine Kolonie sich wiederholender architektonischer Module beschreiben.

      Die Vorstellung von der «Pflanze als Kolonie» wird also schon seit Langem und von berühmter Seite unterstützt. Sie impliziert zudem, und das dürfte für die Roboterentwicklung von besonderem Interesse sein, eine längere Lebensdauer: Eine Kolonie lebt länger als ihre Teile. Ein Polyp lebt nur wenige Monate, aber die Koralle, die ihn


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